Vor der Wahl ist nach der Wahl

Erdoğan hat die Türkei fest im Griff. Sein Herausforderer in der Präsidentschaftswahl, Kemal Kılıçdaroğlu, hatte einen demokratischeren Kurs versprochen, doch der erhoffte Systemwechsel ist ausgeblieben. Die Reportage aus Ankara und Dyarbakır in den Tagen rund um die Stichwahl am 28. Mai. 
Von  Corinne Riedener
Sonntag, 28. Mai 2023: Andrang in den Wahllokalen des Stadtteils Sur in Dyarbakır. (Bilder: Luca Isepponi)

Es ist der Abend vor dem zweiten Präsidentschaftswahlgang. Wir sitzen mit Serhat Ceylan, Abbas Şahin und Pınar Sakık Tekin bei Schwarztee in ihrer Parteizentrale in Dyarbakır (kurdisch: Amed). Sie sind von der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) und der grünen Linkspartei Yesil Sol (YSP). Die Stimmung schwankt zwischen angespannt und abgeklärt. Niemand glaubt wirklich daran, dass Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu das Wunder im zweiten Wahlgang noch schafft und Erdoğan nach zwei Jahrzehnten ablöst. Was bleibt, ist die Hoffnung. Und natürlich der Kampfgeist. «Wir werden niemals aufgeben» – «Widerstand heisst Leben» – «Wir kämpfen weiter für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit für alle Völker in der Türkei»: Diese Parolen haben wir so oft und von so vielen gehört in den letzten Tagen.

Der erste Wahlgang am 14. Mai verlief einigermassen knapp: Oppositionsführer Kılıçdaroğlu von der kemalistisch-demokratischen CHP kam auf 44,9 Prozent, der amtierende Präsident auf 49,5 Prozent. So nahe an einem Regimewechsel war die Türkei unter Recep Tayyip Erdoğan noch nie. Zum ersten Mal bestand die reale Chance, den Autokraten demokratisch abzuwählen. Und das vor dem Hintergrund einer massiven Wirtschaftskrise – im Oktober 2022 betrug die Inflationsrate über 85 Prozent – und einem verheerenden Erdbeben, das im Februar den Süden des Landes zerstörte. Doch Erdoğan hat sich über die Jahre einen eingespielten Machtapparat geschaffen, insbesondere seit dem Wechsel zum Präsidialsystem 2017. Er reicht in alle Winkel des Staates und der Gesellschaft. Praktisch alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Bildung und Medien hat Erdoğan in seine Hand gebracht, die wichtigen Posten im Staatsapparat mit Vasallen besetzt.

Damoklesschwert Parteiverbot

Um weiter an der Macht zu bleiben, hat Erdoğan alle staatlichen und gesellschaftlichen Kräfte mobilisiert. Und er bedient sich dabei auch bewährter Mittel wie des Parteiverbots. Dass insbesondere prokurdische Parteien immer wieder verboten oder aufgelöst werden, ist nicht seine Erfindung. Seit 1993 wurde gegen sieben prokurdische linksgerichtete Parteien ein Verbotsverfahren wegen angeblicher Verstösse gegen die Verfassung eingeleitet. Die HDP ist Nummer acht. Gegen sie läuft seit 2021 ein Verbotsverfahren, das Urteil des türkischen Verfassungsgerichts steht noch aus.

Doğru adamla yola devam: Weiter mit dem richtigen Mann. Überall prangt Erdoğans Wahlslogan, hier auf einem Hochhaus in Ankara. Vorne wehen Flaggen der islamistischen Hüda Par. Die Partei, der viele konservative Kurd:innen angehören, war Teil von Erdoğans Wahlbündnis.

Um ein mögliches Verbot zu umgehen, hat sich die HDP vorsorglich unter den Schirm der grünen Linkspartei YSP begeben. Sie setzt sich besonders für Umweltthemen und Minderheiten ein. Vor den Parlamentswahlen am 14. Mai haben die HDP-Kandidat:innen zu den Listen der YSP gewechselt. Offiziell hat die HDP also nicht an den Parlamentswahlen teilgenommen. So hängen in ihrer Zentrale in Dyarbakır nebst den alten HDP-Plakaten überall auch solche mit dem YSP-Logo: ein als Baum abstrahierter Mensch mit ausgebreiteten Armen und einem Laubkranz. Auch über der breiten Strasse vor der Zentrale wehen dutzende dieser Flaggen.

Dyarbakır ist eine kurdische Hochburg. Hier kommt die HDP auf einen Stimmenanteil von 62 Prozent. Erdoğans Propaganda ist aber auch hier omnipräsent. Es fahren Busse mit Lautsprechern herum, die Wahlwerbung für den Präsidenten machen. Sie werden von gepanzerten Polizeifahrzeugen begleitet. «Fotografieren verboten!», das machen uns die Beamten auch ohne Englischkenntnisse rasch klar.

Das Re-Branding und die Neuaufstellung habe mehrere Millionen Dollar gekostet, erklären Ceylan und seine Parteikolleg:innen. «Eine der grössten Schwierigkeiten im Vorfeld der Parlamentswahlen war die Kommunikation mit unseren Wähler:innen: Sie kennen uns seit 2012 als HDP, jetzt mussten sie das Kreuz für unsere Abgeordneten bei YSP machen. Um dieses neue Bewusstsein zu etablieren, blieb uns nur wenig Zeit.» Viele Ressourcen seien in das Re-Branding geflossen statt in die Verbreitung der politischen Positionen, heisst es selbstkritisch, das habe sich schlecht auf den Wahlkampf ausgewirkt. Auch staatliche Gelder haben sie nicht erhalten, da diese nur Bisherigen zustehen. Am Ende ist die HDP-YSP auf 61 von 600 Sitzen im Parlament gekommen. «Es hätten 80 sein können, wären die Wahlen fair verlaufen.»

Aus Erdogans Wahl-Gefährten in Dyarbakır tönt laute Musik, begleitet werden sie von gepanzerten Polizeifahrzeugen.

Das drohende Parteiverbot sei nur einer der Gründe, warum «die Spiesse nicht gleich lang waren», betonen die Politiker:innen. Ein weiterer ist, dass immer wieder prokurdische Bürgermeister:innen und Abgeordnete verhaftet werden. Die Vorwürfe sind stets dieselben: «Zerstörung der Einheit des Staates und der Integrität des Landes», «Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation» oder «Propaganda für eine Terrororganisation». Hunderte Politiker:innen sind inhaftiert. Auch die ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sitzen seit November 2016 im Gefängnis. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bezeichnet ihre Verhaftung und die von weiteren 13 Abgeordneten als politisch motiviert und hat mehrmals ihre Freilassung angeordnet.

Kurdisch zu sein ist in der Türkei schon ein politischer Akt

Einer dieser Abgeordneten ist Idris Baluken. Der Mediziner mit zazaischen Wurzeln war zwischen 2013 und 2015 in der Delegation der Friedensverhandlungen zwischen dem türkischen Geheimdienst MIT und Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel İmralı und sass zwei Legislaturperioden im türkischen Parlament. Im November 2016 wurde der HDP-Mann im Zug einer grossen Verhaftungswelle ebenfalls inhaftiert. Ende April 2023 kam er – im Gegensatz zu Demirtaş, Yüksekdağ und vielen anderen – nach sechseinhalb Jahren frei, aus gesundheitlichen Gründen.

Wir besuchen ihn in seiner Wohnung etwas ausserhalb von Ankara, wo er mit seiner Frau Evrim und den beiden Söhnen lebt. Da begegnen wir einem fragilen Mann, aber auch einer nach wie vor aktivistischen Person, die scheinbar in sich ruht und druckreife Sätze von sich gibt. Wirklich frei ist er nicht, denn es besteht ein Ausreiseverbot und er darf selbst Ankara nicht ohne strengste Auflagen verlassen. «Das hier ist ein offenes Gefängnis», sagt der 46-Jährige mit Blick in seine Wohnung und schliesslich zu seiner Frau. Beide strahlen. Er meint den Satz sarkastisch, doch die Freude, nach sechseinhalb Jahren endlich wieder vereint zu sein, ist ihnen deutlich anzusehen.

Die Söhne waren fünf und zehn Jahre alt, als Baluken ins Gefängnis kam. Telefonate und Familienbesuche waren streng reglementiert, nur einmal pro Woche durften sie sich sehen – wenn überhaupt. Er sass in einem sogenannten Typ-F-Gefängnis, also im geschlossenen Hochsicherheitsstrafvollzug, wo jeder Winkel videoüberwacht und der Kontakt zu Mithäftlingen auf ein Minimum beschränkt ist. Vorbild für diese ab dem Jahr 2000 in der Türkei eröffneten Gefängnisse waren die US-amerikanischen Supermax-Anstalten für Schwerkriminelle.

Baluken sass mehrfach in Isolationshaft, zum Teil monatelang. Auf unsere Frage, ob es das alles wert war, sagt er: «Ich wusste immer, was mich als kurdischer Politiker erwartet – das wissen wir alle. Allein schon kurdisch zu sein, ist in der Türkei schon ein politischer Akt. Doch es geht nicht um uns als Personen, sondern um ein freies Leben für alle Kurd:innen und Minderheiten in der Türkei.» Der Glaube an diese Werte habe ihm all die Jahre Kraft gegeben. Und das Lesen und Schreiben. Drei Bücher hat er im Gefängnis geschrieben, das vierte erscheint demnächst. Zum Schluss gibt er uns eine Botschaft seiner Mitgefangenen mit auf den Weg – politische Gefangene wie er, die immer noch sitzen: «Im Leben gibt es keine Hoffnungslosigkeit, wenn wir die Schönheiten dieser Welt nicht vergessen.»

Klageflut gegen Menschenrechtler:innen und Anwält:innen

Laut Metin Bakkalcı von der türkischen Menschenrechtsstiftung TİHV ist die Zahl der Gefangenen in der Türkei von 55‘000 im Jahr 2005 auf heute über 356‘000 gestiegen. Eren Keskin bestätigt das. Auch sie war im Gefängnis, zum ersten Mal 1995, weil sie in einem Brief an das belgische Parlament das Wort «Kurdistan» benutzt hatte, damals noch ein Kapitalverbrechen. Die unbequeme Anwältin wird seit Jahrzehnten von der türkischen Justiz mit Anklagen geflutet. 2021 wurde sie zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt, weil sie aus Solidarität mit der prokurdischen Zeitung «Özgür Gündem» symbolisch die Chefredaktion übernommen hatte. Im Moment ist Keskin auf freiem Fuss, denn sie hat – wie schon so oft – Berufung eingelegt. Der Fall ist beim Obergericht, reisen darf auch sie nicht.

Die populäre Menschenrechtsanwältin empfängt uns im Zentralbüro des 1986 von ihr mitgegründeten Menschenrechtsvereins İnsan Hakları Derneği İHD in Ankara. Er hat 34 Zweigstellen in der Türkei und unter anderem auch in der Schweiz eine Vertretung. Derzeit laufen nebst dem Fall Keskin insgesamt 212 Klagen gegen etliche weitere IHD-Kader und Vorstandsmitglieder. Drei von ihnen, so auch der IHD-Generalsekretär von Dyarbakır, sind in die Schweiz geflüchtet und haben hier mittlerweile politisches Asyl erhalten.

In den türkischen Typ-F-Gefängnissen gebe es massive Menschenrechtsverletzungen, erklärt Keskin. Die Isolationshaft sei das grösste Problem. Es gebe kaum Gemeinschaftsbereiche und teilweise werde den Insass:innen monatelang der Kontakt zu ihren Familien und Anwält:innen verweigert. Das verursache bei vielen Gefangenen – den politischen wie den «regulären» – Depressionen und andere psychische Probleme, was immer wieder zu Suizidversuchen führe. Besonders für Frauen und Menschen aus der LGBTIQ-Community sei die Situation in den Gefängnissen verheerend, Missbrauch und sexuelle Übergriffe seien alltäglich. Auch die medizinische Versorgung sei ein grosses Problem. «Krankheiten werden teilweise absichtlich nicht behandelt.»

Das prominenteste Beispiel dieser auch international kritisierten Isolationshaft ist PKK-Gründer Abdullah Öcalan. Er sitzt seit 1999 im Gefängnis auf der Insel İmralı. Zum Zeitpunkt des zweiten Wahlgangs gibt es seit über zwei Jahren kein Lebenszeichen mehr von ihm. Seiner Familie und den Anwält:innen wird jeglicher Kontakt verwehrt. Bereits seit 2014 wird der Kontakt zu ihm stark eingeschränkt, seit dem 25. März 2021 herrscht nach einem kurzen Telefonat mit seinem Bruder nun totale Funkstille.

In Dyarbakır treffen wir Mazlum Dinç, seinen bevollmächtigten Anwalt. Er und sein Team haben unzählige Male Zugang zur Gefängnisinsel gefordert, doch die Behörden gewähren diesen weder ihm noch Öcalans Angehörigen. Auch Klagen vor dem türkischen Verfassungsgericht blieben erfolglos. «İmralı ist quasi ein rechtsfreier Raum», sagt Dinç. «Wir wissen nicht das Geringste über den Gesundheitszustand oder die Haftbedingungen von Öcalan und seinen drei Mitgefangenen. Das Verbot von Anwaltsbesuchen stellt eine massive Verletzung der Menschenrechte dar, es verstösst gegen die Anti-Folterkonvention und nicht zuletzt auch gegen die türkischen Gesetze.»

Der Rechtsanwalt kritisiert die zögerliche Haltung der internationalen Organisationen und insbesondere der EU gegenüber dem türkischen Staat. Letztere stelle ihre politischen und wirtschaftlichen Eigeninteressen über den Frieden und die Zukunft im mittleren Osten. Der Umgang mit Öcalan habe einen grossen Einfluss auf die Entwicklungen in Kurdistan, er spiele eine Schlüsselrolle für den Frieden in der Region. «Doch sobald es um ihn oder um die Kurd:innen geht, schweigt der Westen.»

Staatstreue Anwält:innen schwemmen das System

Dinç und die anderen Anwält:innen, die wir treffen, sind nicht nur damit beschäftigt, die unzähligen Politiker:innen, Aktivist:innen, Kultur- und Medienschaffenden aus den Gefängnissen zu holen. Sie müssen auch ständig ihre eigenen Berufskolleg:innen verteidigen. Immer wieder kommt es zu Verhaftungswellen, von denen auch sie selbst betroffen sind, besonders vor Wahlen und anderen politischen Ereignissen. Eine der grössten in diesem Jahr fand am 25. April statt. Über 400 Personen wurden festgenommen, darunter etliche Anwält:innen. Manche werden nach wenigen Tagen wieder freigelassen, andere sitzen laut Berichten von Menschenrechtsorganisationen zum Teil monate- oder sogar jahrelang ohne Prozess hinter Gittern. Offizielle Stellen bestreiten dies.

Als wir die prokurdische Anwaltskammer in Dyarbakır besuchen, laufen sieben Prozesse gegen ihre Mitglieder, vier sitzen in Haft. Immer wieder werden ohne Anlass Wohnungen und Büros durchsucht, werden willkürlich Prozessakten von Klient:innen beschlagnahmt. «Wenn du als Anwältin einen anderen Anwalt verteidigst, wirst du nicht als Anwältin behandelt, sondern als Angeklagte», hören wir immer wieder.

Am 28. November 2015 wurde Tahir Elçi, der damalige Präsident der Anwaltskammer von Dyarbakır, auf offener Strasse bei einer Pressekonferenz mutmasslich von einem Polizisten erschossen. Die genauen Umstände sind bis heute ungeklärt. Einen Monat zuvor war Elçi wegen angeblicher PKK-Propaganda vorübergehend festgenommen worden. Im Sitzungszimmer hängt ein übergrosses Bild von ihm. Auch der derzeitige Präsident der Anwaltskammer erhält Morddrohungen. Anfang Jahr wurden persönliche Daten und Fotos von seiner Frau und den Kindern in den Sozialen Medien verbreitet.

Die Repression gegen sie als Einzelpersonen ist nicht das einzige Problem, auch ihre Institutionen sind gefährdet. Der türkische Staat habe in den letzten Jahren eine regelrechte Ausbildungsoffensive vorangetrieben, erzählen die Anwält:innen in Dyarbakır. Allein in ihrer Stadt seien in den letzten fünf Jahren rund 1200 neue Anwält:innen hinzugekommen, der überwiegende Teil regierungstreu. Das Ziel sei, den Staat bzw. die Regierung zu verteidigen und die wichtigen Posten im Staatsapparat zu besetzen. Früher habe es in jeder Stadt nur eine Anwaltskammer gegeben, erklären sie. Jetzt werde ein Mehrkammersystem aufgebaut. Das bringe auch finanzielle Probleme mit sich, denn sie seien prozentual nach der Anzahl ihrer Fälle bezahlt. «Je mehr Fälle uns die Pro-AKP-Kanzleien wegschnappen, desto weniger verdienen wir.»

Der Kampf für Meinungs- und Pressefreiheit

Eines der wichtigsten Vehikel Erdoğans für die Verhaftungen – nebst dem Terrorismusgesetz, das immer strenger ausgelegt wird – ist der Artikel 299 des türkischen Strafgesetzbuchs über die Beleidigung des Präsidenten der Republik. Auf Präsidentenbeleidigung stehen, je nach Schwere, bis zu vier Jahre Gefängnis. Das gilt auch für Kinder, in der Türkei ist man ab 13 strafmündig. 2022 wurden laut einer Statistik des türkischen Justizministeriums über 1000 Minderjährige wegen Verstosses gegen Artikel 299 verklagt, insgesamt standen 16’753 Menschen wegen angeblicher Präsidentenbeleidigung vor Gericht. Die EU und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sehen in diesem Artikel eine Gefährdung der Meinungsfreiheit und fordern seit langem seine Streichung.

Kameramast in Dyarbakır: Die Überwachung im städtischen Raum ist allgegenwärtig, insbesondere an Strassenkreuzungen, in Parks, vor Schulen, Verwaltungsgebäuden und anderen öffentlichen Einrichtungen.

Ein weiteres und relativ neues Vehikel ist das sogenannte Desinformationsgesetz. Es wurde erst im Oktober 2022 eingeführt und ahndet die «Verbreitung falscher oder irreführender Nachrichten» mit bis zu drei Jahren Gefängnis. Dieses Gesetz richtet sich vor allem gegen die freie Presse, aber auch gegen Äusserungen in den Sozialen Medien und anderen Onlinenetzwerken. Faktisch kann der Staat so jede Person kriminalisieren, die unliebsame Informationen verbreitet. Selbst mit einem Retweet kann man sich strafbar machen.

Die Situation der Medien in der Türkei ist ohnehin schon prekär: 90 Prozent werden von der Regierung kontrolliert bzw. sind in Besitz von regierungsnahen Unternehmen und Personen. Die staatsnahe Agentur Anadolu gibt den Ton an. Auf dem englischsprachigen Propagandasender TRT bekam Herausforderer Kılıçdaroğlu vor dem ersten Wahlgang gerade einmal 20 Minuten Sendezeit; Erdoğan ganze 48 Stunden. Man versucht alles, um die Berichterstattung zu eigenen Gunsten zu manipulieren, auch mit Fake News. Die ohnehin schon gespaltene türkische Gesellschaft wird dadurch noch weiter polarisiert. In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen steht die Türkei auf Platz 165 von 180.

«Ach was, natürlich haben wir Pressefreiheit!», winken Cuma Daş und Gülşen Koçuk vom Journalistenverein Dicle Firat DFG ironisch ab. «Einfach nur, solange wir nicht über Dinge berichten, die dem Regime zu kritisch sind, zum Beispiel die grassierende Polizeigewalt oder der staatliche Umgang mit dem Erdbeben im Februar.» Laut ihren Angaben sitzen rund 70 Berufskolleg:innen in Haft wegen unliebsamer Berichterstattung, viele sind im Exil. Auch die beiden DFG-Co-Präsident:innen warten derzeit auf einen Prozess. Erdoğan behauptet, in seinem Land seien keine Journalist:innen inhaftiert – «weil wir für ihn keine Journalisten, sondern Terroristen sind», so die Erklärung.

Die Berichterstattung über die Wahlen gestaltet sich schwierig. Viele Portale und Sender haben gar nicht die Ressourcen, um beispielsweise einen Livestream zu errichten, also berichten sie nur punktuell, fangen O-Töne ein und versuchen, Unregelmässigkeiten oder Komplikationen, wo immer es geht, zu thematisieren. Wenn denn die Infrastruktur vorhanden ist. Die Webseiten kritischer Medien werden nämlich ständig gesperrt, vor allem jetzt vor diesem politischen Grossereignis. Teilweise passiere das bis zu zehn Mal pro Monat, erklären Daş und Koçuk. Auch viele Twitter- und Instagram-Profile werden geblockt.

Fragen der Finanzierung oder der Digitalisierung, mit denen wir uns in der Schweiz herumschlagen, sind für sie zweitrangig. «Wir machen unseren Job trotzdem, auch ohne Geld», sagen sie. Und der Nachwuchs geht ihnen erstaunlicherweise nicht aus. Obwohl auch die jungen Journalist:innen sehr genau wissen, was auf sie zukommt, gehen sie nicht zu einem staatstreuen Medienhaus: Repression, Anklagen und im ärgsten Fall Gefängnis. «Davon lassen sich die Jungen nicht abhalten», sagt Cuma Daş nicht ohne Stolz. «Sie wissen, wie elementar die Pressefreiheit für ein Land ist. Geht ein Journalist ins Gefängnis, wachsen zwei neue nach.»

Gefängnis- und Disziplinarstrafen an den Universitäten

Den Job machen: Das wollen auch Nuray Türkmen und Erdoğan Boz. Doch sie haben seit Jahren Berufsverbot. Wir treffen die beiden Sozialwissenschaftler:innen einige Tage vor dem zweiten Wahlgang in Ankara. Sie sind Teil der Initiative Academists for Peace und haben Anfang 2016 mit über 1100 weiteren Akademiker:innen aus 90 Universitäten eine Petition unterzeichnet, die vom türkischen Staat eine friedliche Lösung für den Südosten des Landes verlangte. Die türkische Militäroffensive damals gegen die PKK hatte bereits hunderte Todesopfer gefordert, in mehreren kurdischen Städten herrschten harte Ausgangssperren, ganze Stadtteile wurden mit schwerer Waffengewalt verwüstet und wiederholt gab es Berichte von Menschenrechtsverletzungen.

Das war im Januar. Im März erhob der türkische Staat Anklage gegen die Akademiker:innen wegen angeblicher Terrorpropaganda und Beleidigung der Türkei. Rund 30 wurden festgenommen, insgesamt wurden Strafverfahren gegen mehr als 400 Unterzeichnende eingeleitet, auch gegen Türkmen und Boz. Ausserdem kam es zu Disziplinarstrafen: Dutzende wurden entlassen, freigestellt, suspendiert oder zur vorzeitigen Pension gezwungen. Laut den Academists for Peace wurden rund 400 Unterzeichnende per Dekret oder Entlassung ihres Dienstes enthoben. Der internationale Aufschrei war gross, hat aber kaum etwas bewirkt.

Unabhängig seien Fakultäten und Forschung in der Türkei schon lange nicht mehr, sagen die Sozialwissenschaftler:innen. Alle wichtigen Posten seien von staatsnahen Personen besetzt, teilweise vom Präsidenten persönlich eingesetzt. Dass sie damals die Petition mitunterzeichnet haben, sei für sie nicht per se ein politischer Akt gewesen, «sondern eine Selbstverständlichkeit» angesichts der Situation in der Südosttürkei. «Heute ist es schon ein politischer Akt, wenn man als Wissenschaftler in der Türkei bleibt statt auszuwandern», sagen sie. «Dieser Vorfall hat viele politisiert.»

«Unsere akademischen Karrieren sind verloren», sagt Türkmen. An die Universität zurückkehren kann sie aufgrund des Berufsverbots nicht. Auch in der Privatwirtschaft können nur die wenigsten Fuss fassen, denn Erdoğans Arm reicht weit in die Gesellschaft. Der soziale Druck sei hoch, erklärt sie, unter anderem gebe es Namenslisten. Wer dort drauf stehe, habe kaum eine Chance auf eine Anstellung, «denn die Unternehmen wollen nicht mit diesen Namen in Verbindung gebracht werden, aus Angst davor, selber dort zu landen». Viele befreundete Akademiker:innen seien mittlerweile in handwerklichen Berufen tätig. Sie und ihr Kollege Boz arbeiten an einem kleinen Forschungsprojekt der EU zu Genderthemen. Temporär. In einigen Wochen ist es beendet; wie es danach für sie weitergeht, ist ungewiss.

Die zwiespältige Person Kılıçdaroğlu

Berufs- und Parteiverbote, weder Meinungs- noch Pressefreiheit und Gefängnis für Oppositionelle: Erdoğans Maschinerie ist gut geölt, die ideologische Hegemonie wird über alles gestülpt. Diese Übermacht zeigt sich auch auf den Strassen: Überall hängen meterhohe Konterfeis an den Hauswänden, entweder von Erdoğan oder von Staatsgründer Atatürk, vor allem auch in den Schulen, dazu überall Kameras.

Herausforderer Kılıçdaroğlu von der CHP verspricht einen demokratischeren Kurs, aber ob sein System wirklich besser wäre? Viele, mit denen wir sprechen, bezweifeln das. Nicht zuletzt, weil Kılıçdaroğlu kurz vor dem zweiten Wahlgang sein ohnehin schon breites Oppositionsbündnis um eine Partei erweitert hat: die ultra-nationalistische Zafer-Partei. Deren Chef Ümit Özdağ gilt als kurd:innenfeindlich und als Hardliner in Migrationsfragen. Der Preis für seine Unterstützung ist Kılıçdaroğlus Zusage, die kurdischen Bürgermeister:innen im Südosten der Türkei weiterhin durch staatlich ernannte Verwalter zu ersetzen, wie es auch unter Erdoğan der Fall ist.

Kılıçdaroğlus Handshake mit Özdağ wenige Tage vor dem zweiten Wahlgang ist ein Schlag ins Gesicht für alle linken und prokurdischen Parteien in seinem Bündnis. Ganz überraschend kam er aber nicht, denn Kılıçdaroğlu hatte seinen Wahlkampf schon in den Wochen davor ganz auf den Populismus ausgerichtet und mit der Abschiebung aller syrischen Geflüchteten innerhalb eines Jahres geworben, um noch mehr konservative Stimmen zu holen. Laut offiziellen Angaben leben knapp vier Millionen Geflüchtete im Land, er sprach von zehn Millionen.

Am Abend vor dem zweiten Wahlgang essen wir mit Berfin und Velat im neuen Teil Dyarbakırs. Die beiden sind knapp 30, unterrichten Englisch an der Oberstufe und haben uns einige Tage als Übersetzer:innen begleitet. Auch sie sind von Kılıçdaroğlu enttäuscht, hoffen aber trotzdem, dass er gewinnt. Doch selbst wenn, bräuchte es Jahrzehnte, um das politische und gesellschaftliche System in der Türkei umzubauen, sagen auch sie.

Wir diskutieren lange. Über die ambivalente Rolle der EU und der Schweiz, die beflissen wegschauen, wenn sie Erdoğans Hilfe in Sachen Migration brauchen, um die Festung zu schützen. Über die türkisch-muslimische Allianz, die das Land seit der Gründung fest im Griff hat. Über Velats Vater, der als Beamter jahrelang nicht mehr arbeiten durfte, weil er an einer prokurdischen Demo teilgenommen hatte. Und auch über die Situation der jungen Leute in der Türkei. «Viele sehen hier keine Perspektive mehr», sagen Velat und Berfin. «Wenn Erdoğan gewinnt, werden Unmengen das Land verlassen.» Für sie sei Auswandern aber kein Thema – «noch nicht». Sie wollen ihre Familien nicht allein lassen. Ein Visum für Europa hat das Paar trotzdem beantragt. Sie wollen in den Sommerfreien durch Frankreich reisen und ein Musikfestival besuchen. Ob Europa sie reinlässt, wissen sie Anfang Juli.

Gewusel in den Wahllokalen

Velat sehen wir am nächsten Morgen wieder. Er sitzt in seinem Schulzimmer, wo er als Wahlhelfer die Stimmzettel kontrolliert. «Bis jetzt keine Unregelmässigkeiten», gibt er zu Protokoll. Insgesamt besuchen wir fast ein Dutzend Wahllokale in Schulen der Innenstadt von Dyarbakır. Überall herrscht reges Treiben, die Stühle und Bänke wurden an den Rand geschoben, im hinteren Teil der Schulzimmer stehen je zwei Wahlkabinen, vorne sitzen die Wahlhelfer:innen aus allen Parteien und sammeln die Zettel ein, an der Tür hängen die Listen der registrierten Wähler:innen. Diese «diskursive Herstellung von Demokratie», wie es eine OSZE-Wahlbeobachterin genannt hat, die wir einige Tage zuvor getroffen haben, scheint einwandfrei zu funktionieren.

Stichwahl im Schulzimmer: Das Kreuz wird hinten in den Kabinen gemacht, vorne sitzen die Wahlhelfer:innen und nehmen die Zettel in Empfang. Tags darauf wird hier wieder unterrichtet.

Frei dürfen wir uns nicht bewegen, nur schon wegen der Kamera und dem Notizblock. Wir sind Teil des HDP-YSP-Wahlbeobachtungstrosses und mit dem frisch gewählten Abgeordneten Mehmet Kamaç unterwegs, immer dicht hinter ihm, damit uns die Polizei, die alle Eingänge bewacht, nicht ständig rauszieht. Er geht an diesem Tag wie auch die Abgeordneten der anderen Parteien von Schule zu Schule, bedankt sich bei den Wahlhelfer:innen, fragt nach Unregelmässigkeiten und wünscht ihnen und den Wähler:innen eine erfolgreiche Wahl. Wo wir hinkommen, scharen sich die Menschen um «ihren» Abgeordneten und wünschen ihm viel Erfolg.

Unregelmässigkeiten hat natürlich niemand gemeldet. Offiziell gibt es keine, darf es keine geben, auch wenn uns die Menschen in den vergangenen Tagen anderes berichtet haben. Sie erzählten unter anderem von En-Bloc-Wahlen im ersten Wahlgang und von «toten Stimmen». Damit sind die Erdbebenopfer im Süden des Landes gemeint. Laut offiziellen Angaben waren es 55’000, inoffiziell ist die Rede von weit über 200‘000 Todesopfern. Mehrere zehntausend von ihnen sollen dennoch gewählt haben – natürlich Erdoğan. Das macht bei 64 Millionen Stimmberechtigten vielleicht keinen grossen Unterschied, aber es zeigt ein System.

Der zweite Wahlsonntag verläuft grösstenteils ruhig. Die Beteiligung ist niedrig. Schnell ist klar, dass der amtierende Präsident die Stichwahl gewonnen hat. Die Enttäuschung ist dem Abgeordneten und seiner Entourage kaum anzumerken. Geschäftig gehen sie auch den Rest des Nachmittags weiter von Schule zu Schule, von Wahllokal zu Wahllokal, schütteln Hände, geben Interviews. In diesen geben sie sich betont gemässigt, loben die demokratische Teilnahme und den Einsatz der Wahlhelfer:innen. Sie müssen sich zurückhalten, denn bis 17 Uhr ist jegliche Wahlpropaganda verboten.

Als die Urnen geschlossen sind, tönt es jedoch anders: «Erdoğan hat gewonnen, die Türkei hat verloren», hören und lesen wir. Und im gleichen Atemzug immer wieder die bekannten Durchhalteparolen: «Wir werden niemals aufgeben» – «Widerstand heisst Leben» – «Unser Kampf für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit für alle Völker in der Türkei wird weitergehen».

 

Diese Reportage entstand im Rahmen einer Delegationsreise in die Städte Ankara und Diyarbakır vom 24. bis 28. Mai 2023 und wurde vom Saiten-Recherchefonds mitfinanziert. Daran teilgenommen haben unter anderem Nationalrätin Franziska Ryser aus St. Gallen, die Anwält:innen Pınar Resitoglu aus Luzern und Florian Wick aus Zürich sowie zwei Aktivist:innen der Solidaritätsgruppe Syrien/Kurdistan in St. Gallen, welche die Reise mitorganisiert hat. Die Gruppe hat sich mit verschiedenen Politiker:innen, Anwält:innen, Journalist:innen und NGOs getroffen, ausserdem war sie Teil einer Wahlbeobachtungsdelegation in Diyarbakır am 28. Mai.

Dieser Beitrag erschien im Sommerheft von Saiten.