Von realen und digitalen Nashörnern

Das Nashorn fasziniert die  Ostschweiz: hier in der Abbildung des «St.Galler Tagblatt» in der Ausgabe vom 23. Mai 1848. (Bild: pd)

Das Nashorn verkehrt schon seit über 200 Jahren in der Ostschweiz. Von seiner Faszination hat es nichts verloren.

Im Trai­ler von Gla­dia­tor 2 ge­hört es zu den High­lights: Ein Nas­horn im Ko­los­se­um, ge­rit­ten von ei­nem Gla­dia­tor, der auf ihm steht. Ge­mein­sam ma­chen sie Jagd auf Gla­dia­to­ren, die als Fuss­kämp­fer in die Are­na ge­stellt sind. Die kur­zen Film­split­ter ma­chen Lust auf mehr, auch wenn man ahnt oder so­gar weiss: Die­ses Nas­horn ist ein di­gi­ta­les We­sen, kein Tier aus Fleisch und Blut. Schaut man sich die Sze­ne dann im Ki­no an, in vol­ler Län­ge, fes­selt sie durch­aus. Wie­der da­heim, am PC, kann man sich das Gan­ze er­neut an­schau­en – die Sze­ne ist be­reits auf You­Tube.

Ei­ne furcht­sa­me Ur­ge­walt

Jetzt wirds auf an­de­re Wei­se fes­selnd. Bei je­dem er­neu­ten Schau­en ent­deckt man fil­mi­sche Näh­te und Lö­cher: Da wird vie­les erst mit dem Schnitt ein Gan­zes, die Be­we­gun­gen des Nas­horns sind li­mi­tiert und bil­den mit de­nen der Schau­spie­ler nicht im­mer ei­ne Ein­heit. Und selbst als zoo­lo­gi­scher Laie fragt man sich: Ist die­ses Nas­horn nicht nä­her bei den di­gi­tal ge­schaf­fe­nen Fan­ta­sy-Reit­tie­ren der Herr-der-Rin­ge-Fil­me als beim rea­len Nas­horn? Und lies­se es sich über­haupt zu ei­ner sol­chen Kampf­ma­schi­ne dres­sie­ren, die mit ih­rem Horn Gla­dia­to­ren auf­spiesst und durch die Luft schleu­dert?

Aus der rö­mi­schen An­ti­ke ist kein ein­zi­ges Bei­spiel für ein sol­ches Kampf­nas­horn be­kannt, und im In­ter­net schüt­teln Zoo­log:in­nen nur den Kopf. Hen­ning Wies­ner, Zoo­di­rek­tor und Tier­arzt bei Mün­chen, ist so­gar mit ei­ner Nas­horn­da­me vor­sich­tig, die er sel­ber mit der Fla­sche auf­ge­zo­gen hat. Er rei­tet nur in ih­rem Ge­he­ge auf ihr. Nas­hör­ner sind furcht­sa­me Tie­re, die leicht er­schre­cken, sagt er. Die Ur­sa­che kann ei­ne Ba­ga­tel­le sein, und schon geht das Tier durch, ei­ne Ur­ge­walt, 1 bis 2,5 Ton­nen schwer.

Beim noch­ma­li­gen An­schau­en der Nas­horn-Se­quenz von Gla­dia­tor 2 mel­det sich aber auch ei­ne dra­ma­tur­gi­sche Fra­ge: Als Nas­horn und Rei­ter auf ihn zu­ra­sen, wirft der Held Are­na-Sand in die Luft. Die An­grei­fer ver­lie­ren die Ori­en­tie­rung, das Nas­horn knallt in die Mau­er, sein Rei­ter fällt in den Sand. Wür­de das nicht je­der cle­ve­re Gla­dia­tor so ma­chen? Wür­de es sich da­mit über­haupt noch loh­nen, das Tier auf­tre­ten zu las­sen?

Nas­hör­ner auf dem Jahr­markt

Un­ter­hal­tung bie­ten Nas­hör­ner in der Ost­schweiz aber schon lan­ge vor die­ser Hol­ly­wood-Pro­duk­ti­on. Sie ge­hör­ten zu den exo­ti­schen Tie­ren, die von durch­rei­sen­den Schau­stel­lern ge­gen Geld ge­zeigt wur­den. Der frü­hes­te be­kann­te Be­leg für St.Gal­len stammt von 1815 – ein Ein­zel­tier. Das nächs­te Nas­horn gas­tier­te 1821 und ge­hör­te be­reits zu ei­ner Wan­der­me­na­ge­rie, ei­nem mo­bi­len Klein­zoo, der auch Dres­sur­num­mern zeig­te. Eben­falls zu be­sich­ti­gen wa­ren dort Af­fen und Pa­pa­gei­en, ein Eis­bär, ein Pe­li­kan und ein Gold­fa­san. Ein wei­te­res Nas­horn konn­te man in St.Gal­len z.B. 1848 be­stau­nen, 1868 und 1879.

Auf­merk­sam stu­diert wur­den die­se Tie­re je­weils von Pe­ter Scheit­lin (1779–1848), Theo­lo­ge, Leh­rer und Ge­lehr­ter mit ei­nem be­son­de­ren In­ter­es­se für Tie­re. Zum Nas­horn von 1821 schreibt er et­wa: «Auch wird schwer­lich ein Psy­cho­lo­ge mit Si­cher­heit die See­len­fä­hig­keit des Tie­res ent­rät­seln, denn je län­ger man es be­ob­ach­tet, um des­to un­ge­wis­ser wird man, ob man es für ge­scheit oder dumm, für bös­ar­tig oder gut­mü­tig hal­ten soll. Ver­län­gert es sei­ne Ober­lip­pe in Form ei­nes zu­ge­spitz­ten Zap­fens, so sieht es ge­scheit, aber mut­wil­lig aus; ist sein Maul in ganz ru­hi­gem Zu­stan­de, so sieht es ein we­nig dumm und gut­mü­tig, öff­net es das Maul, so sieht es düm­mer als dumm aus. Das Au­ge hat we­nig Le­ben und hilft nicht zur Ent­rät­se­lung.»

Be­dau­er­lich fin­det er das zoo­lo­gi­sche Ni­veau in den Er­läu­te­run­gen, die man dem St.Gal­ler Pu­bli­kum bie­tet: «Scha­de, dass die Vor­zei­ger so we­nig von dem Wun­der­tier zu er­zäh­len wis­sen, und mit­un­ter so­gar mär­chen­haf­te Sa­gen, z.B. von na­tür­li­cher Feind­schaft des­sel­ben ge­gen den Ele­fan­ten auf­ti­schen.»

Nas­horn-Jagd und Wa­gen­ren­nen

Dass Nas­hör­ner auch zur le­bens­ge­fähr­li­chen Be­dro­hung wer­den kön­nen, er­leb­te Al­fred Kai­ser (1862–1930), ein sei­ner­zeit be­kann­ter For­schungs­rei­sen­der aus Ar­bon. Auf ei­ner Ost­afri­ka-Ex­pe­di­ti­on wur­de er in den 1890er-Jah­ren von ei­nem wü­ten­den Nas­horn an­ge­grif­fen. Es ver­letz­te ihn an der Brust und am rech­ten Ober­schen­kel. Zwei­mal muss­te Kai­ser auf ei­nen Baum flie­hen, bis schliess­lich Hil­fe aus dem Ex­pe­di­ti­ons­team kam. Spä­ter wird er in ei­nem Vor­trag über «Afri­ka­ni­sches Jagd­wild» er­zäh­len: «Es war dies nicht das ein­zi­ge Mal, dass ich von ei­nem Nas­horn an­ge­grif­fen wur­de, im Ge­gen­teil, ich ha­be vier sol­cher Fäl­le er­lebt, konn­te mich je­doch bei den üb­ri­gen im­mer noch recht­zei­tig auf Bäu­me ret­ten.»

Ei­nen leb­haf­ten Ein­druck von der Ge­fähr­lich­keit die­ser Tie­re ver­mit­telt ein Hol­ly­wood-Klas­si­ker von 1962, der Tier­fän­ger­film Ha­t­a­ri von Ho­ward Hawks. Ein span­nen­der und in­ter­es­san­ter, aber auch wun­der­bar hei­te­rer, re­lax­ter Film. Zum Auf­takt wird man Zeu­ge der Jagd auf ein Nas­horn – das Al­ler­meis­te re­al ge­filmt, mit den ech­ten Schau­spie­lern. Wenn das wü­ten­de Nas­horn sein Horn in die Sei­te des Tier­fän­ger-Jeeps don­nert, zuckt man zu­sam­men. Spä­ter wird ei­ner der Tier­fän­ger von die­sem Nas­horn schwer ver­letzt – in der Film­hand­lung, nicht beim Dreh – und muss ins Spi­tal ge­bracht wer­den. Wer sich das ger­ne ein­mal an­schau­en möch­te: Auch die­ses Sze­nen gibts auf You­tube.

Das­sel­be gilt für ei­ne der be­rühm­tes­ten Ac­tions-Se­quen­zen mit rea­len Tie­ren über­haupt: das Wa­gen­ren­nen der Ben-Hur-Ver­fil­mung von 1959. Sie ist noch heu­te atem­be­rau­bend, hat ei­ne Kraft und ei­nen Zau­ber, die fas­zi­nie­ren, Freu­de ma­chen. Man spürt: Das ist al­les re­al, da wur­de trai­niert und ge­probt, ge­tüf­telt und ge­baut. Das ist ei­ne Welt, in der die Schwer­kraft gilt. Die al­ler­neu­es­te Ver­fil­mung von Ben Hur (2016) peppt das Wa­gen­ren­nen mit al­ler­lei di­gi­ta­len Ef­fek­ten auf. Man kann das fas­zi­nie­rend und mit­reis­send fin­den, aber auch ste­ril, kon­fus und un­wirk­lich. Wens in­ter­es­siert: Auch die­ses Wa­gen­ren­nen gibts auf You­Tube zu be­stau­nen.

Doch noch ein­mal zu­rück zu Ha­t­a­ri. Der Film­klas­si­ker hat ei­nen Ost­schwei­zer Be­zug, der ver­blüfft: Bei der Pla­nung kon­tak­tier­ten die Pro­du­zen­ten den Thur­gau­er Au­gust Künz­ler (1901–1983), der da­mals in Tan­sa­nia leb­te und ein in­ter­na­tio­nal be­kann­ter Gros­s­tier­fän­ger war. Sie woll­ten ihn als Be­ra­ter en­ga­gie­ren und Tei­le des Films auf sei­ner Farm dre­hen. Der bo­den­stän­di­ge, hemds­är­me­li­ge Künz­ler lehn­te ab: Was soll­te er mit Hol­ly­wood? Scha­de.