, 23. Juni 2023
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Von Ratten und Superreichen

In New York City begegnet Jessica Jurassica Wildtieren, Popstars und den ganz grossen Fragen des 21. Jahrhunderts: Was ist aus Stuart Little geworden? Ist Rihanna bei «Eat the Rich» mitgemeint? Und wie viele Starbucks-Cappuccinos braucht es, bis die Dissonanz zwischen popkultureller Fiktion und erlebter Realität überwunden ist? Ihre Flaschenpost aus dem Juniheft.

«Manchmal muss man dieses Land trotz allem einfach lieben…» (Bild: jJssica Jurassica)

Auf Governors Island schaue ich einer Entenfamilie zu, wie sie in einer Reihe an mir vorbei watschelt. Im Hintergrund der Hudson River, die Skyline und ein wildes Wolkenmeer, durch das Helikopter surren wie Mücken. Ich spaziere den Enten hinterher über die ausgestorbene Insel und strecke der Freiheitsstatue den Mittelfinger entgegen. Remember als M.I.A. während der Superbowl-Halbzeitshow 2012 der Kamera den Mittelfinger zeigte, worauf sie quasi aus dem Land gejagt wurde und zurück nach England zog?

Dieses Jahr war die Halbzeitshow fast so spektakulär. Rihanna in Rot und ziemlich schwanger auf schwebenden Plattformen. Ich schaue die Liveübertragung in einer Bar in Brooklyn. Bis zur Halbzeit vergehen mindestens zwei Stunden, ich bin in der Zwischenzeit zwischen die Fronten eines Chili-Contests geraten, habe fünf verschiedene Chili con Carnes probiert und bewertet und kenne ausserdem dank der tausend Werbeblöcke gefühlt alle existierenden US-amerikanischen Produkte.

Zwei Monate nach dem Superbowl spaziere ich durch The Ramble, den Wald, der in der Mitte des Central Parks liegt. Ich mag diesen Ort, hier gibt es Ecken, in die sich kaum Tourist:innen verirren, dafür unzählige Eichhörnchen, Waschbären, eine absurde Vielfalt an Vögeln und deswegen eine ebenso grosse Auswahl an Birdwatchers. The Ramble war unter anderem Schauplatz des vielbeachteten «Central Park Birdwatching Incident»: Eine weisse Hundehalterin rief aus offensichtlich rassistischen Motiven die Polizei, nachdem ein afroamerikanischer Birdwatcher darauf hingewiesen hatte, dass zum Schutz der Wildtiere für Hunde Leinenpflicht gelte.

Solche US-amerikanischen Storys dringen zwar immer wieder zu uns in die Schweiz, aber irgendwie merkt man erst, wenn man da ist, wie real diese Geschichten tatsächlich sind. Ein Effekt, der vielleicht dadurch zu erklären ist, dass US-amerikanische Filme, Serien und andere popkulturelle Produkte so dominant sind in unserem Unterhaltungskonsum, dass sich ein real existierender Ort zu einer Art Fiktion verzerrt. Für New York scheint das in besonderem Masse der Fall zu sein. Ich weiss nicht, ob es einen Ort auf der Welt gibt, von dem es mehr Bilder und Geschichten gibt als von dieser Stadt. Das ist vielleicht auch das Irrste daran, hierher zu kommen. Da wird die Fiktion plötzlich Realität und natürlich passen die Bilder nur so halb aufeinander, und so wandert man tage- oder wochenlang durch die Strassen, bis sich die Dissonanz zwischen Vorstellung und Realität einigermassen eingependelt hat. Zumindest ging es mir so.

Nach zwei oder drei Monaten hat sich diese Dissonanz einigermassen gelegt und ich nehme langsam die für New York typische Gleichgültigkeit an. Die hat mir sowieso von Anfang an ganz gut gepasst. Endlich mal nicht ständig unter Beobachtung stehen, nicht von Blicken und Urteilen herausgehoben werden, sobald man minimal abweicht. Einfach mal untertauchen. Meistens funktioniert das für mich ganz gut. Ausser in Bensonhurst, der alles andere als hippen Ecke Brooklyns, in der ich wohne, irgendwo zwischen jüdisch-orthodoxen, asiatischen, lateinamerikanischen und slawischen Communitys.

Jessica Jurassica, 1993, ist Literatin, Musikerin und Künstlerin. Sie ist in der Ostschweiz aufgewachsen und lebt heute in Bern. Im März 2021 erschien, nach der erotischen Fan-Fiction Die verbotenste Frucht im Bundeshaus, ihr erstes Buch Das Ideal des Kaputten bei Lectorbooks. Zurzeit ist sie in einem fünfmonatigen Residency-Stipendium in New York und arbeitet an neuen Texten.

Als ich zum ersten Mal im einzigen Hipster-Coffeeshop der Gegend bin, fragt die Barista direkt: «Are you new here?» Das nächste Mal stellt sie mich ihrem Mann vor und sagt zu ihm: «That’s the swedish girl I told you about!» Das übernächste Mal bieten sie mir einen Job an. Mich beschleicht langsam Unbehagen. Bin ich das Gesicht der Gentrifikation? Ich ignoriere diese Frage, die mir in der zarten weissen Autorinnen-Schläfe pocht, und gehe von nun an einfach zu Starbucks einen Block weiter, wo ich lustige Namen erfinde, die sie mir dann auf den Cappuccinobecher schreiben. Bei Starbucks ist man wenigstens noch anonym, bei Starbucks sind alle gleich. Niemand kann es sich leisten und doch leisten es sich alle. God Bless the United Fucking States of America!

Eines Tages, nach einem ausgedehnten Spaziergang in The Ramble, verlasse ich den Central Park über die 77th Street an der Upper Eastside, wo ich auf eine aufgeregte Menschenmenge, viele schwarz gekleidete Securitys und Autos mit dunkel getönten Scheiben treffe. Ich habe keine Ahnung, was da los ist, und nachdem ich zwei Minuten erfolglos versuche, irgendetwas zu erkennen, gehe ich weiter. Später erfahre ich, dass Met Gala war und ich vor dem Carlyle Hotel gestanden bin, wo sich die meisten der eingeladenen Stars zurecht machten und von wo aus sie in ihren völlig übertriebenen Kostümen loszogen.

Vielleicht fuhr die inzwischen hochschwangere Rihanna mit ihrem neunkarätigen Zehenring an mir vorbei. Aber ich bin schon zu oft durch die Upper Eastside gestreunt, als dass mich das noch beeindrucken würde. Vielmehr bin ich langsam etwas genervt, von glänzenden Autos und von Portier-bewachten Eingängen, von reinrassigen Hunden, strahlend weissen Kindern mit nicht-weissen Nannys, von Anzügen, Airpods und Businesscalls. Ich frage mich, warum bei «Eat the Rich» Leute wie Rihanna nicht mitgemeint sind. Ja, ok, immerhin geben sie uns im Gegensatz zu Arschlöchern wie Jeff Bezos oder Elon Musk tatsächlich etwas, das unser Leben bereichert, nämlich Kunst und Unterhaltung. Und trotzdem: Wir reden davon, die Superreichen zu besteuern, zu enteignen oder was auch immer, aber wenn es Riri ist, die einen fucking neunkarätigen ZEHENring trägt, dann finden wir das okay und cool?

Aber egal … Die Menschen interessieren mich sowieso immer weniger, die New Yorker Gleichgültigkeit nimmt zunehmend überhand, die Namen auf den Cappuccino-Bechern werden immer seltsamer. Ich wende mich dem Tierreich zu. Den Eichhörnchen, Babyenten, Waschbären und wie hiess nochmals dieser Hund, der kürzlich von einem Gericht in Manhattan im Rahmen eines Vergewaltigungsprozesses schuldig gesprochen wurde? Ach ja: Donald Trump. Nicht zuletzt faszinieren mich die Ratten. Remember wie Stuart Little – eine Ikone der Jahrtausendwende und sowas wie die Avril Lavigne der Ratten – auf einem Modellboot waghalsig über die Gewässer des Central Parks fuhr?

Doch die Stimmung scheint in den letzten Jahren gekippt zu sein. Letzten Herbst hat der amtierende Bürgermeister Eric Adams «The War on Rats» ausgerufen, und zwar mit einer vielbeachteten Pressekonferenz und catchy Aussagen wie «The rats gonna hate this announcement» und «The rats don’t rule this city. We do.» und «This is not Ratatouille!». Manchmal muss man dieses Land trotz allem einfach lieben…

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