Von Kot bis Tod

In der Ausstellung «Anus Horribilis» bringt das Künstlerkollektiv RM ein Thema aufs Tapet, das für viele immer noch tabu ist: der menschliche Kot. Es geht aber auch ums Sterben. 

Von  Lilli Kim Schreiber
Blick in die Ausstellung «Anus Horribilis» in der Lok. Death Bed Etiquette (RM 2024), ein grosser, mit Tüll bespannter Ring, dient als Filter beim Betrachten der übrigen Kunstwerke. (Bilder: Sebastian Stadler)

Seit dem Wochenende ist in der Lokremise St.Gallen die Ausstellung «Anus Horribilis» des Künstlerkollektivs RM (ehemals Real Madrid – Verwechslungsgefahr beabsichtigt) zu sehen. Das 2015 in Genf gegründete Duo, bestehend aus Bianca Benenti Oriol und Marco Pezzotta, präsentiert mit dieser Schau seine erste museale Soloshow. Kuratiert hat die Ausstellung Seniorkuratorin Melanie Bühler.

Die Schau markiert einen bedeutenden Schritt in der künstlerischen Entwicklung von RM. Alle Werke sind speziell für die Ausstellungsräume der Lok noch in diesem Jahr entstanden und spiegeln einen thematischen Wandel wider, den das Kollektiv in seinem bisherigen Œuvre vollzieht.

Selten im musealen Kontext

Während sich RM in früheren Arbeiten oft mit gesellschaftskritischen Themen wie Sexualität, Konsum, Identität und Körperlichkeit sowie insbesondere mit den damit verbundenen Stigmata auseinandersetzten, widmet sich die Ausstellung «Anus Horribilis» einem neuen Tabu, das im musealen Kontext selten thematisiert wird: dem menschlichen Kot.

Auch in dieser Ausstellung bleibt das Thema Körperlichkeit zentral, doch diesmal richten RM den Fokus auf die zugrundeliegenden Transformationsprozesse und körperlichen Vorgänge bis hin zum Ausscheiden von Exkrementen. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die Informationen über die Dysfunktionalität bestimmter körperlicher Prozesse durch Krankheit unser Leben und unser Umfeld beeinflussen – bis hin zum Tod. RM fordern die Betrachtenden auf, sich mit den Konsequenzen auseinanderzusetzen, die aus dem Verlust oder der Störung dieser grundlegenden Funktionen für die Betroffenen entstehen.

Stuhlgang mit Augenzwinkern

Als Schlüsselwerk der Ausstellung von RM präsentiert sich ein zunächst unscheinbares Werk, das im hinteren Teil der Ausstellung in klassisch gerahmtem Format an der Wand hängt: Die Grafik To the Satisfaction Of (RM 2024) stellt den Zusammenhang zwischen der Regelmässigkeit des Stuhlgangs und der Wahrscheinlichkeit öffentlicher Belustigung dar. Auf humorvolle Weise lenken RM so die Aufmerksamkeit auf das Tabu des Stuhlgangs und propagieren gleichzeitig eine Wiederaneignung dieses Themas.

«Es kann auch traurig sein zu scheissen», erklären RM, insbesondere wenn man todkrank ist, wie es im Fall eines engen Freundes des Kollektivs der Fall war, der seine ganze Aufmerksamkeit fortan auf seinen Stuhlgang richtete. RM betonen, dass Witze über Kot ein wichtiges Mittel sein können, um sowohl Kritik an der Bourgeoisie und ihrer Tabuthemen zu üben als auch ein Ventil für persönliche Frustration zu bieten. Entscheidend sei dabei, wie man das Thema verwende – nicht um sich über den Kot selbst lustig zu machen, sondern um den Umgang damit kritisch zu hinterfragen.

Schwarze Sonne

Dem letzten Stigma, jenem des Sterbens, widmen sich RM gleich zu Beginn der Ausstellung. Ein grosses Rad, das mit schwarzer Spitze bespannt ist, verstellt den Blick auf die dahinterliegenden Kunstwerke. Der Stoff, den der Rehetobler Stickereibetrieb Walter Sonderegger eigens für die Ausstellung angefertigt hat, erinnert an einen Trauerschleier und an bourgeoise Beerdigungen vergangener Jahrhunderte.

Gleichzeitig kann dieser Stoff laut Kuratorin Melanie Bühler auch als «Schwarze Sonne» interpretiert werden, durch die man den Rest der Ausstellung wie durch eine Kreisblende betrachtet. Diese Anordnung evoziert den expressionistischen Stil, wie er in Filmen wie Das Cabinet des Dr. Caligari von Robert Wiene zum Ausdruck kommt, und spiegelt subtil den multifunktionalen Charakter des Kulturzentrums Lok wider.

An(n)us horribilis

Der Titel der Ausstellung «Anus Horribilis» spielt auf ironische Weise auf den berühmten Ausspruch «Annus Horribilis» von Queen Elizabeth II. an, der das Jahr 1992, geprägt durch den Brand im Windsor Castle, als ein schlimmes Jahr für die britische Monarchie bezeichnete. In der Ausstellung erinnert eine Reihe von Spritzen, die in einer gitterartigen Anordnung präsentiert werden, an die Corona-Pandemie – ein globales Ereignis, das zwar medial bereits in den Hintergrund gerückt ist, hier jedoch erneut als «Anni Horribiles» in Erinnerung gerufen wird. Ohne direkt Morbidität zu thematisieren, werden Krankheit und Tod in der Ausstellung von RM sowohl zur Persiflage gesellschaftlich stigmatisierter Themen als auch als Ausdruck von Protest gegen Ambiguitätstoleranz und Gleichgültigkeit genutzt.

Die Skulptur der <em>Shitperson</em> (RM 2024), die an das berühmte Michelin-Männchen erinnert, erscheint auch in der Videoarbeit der Ausstellung, in der sie die «Shit News» verliest.

Die Skulptur der Shitperson (RM 2024), die an das berühmte Michelin-Männchen erinnert, erscheint auch in der Videoarbeit der Ausstellung, in der sie die «Shit News» verliest.

Diese kritische Haltung wird durch die zusammenhängend präsentierten menschlich-anmutenden Skulpturen der «Shitperson» und der «Flyperson» sowie durch die symbolischen Holzfiguren verstärkt. Letztere, inspiriert vom chinesischen Tangram-Spiel, bestehen aus Sargteilen und sind im Raum verteilt, wodurch sie eine parasitäre Aura erhalten. Die variablen Zusammensetzungen dieser Figuren erzeugen ständig neue Formen, die das Vergängliche thematisieren und die Ausstellung stilistisch erweitern. Zusätzlich verdeutlichen sie die künstlerische Ausrichtung von RM, die auf Differenz statt Kontinuität setzt.

Der kuratorische Kniff, die Ausstellung in den für solche Zwecke eher ungewöhnlichen Räumen des Kulturzentrums Lok zu präsentieren und sie somit gewissermassen «aufs Abstellgleis» zu verfrachten, unterstreicht die Thematik der Stigmata und die damit verbundenen gesellschaftlichen Vorbehalte, die sich im Inneren der Ausstellungsräume offenbaren.

Bogen von der Lok ins Kunstmuseum

«Anus Horribilis» fasziniert durch die vielseitige Formsprache und den geschickten Einsatz medialer sowie popkultureller Referenzen. Trotz einer Prise Toilettenhumor, wo es passend ist, wird dennoch der ernsten Thematik von Krankheit und Tod Raum gegeben.

Dieser Ansatz zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Tabus spiegelt sich auch in der aktuellen Ausstellung «Burning Down the House – Rethinking Family» im Kunstmuseum St.Gallen wider, die ebenfalls von Melanie Bühler kuratiert wurde – mindestens ebenso sehenswert.

 

«Anus Horribilis»: bis 10. November, Lok St.Gallen