, , 5. Juli 2023
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Von Engeln und Pleitegeiern

Das landwirtschaftliche Genossenschaftsprojekt Grüner Engel ist Geschichte. Wie kams dazu? Und was hat sein Ende mit dem Beinahekonkurs der Genossenschaftsbeiz Schwarzer Engel in St.Gallen zu tun? Saiten hat sich durch den Mulch gewühlt. von David Gadze und Roman Hertler

Illustrationen: Ladina Bösch

Sie wollten gemeinsam fliegen: der Schwarze und der Grüne Engel. Letzterer sollte im Appenzellerland Gemüse anbauen, das der Schwarze Engel in seinem Restaurant in der St.Galler Altstadt verarbeiten konnte. Ein biologischer Selbstversorgerbetrieb mit kurzen Transportwegen in Zeiten der Globalisierung – eine schöne Idee, angestossen irgendwann 2011.

Es zeigte sich jedoch schon früh, dass dem Grünen Engel der finanzielle Absturz drohte. An der Genossenschaftsversammlung (GV) des Grünen Engels vom 16. Mai dieses Jahres, zehn Jahre nach der Gründung, wurde schliesslich seine Auflösung beschlossen. Das Genossenschaftskapital von rund 40’000 Franken, davon 10’000 Franken vom Schwarzen Engel, ist weg. Dieser war es denn auch, der als einziger der anwesenden Genossenschafter:innen gegen die Auflösung stimmte, weil er den Verlust seines Anteils nicht ohne weiteres hinnehmen möchte.

Im Herbst 2022 stand der Schwarze Engel vor dem Konkurs. Buchstäblich in letzter Minute gelang die Rettung, dank einer beispiellosen Geldsammelaktion, die rund 150’000 Franken in die Kassen spülte. Die jetzige Verwaltung und das Kollektiv wollen Transparenz schaffen, auch gegenüber der Öffentlichkeit. Das betrifft auch die Verbindungen zum Grünen Engel.

Die interne Aufarbeitung der jüngeren Geschichte des Schwarzen Engels läuft derzeit, vieles ist noch in der Schwebe, es gibt nach wie vor viele offene Fragen. Saiten hat für diesen Artikel mit gut einem Dutzend Personen aus dem Umfeld des Schwarzen Engels gesprochen, teils ehemaligen, teils heutigen Kollektiv- oder Verwaltungsmitgliedern.

Zudem gewährte uns der Schwarze Engel Einblick in Unterlagen, Protokolle und Jahresberichte, sofern sie noch vorhanden waren. Die Verwaltung betonte mehrfach, in die Vorgänge aus der Vergangenheit nicht involviert gewesen zu sein und sich an Vermutungen, die Saiten in diesem Artikel äussert, nicht zu beteiligen.

1. Die Entstehung des Grünen Engels

Die Geschichte des Grünen Engels lässt sich aus Protokollen von Kollektivsitzungen oder GVs des Schwarzen Engels ziemlich lückenlos rekonstruieren. Demnach kommt die Idee, der Schwarze Engel könne mit dem Kauf einer Liegenschaft einen Teil seines Gemüsebedarfs selber produzieren, im Sommer 2011 an einem betriebsinternen «Visionstag» erstmals auf.

Vor allem eine Gruppe um Gabriel Ackermann (Name geändert), der zu jenem Zeitpunkt Mitglied der Verwaltung und des Kollektivs ist, macht sich dafür stark. Das Vorhaben stösst beim Kollektiv von Anfang an auf Zustimmung. Dieses beschliesst im folgenden Frühling, die Idee eines Hofs mit Permakultur weiterzuverfolgen. Damals ist sogar die Rede davon, eine Liegenschaft zu kaufen, entweder durch den Schwarzen Engel oder durch die Genossenschaft Wohnen und Arbeiten, der das «Engel»-Gebäude an der Engelasse gehört. Die Suche nach einem passenden Hof beginnt, es erfolgt auch bereits ein entsprechender Antrag für einen Hypothekarkredit bei der Freien Gemeinschaftsbank Basel. Diese gibt Anfang 2013 grundsätzlich grünes Licht.

Am 5. November 2013 wird schliesslich eine separate Genossenschaft gegründet – es ist die Geburtsstunde des Grünen Engels. Im Protokoll der Kollektivsitzung des Schwarzen Engels vom 19. November heisst es aber: «Finanzierung auf wackligen Beinen, da Engel kein Geld. Will Engel in dieses Projekt investieren?» Zunächst soll deshalb im Garten von Ackermann ein Pilotprojekt beginnen. Pikantes Detail: Ackermann ist Kassier des Grünen Engels – und hat die gleiche Funktion beim Schwarzen Engel inne, zudem führt er dessen Büro und macht Zahlungen. Er kontrolliert somit auch die Geldflüsse zwischen den Genossenschaften.

Mietausgaben ohne Mietobjekt

Die Generalversammlung vom Dezember 2013 gibt erste Hinweise darauf, dass der Schwarze Engel den Grünen Engel schon damals, vor der Aufnahme des Betriebs, subventioniert hat. Im Protokoll heisst es: «Die Frage […] nach den höheren Mietkosten wurde geklärt. Sie resultieren aus dem Mieten eines Bauernhofs im Zusammenhang mit dem […] Projekt ‹Grüner Engel›.»

Diese Antwort ist insofern verwirrend, als der Grüne Engel zu jenem Zeitpunkt immer noch auf der Suche nach einer Liegenschaft ist. Wofür zahlte also der Schwarze Engel dieses Geld? Wie viel und wie lange? Und an wen? An Ackermann? Die Dokumente und Zahlen, in die Saiten Einblick hatte, beantworten diese Fragen nicht.

An dieser GV wird zudem ein bemerkenswerter Entschluss gefasst: Die Genossenschafter:innen stimmen dem Antrag des Kollektivs zu, dass dieses ohne Rücksprache mit der Generalversammlung eine Investition in Höhe von bis zu 200’000 Franken in dieses Projekt tätigen könne, sofern der Schwarze Engel danach immer noch über liquide Mittel von mindestens 60’000 Franken verfüge. «Auf die Frage, ob es denn Bedenken bezüglich dieser Geldsprechung gäbe, wurde mit vielsagendem, allgemeinem Gelächter geantwortet», heisst es im Protokoll.

Geld vom Schwarzen Engel umgeleitet?

In den Jahren 2014 und 2015 passiert nicht viel, zumindest ist in den vorhandenen Protokollen nichts dokumentiert. Anfang 2016 wird es dann konkret mit einem Grundstück in der Speicherschwendi – jenem Grundstück, wo der Grüne Engel bis zuletzt sein Gemüse produzierte.

Im Protokoll der Kollektivsitzung vom 2. Februar heisst es: «Grüner Engel Info: Speicherschwendi 3,3 ha grosses Grundstück, könnte man kaufen, 1/3 davon Wald, Scheune mit Heuboden usw. vorhanden, kein Wohnhaus, mit Verkäuferin im Gespräch, Permakultur ist erwünscht, Kaufpreis: ca. 100’000 – 150’000; braucht noch Bewilligung von Bodenrechtskommission; es braucht einen Direktzahlungskurs, weil [Gabriel] kein Landwirt ist; Schützengarten möchte finanziell unterstützen, in Form von Rückvergütung & Anteilscheinen.»

Der letzte Teilsatz wirft Fragen auf. Warum investiert Schützengarten in einen landwirtschaftlichen Betrieb? Normalerweise bekommen nur Gastrobetriebe finanzielle Unterstützung, in welcher Form auch immer. Und heisst das, dass die Umsatzrückvergütung – quasi ein Mengenrabatt, den Schützengarten den Beizen pro Hektoliter Bier gewährt – in Form von Anteilscheinen am Grünen Engel abgerechnet wurde? Diese Fragen liessen sich im Rahmen dieser Recherche nicht beantworten. Schützengarten wollte sich auf Anfrage nicht äussern. Die Brauerei schreibt, man gebe «grundsätzlich keine Kundeninformationen oder potenzielle Kundeninformationen» heraus.

Aber wenn die Antwort auf die zweite Frage Ja lautet – also wenn die Rückvergütungen in Genossenschaftsanteile des Grünen Engels umgewandelt wurden –, bedeutet das nichts anderes, als dass Geld, das eigentlich dem Schwarzen Engel zugestanden hätte und mit dem er budgetierte, an den Grünen Engel geflossen wäre.

Gemäss den Protokollen besitzt (oder besass) Schützengarten einen Genossenschaftsanteil von 10’000 Franken am Grünen Engel. Für Schützengarten hätte diese Lösung finanziell keinen Unterschied gemacht, die Brauerei hätte dadurch sogar noch Anteilscheine bekommen. Auch bei einer Auflösung der Genossenschaft hätte sie kein Geld verloren.

An der Kollektivsitzung vom 16. Februar 2016 wird dann bekanntgegeben, dass der Mietvertrag des Grünen Engels ab März während sechs Jahren läuft, mit einer Kündigungsfrist von einem Jahr. Folglich handelt es sich um eine Pacht, der Kauf einer Liegenschaft ist damit vom Tisch. Pächter ist allerdings nicht der Grüne Engel, sondern Gabriel Ackermann.

Im selben Protokoll findet sich auch eine Bemerkung, die darauf schliessen lässt, dass für die Arbeit im Grünen Engel künftig Löhne gezahlt werden sollen. Die Frage der Finanzierung wird an der Kollektivsitzung vom 5. April nochmal aufgenommen: «Grüner Engel: wie finanzieren? Geht wohl um ca. 25’000 im Jahr, der schwarze Engel schaffte eine neue Stelle; besser nicht als normale Löhne im Engel (Schw.); nimmt schw. Engel einfach Anteilscheine?, […] sobald Grüner Engel läuft, können die ja selber Löhne bezahlen…, Engel ‹hat› 40’000.- […] Entscheidung wird vertagt.»

Wider jegliche finanzielle Vernunft

Im Mai 2016 zeichnet der Schwarze Engel für 5000 Franken Anteilscheine am Grünen Engel; am 26. Februar 2018 – nur sechs Tage nach der GV, an der die Genossenschafter:innen die Jahresrechnung 2016/17 mit einem Verlust von knapp 4200 Franken angenommen hatten – kommen gemäss Kontoauszügen weitere 5000 Franken in Anteilscheinen hinzu. Das Kollektiv hatte an seiner Sitzung vom 5. September 2017 die Frage diskutiert, ob der Grüne Engel die zweiten 5000 Franken vom Schwarzen Engel bekommen könne. Der im Protokoll festgehaltene Beschluss ist klar: «Wenn Geld da, dann ja.»

Doch schon im Geschäftsjahr 2012/13, also kurz vor der Gründung der Genossenschaft Grüner Engel, gab es einen Rekordverlust von über 60’000 Franken. Es folgten weitere Verlustjahre. Trotz alledem fliessen also insgesamt 10’000 Franken Genossenschaftskapital an den Grünen Engel. Ob das Kollektiv angesichts dieser Zahlen der Idee des Grünen Engels immer noch so positiv gegenüberstand wie wenige Jahre zuvor und diesen Ausgaben letztlich zustimmte oder nicht, lässt sich nicht zweifelsfrei belegen.

Im Protokoll der ausserordentlichen GV des Schwarzen Engels vom 26. Februar 2019 heisst es zwar auf eine entsprechende Frage: «Die Beteiligungen wurden jeweils vom Kollektiv abgesegnet.» Belege dafür finden sich jedoch nicht. Gemäss dem GV-Protokoll bezweifelte ein Kollektivmitglied gar, dass die zweite Tranche von 5000 Franken je bewilligt worden sei. Andere glaubten dann aber, sich daran zu erinnern.

Ein weiteres Indiz dafür, dass der Grüne Engel wider jegliche finanzielle Vernunft ins Leben gerufen (und dann auch jahrelang weiterbetrieben) wurde, ist ein Dokument von Ackermann, das mit Juni 2014 datiert ist und auf einer alten Version der Website des Grünen Engels zu finden war. Es ist eine Art Businessplan mit den wichtigsten Kennzahlen.

Unter der Annahme, dass ein Hypothekarzins für den damals noch vorgesehenen Kauf eines Hofs hätte gezahlt werden müssen, resultiert allein im ersten Betriebsjahr ein Verlust von knapp 45’000 Franken. Im Jahr darauf beträgt das Minus 37’000 Franken, nach fünf Jahren immer noch 20’000. In diesen fünf Jahren resultiert ein Gesamtverlust von rund 150’000 Franken. Dieselben Zahlen finden sich auch in einer neueren Version dieses Businessplans von 2016, also als der Grüne Engel den Betrieb aufnahm.

Selbst wenn man den Hypothekarzins weglässt und stattdessen einen moderaten Pachtzins einsetzt, ergibt sich ein grosser Fehlbetrag. Wie viel Aussagekraft diese Dokumente haben, ist allerdings nicht klar. Klar ist lediglich, dass der Grüne Engel von Anfang an massiv unterfinanziert war. Ein Gewinn oder nur schon eine ausgeglichene Rechnung waren offenbar gar nie vorgesehen.

Geringer Gemüseertrag

Im April 2016 beginnt der Grüne Engel mit der Bewirtschaftung des Grundstücks in der Speicherschwendi. Der Ertrag bleibt über all die Jahre bis zur Auflösung allerdings ziemlich bescheiden – zumindest soweit sich die Lieferungen an den Schwarzen Engel aufgrund der Buchhaltung nachvollziehen lassen. Zu den Mengen des vom Grünen Engel gelieferten Gemüses gibt es keine Angaben. Der Schwarze Engel verbuchte dafür jedoch zwischen 1000 und 2000 Franken – pro Jahr. Das ist etwa so viel, wie er jeden Monat für Gemüse ausgibt.

Trotz der geringen Gemüselieferungen an den Schwarzen Engel verkauft der Grüne Engel seine Waren auch an die Bevölkerung. Wie aus dem Gemeindeblatt Speicher vom März 2020 hervorgeht, betrieb der Grüne Engel im Sommer 2019 in Speicher einen Gemüsestand. Im Juni 2020, also nach der ersten Coronawelle, erneut.

Warum ging das Gemüse nicht an den Schwarzen Engel? Hatte dieser keinen Bedarf? An zu geringer Nachfrage vom Schwarzen Engel sollen die spärlichen Gemüselieferungen jedenfalls nicht gelegen haben, hört man.

Warum man sich überhaupt dafür entschieden hatte, den Permakultur-Garten auf knapp 840 Meter über Meer anzulegen, dazu an einem Nordhang, wo die Ernten bekanntlich geringer ausfallen als in tieferen Lagen, sei dahingestellt.

2. Die Finanzlage des Schwarzen Engels

Ende Oktober 2022 wendet sich der Schwarze Engel mit einem Hilferuf an die Öffentlichkeit. Wenn nicht innert fünf Tagen 30’000 Franken aufgetrieben werden können, wäre das Ende der alternativen Traditionsbeiz besiegelt.

Was folgt, ist bekannt: Eine riesige Welle der Solidarität spült das Fünffache des benötigten Betrags in die Engelkasse. Das Kollektiv und die Öffentlichkeit können nur noch staunen. Hunderte spenden, die meisten aber zeichnen Genossenschaftsscheine oder erweitern ihr jahrzehntealtes «Engelportfolio» um weitere Anteile für ihre Kinder – der Engel als Generationenprojekt.

Selbst Pessimist:innen helfen mit, trotz der Befürchtung, es könnte sich um hinausgeworfenes Geld handeln, sollte die Rettungsaktion nicht gelingen. Mit 150’000 Franken haben aber selbst die grössten Optimist:innen nicht gerechnet.

Die Freude im Kollektiv ist riesig. Die Höhe des Betrags führt ihm aber auch vor Augen, welche Bedeutung der «Engel» offenbar für viele Menschen hat und welche Verantwortung für die Zukunft des Betriebs angesichts der grossen Finanzspritze damit einhergeht. Man ist sich bald einig und verspricht auch öffentlich, jetzt genau hinzuschauen und aufzuarbeiten, wie es zu dieser neusten Beinahepleite kommen konnte. Und dies scheinbar, ohne dass es wirklich jemand kommen sah.

Über 100’000 Franken Verlust in den letzten zehn Jahren

Die Finanzen des Schwarzen Engels seit der Jahrtausendwende gleichen einer Achterbahnfahrt. Ab Mitte der Nullerjahre steigen die Umsätze von Restaurant und Küche von vormals um die 600’000 auf rund 850’000 Franken im bisherigen Engel-Spitzenjahr 2011/12. Die Personalkosten halten verhältnismässig Schritt mit dem steigenden Umsatz. Per 31. Juli 2012 resultiert ein Gewinn von 31’000 Franken – drittbestes Ergebnis der letzten 20 Jahre.

Es sind goldene Zeiten für den Schwarzen Engel. Einmal wird den Mitarbeitenden sogar ein Bonus zugesprochen. Das Kollektiv beschliesst dann aber, den dafür vorgesehenen Betrag von rund 15’000 Franken an «Ida», ein mittlerweile gescheitertes Genossenschaftsbeizprojekt in Winterthur, zu spenden. Man will, dass sich solche Strukturen auch andernorts etablieren – das Modell Schwarzer Engel soll Schule machen.

Vom Optimismus der Vorjahre beflügelt, wird, wie eingangs erwähnt, 2013 die Genossenschaft Grüner Engel gegründet mit dem Ziel, einen Hof zu kaufen oder zu mieten. Dies allerdings bereits im Wissen um den immensen Verlust, der 2012/13 erwirtschaftet wurde. Denn nach dem Jahr mit Rekordumsatz und sattem Gewinn folgte für 2012/13 das bis dato schlechteste Engeljahr mit einem Jahresverlust von 64’000 Franken.

Dieser lässt sich zwar mit dem Einbau der neuen Bar und der damit einhergehenden rund einmonatigen Schliessung im Sommer 2013 begründen. Doch hätte man konsequenterweise nicht damit warten müssen, das Gemüseprojekt voranzutreiben?

Ein Jahr später scheinen sich die Umsätze wieder zu erholen, doch die Folgejahre zeigen, dass es stetig bergab geht. 2020, mit Beginn der Coronamassnahmen, ist man umsatzmässig wieder etwa beim Niveau von 2005 angelangt.

Jahresergebnisse Schwarzer Engel seit 2011 (Stichtag jeweils 31. Juli):

2011/12:   31’000
2012/13: –64’000
2013/14:     7’400
2014/15: –24’000
2015/16:   14’000
2016/17:  – 4’200
2017/18:  – 4’500
2018/19:  – 8’000
2019/20:   39’000
2020/21: –17’000
2021/22: –46’000

Zwischen 2012/13 und 2021/22 verliert der Schwarze Engel über 100’000 Franken. Die bis Oktober 2022 angehäuften Verluste entsprechen annähernd der Höhe des Genossenschaftskapitals. Es droht die Überschuldung. Wäre nicht innert kürzester Zeit die erwähnte Rettung gelungen, hätte der «Engel» die Bilanz deponieren müssen. Das Restaurant wäre versiegelt und die Genossenschaft Schwarzer Engel liquidiert worden.

3. Die Buchführung

Nun sind Zahlen, wenn sie aus den bisherigen Büchern des Schwarzen Engels kommen, mit Vorsicht zu geniessen. Im Restaurant existiert keine eigentliche Kasse, respektive handelt es sich dabei einfach um eine Schublade mit Schloss. Die Tageseinnahmen gehen zunächst in den Tresor und später zur Bank.

Die Konsumation der Mitarbeitenden während und ausserhalb ihrer Dienste wird per Strichliliste abgerechnet. Diese kommt vor allem zum Einsatz, wenn es jeweils gegen den Feierabend zugeht. Nach dem Zapfenstreich wird oft intern weitergefeiert. Dagegen ist wenig einzuwenden, zumindest solange die Genossenschaft trotz – sagen wir – freiheitlichem Umgang mit der Strichliliste auf stabilen finanziellen Füssen steht.

In gewisser Weise macht dieses anarchische Bewirtungssystem ja auch den Charme des Schwarzen Engels aus. Die Kollektivmitglieder stecken seit Generationen ihr Herzblut ins gemeinschaftliche Projekt, die Löhne sind dem Gastrogewerbe entsprechend nicht rosig, man gönnt sich also auch mal was. Dieses System funktioniert in der Regel gut. Vieles basiert auf gegenseitigem Vertrauen.

Doch genau dieses Vertrauen im Kollektiv war in den vergangenen zehn Jahren – auch, aber nicht nur – wegen der sich zuspitzenden Finanzsituation arg angekratzt.

Multiples Organversagen

Stellt sich die Frage, warum scheinbar niemand die drohende Insolvenz im Oktober 2022 hat kommen sehen. Gemäss einer Erklärung der Verwaltung vom 17. Januar 2012, die im Handelsregister zu finden ist, untersteht die Genossenschaft keiner ordentlichen Revision. Seit 2019 verzichtet sie ausserdem auch auf eine eingeschränkte Revision. Und das Buchhaltungsbüro, das seit vielen Jahren die Buchhaltung des Schwarzen Engels jeweils für die Generalversammlung aufbereitet und dort präsentiert, prüft die Zahlen gewissenhaft, allerdings nur summarisch.

Über die tatsächlichen Ein- und Ausgänge wachen also «nur» die Genossenschaftsverwaltung, das Kollektiv sowie die Genossenschafter:innen – zumindest theoretisch. Die interne Kontrollstelle ist laut Statuten das vierte Organ der Genossenschaft. Sie sollte ebenfalls ein prüfendes Auge auf die Buchhaltung werfen, blieb ab 2019 allerdings zwischenzeitlich unbesetzt. Der heutige Verwaltungspräsident Davide Peruzzetto sprach an der Genossenschaftsversammlung vom vergangenen November deshalb von «multiplem Organversagen».

Es waren einzig die Genossenschafter:innen, die an den Generalversammlungen in den letzten zehn Jahren immer mal wieder auf die problematische Finanzlage aufmerksam machten. An der ausserordentlichen GV vom 26. Februar 2019, die einberufen wurde, weil die GV im Dezember davor wegen ausufernder Debatten über die Betriebsphilosophie und die Finanzen abgebrochen wurde, gab ein Genossenschafter zu Protokoll, dass die Finanzen «drastisch» aussehen. Das dritte Verlustjahr in Folge zeichnete sich bereits ab.

Dass im nächsten Geschäftsjahr per Ende Juli 2020 dann ein Plus von 39’000 Franken resultierte, war in erster Linie den staatlichen Kurzarbeitsentschädigungen infolge der Coronapandemie zu verdanken. Doch schon im Folgejahr 2020/21 verbuchte der Engel wieder einen Verlust von 17’000 Franken – trotz doppelt so hoher Kurzarbeitsgelder wie im Vorjahr.

Herr über die Finanzen

Mitte der Nullerjahre beginnt Gabriel Ackermann als Koch im «Engel» zu arbeiten, 2011 wird er Mitglied der Verwaltung und führt das Büro, wo er als Kassier unter anderem Rechnungen bezahlt, Belege sammelt und Tagesabrechnungen der jeweils letzten Schicht ablegt. Ausserdem ist er für die Bestellungen von Getränken und Nahrungsmitteln zuständig. Im Kollektiv ist man froh darüber, dass sich jemand um die lästige Zahlenarbeit kümmert. Oft schreibt er auch die Protokolle der Kollektivsitzungen.

2018 tritt Ackermann aus der Genossenschaftsverwaltung zurück, arbeitet aber weiterhin als Koch und im Büro. Im Herbst 2022 zieht er sich weitgehend aus dem Kollektiv zurück und hilft seither nur noch gelegentlich in der Küche aus. Ausserdem liefert er dem Schwarzen Engel weiterhin etwas Gemüse – nicht im Namen des Grünen Engels, sondern auf eigene Rechnung – und holt die Küchenabfälle für seinen Kompost.

Vermutlich war Ackermann lange der Einzige, der wirklich einen Überblick über Einnahmen und Ausgaben des Schwarzen Engels hatte. Und vieles deutet darauf hin, als sei er bedacht darauf gewesen, nicht allzu viel an dieser Situation zu ändern. Das ergibt sich vor allem aus den Gesprächen, die Saiten im Zuge dieser Recherche geführt hat.

Mindestens zwei ehemalige Servicemitarbeitende, die über buchhalterische Fähigkeiten verfügten, geben an, sich darum bemüht zu haben, ebenfalls die eine oder andere Büroschicht übernehmen zu dürfen. Auf diesen explizit geäusserten Wunsch der einen Person ging Ackermann gar nicht erst ein, weshalb diese sich damals ziemlich vor den Kopf gestossen fühlte, wie sie sagt.

Die andere Person, die eine KV-Ausbildung vorzuweisen hatte, wurde höchstens mit Kleinkram betraut – und später auch mit Detektivarbeit (mehr dazu später). Diese Person übt heute auch Selbstkritik: «Mir waren die Zahlen ehrlich gesagt auch ein bisschen egal. Für mich stand das politische Projekt Schwarzer Engel im Vordergrund. Dass ich da nicht mehr darauf beharrte und genauer hinschaute, muss ich auch auf meine Kappe nehmen.»

Ackermann kontrollierte über mehr als ein Jahrzehnt lang faktisch das Finanzwesen des Schwarzen Engels. Wie Saiten übereinstimmend berichtet wird, liess er niemanden, den oder die er nicht zu seinem engsten Kreis rechnete, zu tief in die Engel-Zahlen eintauchen. An den GVs wich er kritischen Fragen aus oder wehrte sie rhetorisch geschickt ab. Er hatte für alles eine Erklärung parat. Folglich liess man ihn mehr oder weniger unhinterfragt gewähren.

Zwar hätten die Genossenschafter:innen des Schwarzen Engels jederzeit Einblick in die Bücher verlangen können, doch offenbar tat das niemand. Auch darum ist im Zusammenhang mit der Beinahepleite im Herbst 2022 von «multiplem Organversagen» die Rede. Letztlich wusste niemand so recht, wie es um die Beiz wirklich bestellt war.

Und die, die es hätten wissen müssen, unternahmen nichts. Ackermann – aber auch der damaligen Verwaltung – hätte jedenfalls schon vor dem Herbst 2022 auffallen müssen, dass der Schwarze Engel auf die Zahlungsunfähigkeit zuraste.

4. Wie sind die beiden Engel verbunden?

Im Protokoll der GV des Schwarzen Engels vom 17. Dezember 2013 heisst es ausdrücklich: Durch die Gründung einer separaten Genossenschaft bestehe «eine formale Trennung zwischen dem Restaurant und dem noch zu realisierenden Bauernhof. Falls der Grüne Engel in Schwierigkeiten geriete, wäre der Schwarze Engel davon nicht betroffen und umgekehrt.»

Allerdings: Im Dickicht der Verbindungen und Abhängigkeiten zwischen den beiden Genossenschaften ist es schwierig zu beurteilen, ob das tatsächlich so war – und welchen Anteil der Grüne Engel und dessen Verantwortliche am Beinahe-Absturz des Schwarzen Engels im vergangenen Jahr hatten.

Nebst den bescheidenen Gemüse- und Kräuterlieferungen – «vermutlich die teuersten Kräuter der Welt», wie ein ehemaliges Kollektivmitglied des Schwarzen Engels sagt – war der Grüne Engel in der Person von Gabriel Ackermann auch für die Entsorgung der Küchenabfälle zuständig. Diese kompostiert er im Garten des Grünen Engels.

Der Entsorgungsdienst wird verrechnet: Schon 2014 und 2015, als die Pilotphase des Grünen Engels in Ackermanns privatem Garten beginnt, bezahlt der Schwarze Engel dafür insgesamt rund 2000 Franken. Als der Gemüseanbau 2016 in der Speicherschwendi startet, steigt der Betrag auf knapp 2300 Franken. In den Jahren 2017 bis 2021 bewegt er sich zwischen 900 und 1200 Franken jährlich. Das entspricht jeweils ungefähr der Hälfte des Jahresumsatzes des Grünen Engels.

Auch personell sind die beiden Genossenschaften über mehrere Jahre durch Gabriel Ackermann und eine weitere Person, die von ehemaligen Kollektivmitgliedern als Ackermanns «rechte Hand» bezeichnet wird, verbunden: Sie sitzen bei beiden in der Verwaltung, Ackermann ist gemäss Handelsregister bei beiden Kassier. 2018 zieht er sich aus der Verwaltung des Schwarzen Engels zurück, 2022 aus jener des Grünen Engels. Eine dritte Person hatte von 2014 bis 2022 das Verwaltungspräsidium des Grünen Engels inne, gleichzeitig war sie langjähriges Kollektivmitglied beim Schwarzen Engel und gehörte dort gemäss übereinstimmenden Aussagen zum engeren Kreis um Ackermann.

An der abgebrochenen GV des Schwarzen Engels im Dezember 2018 wird ein Antrag auf Transparenzlegung bezüglich der Verflechtung zwischen dem Grünen und dem Schwarzen Engel gestellt, aber gemäss Protokoll nicht offiziell beschlossen. Warum, ist unklar. Es zeigt aber, dass einige Genossenschafter:innen ein Fragezeichen hinter die finanziellen und personellen Verstrickungen setzten. Schon an der GV von 2013 mahnte ein Genossenschafter des Schwarzen Engels, dass «keine wechselseitigen, ungesunden Abhängigkeiten» zwischen den zwei Genossenschaften entstehen dürften.

5. Informelle Hierarchien, unbewiesene Anschuldigungen, umstrittene Entlassungen

Basisdemokratisch organisierte Strukturen wie den Schwarzen Engel erfolgreich und im Sinne der Gemeinschaft am Leben zu erhalten, ist eine grosse Herausforderung. In genossenschaftlichen Kollektiven besteht immer die Gefahr, dass gewichtige Einzelinteressen die Gesamtinteressen untergraben und sich informelle Hierarchien bilden, wo eigentlich eine Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens und Diskussionen auf Augenhöhe unabdingbar wären.

Nach 2013 beginnt es innerhalb des Kollektivs ernsthaft, das heisst über das normale Mass zwischenmenschlicher Unstimmigkeiten hinaus, zu kriseln. Es steht der Verdacht im Raum, dass jemand oder mehrere Personen aus dem Kollektiv Geld klauen.

Das führt innerhalb des Kollektivs zu grosser Verunsicherung. Niemand kann oder will sich vorstellen, dass jemand aus dem Kreis von Menschen, mit denen man tagtäglich so eng zusammenarbeitet, die ganze Gruppe hintergangen haben soll. Die manchmal sehr unterschiedlich gehandhabte Disziplin im Umgang mit der Strichliliste ist ein offenes Geheimnis. Aber klauen im Engel? No way! Doch das gegenseitige Vertrauen beginnt zu bröckeln.

Eine Gruppe älterer Kollektivmitglieder um Gabriel Ackermann nimmt das Heft in die Hand und gibt fortan den Ton an, wie mehrere ehemalige Kollektivmitglieder, die diese Zeit miterlebt haben, übereinstimmend berichten.

Diese Gruppe und allen voran Ackermann sind es auch, die den Diebstahlverdacht in die Welt gesetzt haben und in der Folge beginnen, mit inquisitorischem Eifer nach Schuldigen zu suchen. Eine Person erinnert sich, wie Ackermann Kollektivmitglieder, die er im Verdacht hatte, zu Einzelgesprächen «vorlud».

Dieselbe Person berichtet auch, wie sie dann gemeinsam mit Ackermann begann, Excel-Tabellen zu erstellen, um über mehrere Wochen die Warenein- und -ausgänge sowie die Geldflüsse zu kontrollieren. Dadurch habe festgestellt werden können, so zumindest Ackermanns Idee, wann genau Geldbeträge verschwanden, um so aufgrund der Schichtpläne den Kreis der Verdächtigen einzugrenzen.

Eine Entlassung wird zum Bumerang

Es kommt in der Folge zu zwei Entlassungen, für die sich wiederum vor allem der harte Kern um Ackermann stark macht. Schlagende Beweise dafür kann er nicht vorlegen, geschweige denn darüber Auskunft geben, welche Geldbeträge tatsächlich gestohlen worden sein sollen.

Aufgrund der mangelhaften Informationslage im Kollektiv – wie erwähnt kannte letztlich nur Ackermann die Finanzen im Detail – sowie des forschen Auftretens Ackermanns und seiner Mitstreiter:innen lassen sich viele Kollektivmitglieder mitreissen. Zumindest wagt kaum jemand, gegen die Beschuldigungen und die Entlassungen der zwei Kollegen zu opponieren. Mit welchen Informationen und Argumenten sollen sie auch dagegenhalten? Für die Meinungsmacher ist der Fall klar, sie drücken der stillen Minderheit ihre Position auf.

Luca Scotoni, der hauptsächlich im Service arbeitet, ist einer der beiden Entlassenen. Ackermann war aufgrund seiner Recherchen zum Schluss gekommen, dass er Geld gestohlen haben musste. Beweise dafür gibt es jedoch nicht.

Als Verdacht genügt Ackermann zum einen, dass Scotoni an einigen Abenden arbeitete, nach denen weniger Geld in der Kasse war als gemäss seinen Berechnungen der Getränkebestände hätte sein sollen. «Aber so, wie das Büro organisiert war, kann man keinen Betrieb führen», sagt Scotoni. Auch die Strichliste sei nicht sehr gewissenhaft geführt worden. Das bestätigt auch eine andere Person, die zu jener Zeit im Schwarzen Engel arbeitete. Zum anderen deutet es Ackermann als Indiz für die Diebstähle, dass sich Scotoni trotz des geringen Lohns ein Motorrad und ein Auto gekauft hat.

Unter solchen Vorwänden lässt Ackermann das Kollektiv über die Entlassung von Scotoni und des anderen Kollektivmitglieds abstimmen. «Dabei half ich oft gratis aus, wenn ich privat dort war. Ich brachte mein eigenes Equipment für Konzerte mit, damit der ‹Engel› dafür nicht bezahlen musste, und so weiter», sagt Scotoni. Auch seine Vorschläge, die Abläufe im Betrieb mittels Arbeitsgruppen zu optimieren, klemmt Ackermann ab. Luca Scotoni beschreibt Ackermann als nicht kritikfähig und gut darin, seinen Willen durchzusetzen.

Scotonis Kündigung entwickelt sich für den Schwarzen Engel zum Bumerang: Er zieht vor Gericht, allerdings nicht wegen der Kündigung, sondern wegen zu tiefem Lohn. Da Scotoni gelernter Koch ist, hätte er nach dem Landesgesamtarbeitsvertrag von Gastrosuisse entlöhnt werden müssen, nicht nach dem Kollektivlohn des Schwarzen Engels, der darunter liegt und den fast alle im Schwarzen Engel bekommen, weil sie ungelernt sind.

Sowohl das Kreisgericht als auch das Kantonsgericht geben Scotoni Recht. Der Schwarze Engel muss ihm knapp 6000 Franken Lohn nachzahlen.

Ideologische Gräben

Auf zwei Ebenen tun sich in den 2010er-Jahren Gräben auf: zwischenmenschlich und betrieblich. Auf der einen Seite stehen jene, die nicht einverstanden sind mit den unbewiesenen Anschuldigungen und Kündigungen. Diese Seite deckt sich auch in etwa mit dem Teil des Kollektivs, der im Schwarzen Engel vor allem ein antifaschistisches Projekt sieht.

Die andere Gruppe um Ackermann betrachtet hingegen den «Engel» vor allem als alternativen Gastrobetrieb. Die Diskussionen drehen sich damals etwa um die Frage, wer alles im «Engel» willkommen ist (zum Beispiel Uniformierte oder Verbindungen), oder wie explizit politisch sich die Genossenschaftsbeiz positionieren soll.

Im Zuge dieser Diskussionen kommt es 2018 zu einer weiteren höchst umstrittenen Entlassung: Ein Kollege eines Kollektivmitglieds schlägt vor dem «Engel» einem sehr aufsässigen Passanten nach mehrmaliger Aufforderung, ihn nicht weiter zu belästigen, aufs Maul und versteckt sich danach in der Beiz.

Dieses «Asyl» missfällt einigen Kollektivmitgliedern, die das Heu schon länger nicht mehr mit ersterem auf der gleichen Bühne haben, allen voran Ackermann. Sie nutzen die Gelegenheit, ihn hinauszustellen. Doch an der Kollektivsitzung legen einige ihr Veto gegen die Entlassung ein. Ein ungeschriebenes Engel-Gesetz besagt, dass ein Veto ausdiskutiert werden muss, bis Konsens herrscht. Dies ist hier nicht der Fall. Trotz mehrerer Vetos wird er entlassen.

Die Fronten innerhalb des Kollektivs verlaufen zu jener Zeit nicht immer deutlich. Der konfliktscheuere und stille Teil des Kollektivs bildet damals wohl die Mehrheit. Was mithilft, das informelle Machtzentrum rund um die alteingesessenen Kollektivmitglieder zu verfestigen.

Die Gruppendynamik hat sich in eine Richtung entwickelt, in der ein offenes und transparentes Kommunizieren aller mit allen – der wichtigste Pfeiler in gemeinschaftlichen Organisationen – nicht mehr möglich ist. Nach den umstrittenen Kündigungen reagieren einige mit stillem Rückzug innerhalb des Kollektivs, andere kündigen freiwillig.

In den 2010er-Jahren läuft aber längst nicht alles so schlecht, wie man nach diesen Zeilen meinen könnte. Schliesslich war und ist der Schwarze Engel ein Herzensprojekt aller Beteiligten. Dennoch hält sich bei einigen ehemaligen Kollektivmitgliedern hartnäckig der Eindruck, Ackermann habe «manipulativ» auf die Gruppe eingewirkt, um seine persönlichen Interessen durchzusetzen. Auch der Begriff «Mobbing» fällt mehrfach.

6. Wie weiter?

Nach rund zehn Jahren beginnt nun das letzte Kapitel in der Geschichte des Grünen Engels. Seine Liquidation ist beschlossene Sache. Der Schwarze Engel will das allerdings nicht einfach so akzeptieren. An der GV vom 16. Mai dieses Jahres liess er sich durch ein anderes Mitglied der Genossenschaft Grüner Engel vertreten und stimmte als einziger der anwesenden Genossenschafter:innen gegen die Auflösung. Hier ein Teil der Stellungnahme im Wortlaut:

«Als Verwaltung der Genossenschaft Schwarzer Engel sind wir gesetzlich verpflichtet, die finanzielle Aufsicht wahrzunehmen und die Geschäfte der Genossenschaft mit aller Sorgfalt zu führen. In diesem Zusammenhang können wir den Verlust unserer Beteiligung im Nennwert von CHF 10’000 nicht kommentarlos hinnehmen.

Deshalb, und weil aufgrund der vorliegenden Jahresbilanz 2021 begründete Besorgnis einer Überschuldung besteht, lehnen wir die Auflösung der Genossenschaft Grüner Engel ab und fordern stattdessen die Verwaltung des Grünen Engels auf, ihre gesetzlichen Pflichten gemäss OR 903 wahrzunehmen und sofort eine Zwischenbilanz auf Grund der Veräusserungswerte aufzustellen sowie gegebenenfalls den Konkurs zu eröffnen. […]»

Ein Protokoll der Auflösungs-GV hat der Schwarze Engel gemäss Davide Peruzzetto trotz mehrfacher Nachfrage bis Redaktionsschluss nicht erhalten. (Nachtrag Redaktion: Wenige Stunden, nachdem die Saiten-Sommernummer in den Druck geht, wird ein entsprechendes, aber wenig informatives Auflösungsprotokoll nachgereicht.) Auch im Handelsregister ist die Liquidation noch nicht eingetragen.

Interessant ist auch der Zeitpunkt der Auflösungs-GV des Grünen Engels: Sie fand am gleichen Tag statt wie die ausserordentliche GV des Schwarzen Engels – im Restaurant Schwarzer Engel, während der Schwarze Engel in der Grabenhalle tagte. Deshalb konnte auch niemand von der Verwaltung des Schwarzen Engels teilnehmen. Ackermann hat dem Vernehmen nach auch gar nie nachgefragt, ob der Grüne Engel seine GV an jenem Abend im Restaurant Schwarzer Engel abhalten könne.

War die Terminkollision ein Zufall oder bewusst gewählt? Wer zuerst zur GV einlud, lässt sich nicht nachweisen, da das Schreiben des Grünen Engels nur mit «im April 2023» datiert ist und persönlich von Ackermann ans Kollektiv «übergeben» wurde.

Viele Fragen bleiben

Wie es weitergeht, ist derzeit offen. Der Schwarze Engel verlangt vom Grünen Engel, die vergangenen Jahre gemeinsam aufzuarbeiten und die Geldflüsse offenzulegen. Gleichzeitig betont die Verwaltung, nach wie vor an einer gütlichen Lösung interessiert zu sein. Unter gewissen Bedingungen sei auch der Verzicht auf die Rückforderung des Genossenschaftskapitals, die dem Schwarzen Engel im Zuge der Liquidation zusteht, möglich.

Die Chancen, dass der Schwarze Engel seinen Genossenschaftsanteil am Grünen Engel zurückerhält, dürften ohnehin gering sein. Das Geld ist weg.

Es bleiben viele offene Fragen. Warum zog sich Gabriel Ackermann ausgerechnet zu dem Zeitpunkt aus dem Schwarzen Engel zurück, als der Genossenschaft die Finanzen beinahe um die Ohren flogen? Warum hat sich der Grüne Engel überhaupt aufgelöst? War er von Anfang an nur ein Instrument, mit dem sich Ackermann den Traum vom eigenen Selbstversorgerhof erfüllen konnte? Wie viel Geld floss letztlich vom Schwarzen an den Grünen Engel und wofür? Welchen Anteil hat der Grüne Engel am Beinaheabsturz des Schwarzen Engels im vergangenen Herbst?

Saiten hätte gerne mit Ackermann über die vielen offenen Fragen gesprochen. Nach einwöchigem Mailverkehr, während dessen er jeweils erst sehr spät oder gar nicht reagierte, wollte er uns letztlich doch nicht zum Gespräch treffen – auch nicht an jenem Termin, den er zwischenzeitlich selbst vorgeschlagen hatte. Auch andere Exponenten, die sich für beide Engel engagierten oder immer noch engagieren, reagierten nicht oder ablehnend auf unsere Anfragen.

Auch wenn Ackermann über viele Jahre eine Schlüsselperson bei beiden Genossenschaften war, ist er nicht der Alleinschuldige an den Finanzproblemen, mit denen sich der Schwarze Engel – und letztlich auch der Grüne Engel – konfrontiert sahen.

Der Beinahekollaps war ein kollektives Versagen. Die jetzige Verwaltung des Schwarzen Engels ist sich dessen bewusst. Sie distanziert sich von jeglichen Vorverurteilungen und Spekulationen, will stattdessen die Vergangenheit aufarbeiten. Und sie betont, derlei Misswirtschaft nicht mehr zu dulden.

Im Schwarzen Engel herrscht wiedermal Aufbruchstimmung.

3 Kommentare zu Von Engeln und Pleitegeiern

  • Reto Voneschen sagt:

    Besten Dank der SAITEN-Redaktion für den Versuch einer umfassenden Darstellung der Geschichte des Beinahe-Kollapses des Schwarzen Engel. Transparenz gegenüber allen, die sich seit Mitte der 1980er-Jahre für die Genossenschaftsbeiz eingesetzt haben, ist mit Sicherheit auch der beste Weg, eine Wiederholung der Ereignisse in dieser für mich persönlich stossenden Form zu verhindern. Der Schwarze Engel ist Zeit seines Bestehens immer wieder in finanzielle Turbulenzen geraten; das gehört irgendwie zu so einem Projekt dazu, dass ja auch ein Lehrblätz für immer wieder neue junge Leute ist. Allerdings: Die Ursachen für den aktuellen Absturz gehen gemäss SAITEN-Darstellung offenbar massiv über fachlich Fehlleistungen hinaus. Aufklärung ist da ganz sicher wichtig, um in die Struktur der Genossenschaft Schwarzer Engel Mechanismen einzubauen, die eine Wiederholung verhindern. Und bitte: Sollte tatsächlich jemand den Schwarzen Engel aus Eigennutz geschädigt haben und man ihm dies beweisen können, sollte dieser jemand zur Verantwortung gezogen und zur Rückvergütung allfälliger Schäden vergattert werden. Man kann dieses Geld immer noch in andere, auch antifaschistische oder soziale Projekte ausserhalb des Schwarzen Engels investieren.

  • ehemaliges Kollektivmitglied sagt:

    Als ehemaliges Kollektivmitglied bin ich einfach nur fassungslos über diesen Artikel.

    Wie Reto schreibt, finanzielle Turbulenzen gehörten im schwarzen Engel immer wieder dazu. Auch Streitereien im Kollektiv hat es immer wieder gegeben. Ist es jetzt wirklich nötig, diese dermassen öffentlich breitzutreten?

    Im Kollektiv arbeiten, heisst GEMEINSAM die Verantwortung zu übernehmen: für die politische Ausrichtung, für den Beizenbetrieb, für die Kündigungen, für die Finanzen, für die Sauberkeit, für die Stimmung… Das ist nicht immer einfach, Mitdenken und Mitgestalten ist von jedem Kollektivmitglied gefragt. Wer die Verantwortung im Nachhinein jemand anderm in die Schuhe schieben will, hat den Kollektivgedanken nicht verstanden.

    Lieber David Gadze und Roman Hertler, es scheint mir für Saiten einfacher zu sein, mit dem Finger im Schlamm und betriebsinternen Protokollen zu wühlen als respektvoll und faktenbasiert zu berichten.

    Das Manifest, das Saiten sich gegeben hat, besagt: Saiten setzt sich ein für eine nachhaltige, solidarische und konstruktive Welt.
    Ist das euer Beitrag zu einer solidarischen und konstruktiven Welt?

  • Die Bleierne Feder sagt:

    Hallo Saiten

    Mit diesem Artikel hast du den Vogel abgeschossen.
    Selten eine so tendentiöse Berichterstattung gelesen.
    Über weite Strecken aus alternativen Fakten zusammengebastelt.
    Vom Hörensagen.

    Wo ist dein Anspruch auf Qualität ?
    Wieso lässt du dich für diese Schlammschlacht einspannen ?
    Oder bist du die treibende Kraft dahinter ?
    Und wem nützt das alles ?

    Toll, wirklich eine tolle Story, vielen Dank dafür.

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