, 15. September 2023
keine Kommentare

Von der Strasse in die Politik

Bewegungen wie Aufrecht oder Mass-voll haben monatelang gegen die Politik des Bundes demonstriert. Jetzt treten sie selbst bei den National- und Ständeratswahlen an. Darunter sind Verschwörungstheoretiker:innen, Staatsverweigerer – und Rechtsextreme.

Illustrationen: Bastian Riesen

Sie haben während der Coronapandemie gegen Masken, Impfungen und Zertifikate demonstriert, gegen das angeblich totalitäre Handeln des Staates, dessen Eingriffe in die persönliche Freiheit der Bürger:innen und die Missachtung der Menschenrechte gewettert, gegen die Medien und deren vermeintlich einseitige Berichterstattung geschimpft. Bei ihren Auftritten und in den einschlägigen Kanälen verbreiten sie Halbwahrheiten, Falschinformationen und Verschwörungstheorien. Und jetzt, da die Pandemie weit weg ist, wollen sie selbst in die Politik: Die beiden selbsternannten Bürgerrechtsbewegungen Aufrecht und Mass-voll – sie bezeichnen sich explizit nicht als Parteien – treten bei den Nationalratswahlen in mehreren Kantonen an. So auch in der Ostschweiz: In St.Gallen und im Thurgau haben sie ihre Listen eingereicht.

Dass die Systemkritiker:innen nun selber Teil des Systems werden wollen, verkaufen sie gerne als Winkelried-Geschichte: Da die Politik auf allen Ebenen versage und die Grundrechte nicht schütze, bleibe ihnen fast nichts anderes übrig, als selbst zu kandidieren, so das Narrativ.

Wider die eigene Glaubwürdigkeit

Aufrecht Schweiz war allerdings von Anfang an eine Bewegung mit politischem Hintergrund. Sie entstand im Oktober 2021 als Ergebnis einer Arbeitsgruppe für die nationalen Wahlen von diesem Herbst. Das Ziel war, eine Art Dachorganisation für die massnahmenkritischen Gruppen zu bilden, was nur bedingt glückte.

Mass-voll gründete sich im Februar 2020 als Jugendbewegung mit dem Ziel, sämtliche Coronamassnahmen abzuschaffen und «die Jugend zu befreien». Noch im Oktober 2022 betonte Mitgründer und Präsident Nicolas A. Rimoldi an einer Demonstration, Mass-voll «ist und bleibt eine ausserparlamentarische Opposition». Es werde keine Wahllisten geben, er selber werde ebenfalls nicht kandidieren. «Wir können nicht ein System komplett ablehnen, bekämpfen und als illegitim erachten, und nachher selber im Kuchen drin sein und sechsstellig verdienen von den Steuergeldern. Denn Glaubwürdigkeit ist alles.»

Oder doch nicht? Im April gab Rimoldi seine eigene Kandidatur bekannt und verkündete, Mass-voll werde landesweit «ganz viele Listen machen». Bei Redaktionsschluss Mitte August war die Rede von sechs, vielleicht sieben Kantonen. [Am Ende waren es deren zehn.]

Mass-voll-Präsident demonstriert mit Rechtsextremen

Die Parolen von Bürgerrechtsbewegungen wie Mass-voll, Aufrecht, Freunde der Verfassung, Freiheitstrychler oder Aktionsbündnis Urkantone ähneln sich – und jenen der SVP: weniger Staat, weniger Steuern, weniger Zuwanderung, mehr Grundrechte, mehr Selbstbestimmung, mehr Neutralität. Und die Gruppierungen wiederholen mantraartig den Ruf nach Freiheit. Dieser ist ein Überbleibsel aus Zeiten der Coronamassnahmen, als sich deren Gegner:innen in ihrer persönlichen Freiheit beschnitten fühlten. Welche Freiheit sie konkret meinen beziehungsweise inwiefern die Menschen in der Schweiz nicht frei sind, lassen sie meist offen.

Die meisten dieser Bürgerrechtsbewegungen sind politisch am rechten Rand zu verorten. Ihre Exponent:innen sympathisieren öffentlich mit Rechtsextremen, Antisemit:innen oder Verschwörungsideolog:innen. Nicolas A. Rimoldi betonte – wie viele andere auch – zwar mehrfach, «jeglichen Extremismus» zu verurteilen. Die Glaubwürdigkeit dieser Aussage ist jedoch gleich hoch wie bei der Ankündigung, nicht an den Wahlen teilzunehmen: Ende Juli postete Rimoldi auf Twitter (oder X, wie der Dienst neuerdings heisst) «Grüsse aus Wien», darunter ein Selfie mit Martin Sellner, dem Gründer und Anführer der Identitären Bewegung in Österreich und einer der führenden Personen des europäischen Rechtsextremismus.

Nach Wien gereist war Rimoldi, der auch im Vorstand der Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS) sitzt, um mit der Identitären Bewegung und anderen rechtsextremen Gruppierungen – auch die Junge Tat war dabei – für die «Remigration» zu demonstrieren. Dahinter steckt der Verschwörungsmythos des grossen Austauschs, wonach eine mächtige Elite das europäische Volk durch Migrant:innen austauschen wolle. Deshalb fordern sie die Remigration, also deren Abschiebung.

«Angriff globaler Eliten auf Freiheit und Souveränität»

Ein zweiter Post von Rimoldi an jenem Tag lässt tief blicken: «Was haben Corona und Remigration miteinander zu tun? Alles! Der Angriff globaler Eliten auf Freiheit und Souveränität ist multivektorial. Pandemiepakt, Rahmenabkommen, Migrationspakt, Flüchtlingspakt, Klimaabkommen und Rahmenabkommen sind Tasten desselben Instrumentes. Das Ziel ist die Abschaffung all dessen, was uns lieb und teuer ist: Freiheit, Volkssouveränität, Identität, Werte, Sicherheit, Tradition und Kultur.» Auf seiner eigenen Rückreise postete Rimoldi ein Bild aus Braunau am Inn, dem Geburtsort von Adolf Hitler – angeblich ohne zu wissen, was es mit dem Ort auf sich hat.

Aufrecht-Präsident Patrick Jetzer distanzierte sich daraufhin öffentlich von Mass-voll und schloss Listenverbindungen praktisch aus. In Zürich (zusätzlich mit der EDU und den Schweizer Demokraten) und in Bern (ebenfalls mit der EDU und den Schweizer Demokraten sowie mit drei rechten Kleinparteien beziehungsweise Einzelpersonen) kam es trotzdem dazu. Auch Teile der SVP scheint Rimoldis Nähe zu rechtsextremen Kreisen nicht zu stören. Wenige Tage nach seinen Posts ging sie in Solothurn eine Listenverbindung mit Mass-voll ein, in Luzern stand der (wahrscheinliche) Schulterschluss bei Redaktionsschluss Mitte August immer noch zur Diskussion. [Am 25. August gaben die beiden Parteien die Listenverbindung in Luzern bekannt.] Auch die EVP wollte eine Allianz mit Mass-voll in einzelnen Kantonen nicht kategorisch ausschliessen. [Am Ende blieb es jedoch bei den beiden Listenverbindungen mit der SVP. In acht anderen Kantonen, darunter St.Gallen und Thurgau, tritt Mass-voll allein an.]

Nach rechts gebückt statt aufrecht

Aufrecht bewegt sich allerdings ebenfalls munter am rechten Rand. Im August veranstaltete Aufrecht Zürich in Kloten ein «Dinner mit Input», an dem unter anderem Hans-Georg Maassen teilnahm und einen Vortrag hielt unter dem Titel «Wenn in der Politik die Vernunft durch Ideologie und religiösen Wahn ersetzt wird». Der ehemalige Präsident des Deutschen Verfassungsschutzes war 2018 in den Zwangsruhestand versetzt worden, weil er – unter anderem – die Ausschreitungen in Chemnitz, bei denen es anlässlich einer Demonstration von Neonazis und Rechtsextremen zu massiven Angriffen auf Migrant:innen, Passant:innen, Gegendemonstrant:innen, Polizeibeamte und ein jüdisches Restaurant gekommen war, als «frei erfunden» bezeichnet hatte. Im Februar dieses Jahres schloss ihn die CDU aus, seine Partei warf ihm «Sprache aus dem Milieu der Antisemiten und Verschwörungsideologen bis hin zu völkischen Ausdrucksweisen» vor; ein CDU-Kreisparteigericht hob den Ausschluss allerdings im Juli auf.

Ebenfalls dabei als Redner am «Dinner mit Input»: Ernst Wolff, ein deutscher Autor und selbsternannter Finanzexperte, der hinter Corona einen «finanzfaschistischen Coup» der Weltgesundheitsorganisation WHO vermutet. Seine Beiträge und Vorträge werden von Fachleuten als verschwörungsideologisch und antisemitisch eingestuft. Patrick Jetzer postete auf seinem Facebook-Profil Bilder von sich und den beiden Rednern.

Die Gruppierungen sind zerstritten

Aufrecht sei eine sehr heterogene Gruppe, sagt Patrick Emmenegger, Professor für Politikwissenschaft an der Universität St.Gallen. Sie könne grob in drei Lager unterteilt werden: ein staatskritisches Lager, das sich schon vor Corona staatlichen Eingriffen verweigert habe, etwa bei der Bildung oder betreffend Regulierungen in der Wirtschaft; ein alternativ-esoterisches Lager, das ebenfalls schon vor Corona etwa gegen Mobilfunkstrahlung gekämpft oder die klassische Medizin und Impfungen abgelehnt habe; und ein drittes Lager, dem hauptsächlich Menschen angehören, die aufgrund der massiven Einschnitte in ihrem Privatleben während der Coronapandemie «verloren gegangen» seien. Diese ausserordentliche Situation sei die Klammer, die diese drei Lager zusammenhalte. Indem Corona immer mehr in die Ferne rücke, falle auch die Klammer weg – und die Gruppierung breche wohl mehr und mehr auseinander.

Das zeigt sich auch in der politischen Realität: Die Szene ist keinesfalls geeint, zwischen den und innerhalb der Gruppierungen kracht es regelmässig. Bei Aufrecht Zürich legten vor wenigen Monaten mehrere Exponenten ihre Ämter nieder, Jetzer wurde ein autoritärer Führungsstil vorgeworfen. Die Freunde der Verfassung lösten sich aufgrund interner Streitigkeiten beinahe auf. Bei Mass-voll kam es schon Ende 2021 infolge interner Spannungen zu einer Aufspaltung: Die damalige Co-Präsidentin Viola Rossi gründete die neue Bewegung Taraxxa, die sich von jeglicher politischen Einmischung fernhalten will. Die Radikalisierung von Rimoldi, dem ehemaligen Jungfreisinnigen, der sich mit der FDP überworfen hatte und aus der Partei geworfen wurde, soll dabei auch eine Rolle gespielt haben.

Nicht Teil des Niedergangs sein

Die Gruppierungen gehen sich auch gegenseitig an die Gurgel: Aufrecht warf Mass-voll vor, im Abstimmungskampf um das dritte Covid-Gesetz versagt zu haben. Und Jetzer beklagte sich Ende Juni in einem Facebook-Post darüber, dass die Medien zu wenig über Aufrecht berichteten und stattdessen «Selbstdarsteller und Satiriker, welche sich kurzentschlossen für das Thema Wahlen interessieren», präsentierten. Namen nannte er keine, meinte damit aber wohl in erster Linie Rimoldi und Daniel Stricker.

Der Thurgauer Stricker wurde mit seinem nach Ausbruch der Pandemie ins Leben gerufenen YouTube-Kanal «Stricker TV», der 24’000 Abpnnent:innen hat, zum wohl bekanntesten Massnahmengegner der Schweiz und inszeniert sich jeweils ziemlich schrill. Zu einer Gerichtsverhandlung erschien er im Indianerkostüm. Und kürzlich gründete er die Freiheitspartei, mit der er unter dem Slogan «Make die Schweiz Winnetou again» für den Nationalrat kandidieren wollte.

Wenige Tage nach Jetzers Kritik gab er jedoch bekannt, auf die Kandidatur zu verzichten, weil Aufrecht eine Listenverbindung ablehne und er nicht Teil des Niedergangs der Bewegung werden wolle.

Provokation um der Provokation willen

Im Kanton St.Gallen tritt Aufrecht mit Patrick Jetzer, Mitgründer und Präsident von Aufrecht Schweiz, dem Journalisten Stefan Millius und dem schweizweit wohl bekanntesten Impfgegner Daniel Trappitsch sowie mit Ramon Rüegg, Dominic Fröhlich und Marianne Knüsli an. Trappitsch ist auch Präsident des Netzwerks Impfentscheid, einer Gruppierung, die sich seit rund zehn Jahren gegen Impfungen aller Art einsetzt. Der Naturheilpraktiker kandidierte schon 2015 für Parteifrei SG erfolglos für den Nationalrat und sorgte 2021 für Schlagzeilen, als er sich weigerte, Krankenkassenprämien und Steuern zu bezahlen. Im vergangenen Jahr blieb er bei der Wahl als Stadtpräsident von Buchs chancenlos. Jetzer kandidiert zudem auch für den Ständerat.

Neben Jetzer, der im März 2022 in Dübendorf den Sprung ins Gemeindeparlament  geschafft hatte und kürzlich in den Kanton St.Gallen gezogen ist, ist Millius das Zugpferd von Aufrecht. Sein Wahlslogan: «Wir holen uns die Schweiz zurück!» Seit dem Ausbruch der Coronapandemie inszeniert sich der ehemalige Chefredaktor von «Die Ostschweiz» am liebsten als Brandstifter, der munter Öl ins Feuer giesst, selbst wenn die Feuerwehr schon am Löschen ist – wobei er ihr noch sagt, wie sie zu löschen hat. Egal, worüber er schreibt, in seinen Texten teilt er rundherum aus, weiss immer alles besser, wittert Verschwörungen und konstruiert Zusammenhänge, wo keine sind, und überschreitet gerne auch mal die Grenze des guten Geschmacks. Selbst wenn seine Kritik einmal berechtigt sein mag, schiesst er am Ende übers Ziel hinaus. Provokation um der Provokation willen.

Im Thurgau stehen Sektionspräsident Robin Spiri, einst ein strammer Jung-SVPler, der Kreuzlinger Gemeinderat Georg Philipp Schulthess, den die SVP rausgeworfen hatte, weil er an einer Gemeinderatssitzung statt einer Hygienemaske eine Guy-Fawkes-Maske trug, sowie drei weitere Personen auf der Liste.

Mass-voll-Kandidat forderte «moslemfreie Fluglinien»

Barbara Müller, die von der SP aus der Partei geworfen wurde und nun als parteilose im Thurgauer Kantonsrat sitzt, kündigte Anfang Jahr noch an, bei den Wahlen für Aufrecht anzutreten. Inzwischen hat sie sich Mass-voll angeschlossen und ist deren Spitzenkandidatin. [Ausserdem stehen auf der Mass-voll-Liste im Thurgau Marion Fuss, Markus Gross sowie Giovanni Noto und seine Ehefrau Jacqueline und deren Sohn Massimo.

In St.Gallen steigen für Mass-voll Manuel Cadonau, Ivan Hohl und Jastine Deiss ins Rennen. Cadonau war bis vor wenigen Jahren SVP-Mitglied und kandidierte 2011 für den Kantonsrat sowie 2012 für das Wiler Stadtparlament, beide Male erfolglos. In der Vergangenheit fiel er vor allem durch geschmacklose Twitter-Posts auf. So schrieb er 2015 nach dem Attentat auf «Charlie Hebdo»: «Wer möchte noch in überfüllten Passagiermaschinen mit Muslimen fliegen? Nicht jeder Moslem ist ein potenzieller Attentäter – aber jeder könnte einer sein. Wann kommen moslemfreie Fluglinien.» Später sprach er von einem Missverständnis, der Post sei satirisch gemeint gewesen.

Ob auch folgender Post von 2014 satirisch gemeint war? «Nüchtern betrachtet: Feministinnen sind Frauen, die zu faul zum Arbeiten und zu hässlich zum Anschaffen sind.» Cadonau sympathisierte offen mit Pegida und schrieb, das Problem mit Ausländern sei, «dass sie ihre Kultur mitbringen, die bei ihnen Zuhause zu den Zuständen geführt hat, vor denen sie geflohen sind».]

Die Suche nach Partnern

Für die Nationalratswahlen ist Aufrecht im Thurgau eine Listenverbindung mit der EDU eingegangen, die bei den letzten Wahlen mit der SVP und der FDP zusammenspannte. Die EVP schliesst sich wie damals mit der Mitte und neu mit der FDP zusammen. In St.Gallen stand Aufrecht bei Redaktionsschluss lediglich mit Parteifrei SG als Partnerin da. [Später wurde bekannt, dass sich auch die Schweizer Demokraten dieser Allianz anschliessen.] Deren Kandidatin Luzia Osterwalder organisierte während der Pandemie in St.Gallen mehrere Corona-Kongresse mit äusserst fragwürdigen Referenten und verbreitete abstruse Verschwörungstheorien zu Corona. Parteifrei SG steigt ausserdem mit dem Flawiler Stefan Hubschmid in den Ständeratswahlkampf. Die EDU teilt auf Anfrage mit, eine Listenverbindung mit Aufrecht geprüft zu haben, sich aber erneut mit der SVP zusammenzuschliessen. Und die EVP hat wie 2019 eine Listenverbindung mit der Mitte.

[Wie erwähnt, tritt Mass-voll in den Kantonen St.Gallen und Thurgau ohne Listenverbindung an.] Da Mass-voll in der Ostschweiz politisch weitgehend isoliert ist, dürfte die Gruppierung bei den Nationalratswahlen chancenlos bleiben. Im Kanton Zürich, der die meisten Nationalrät:innen stellt und wo rund 3 Prozent reichen, um in die grosse Kammer einzuziehen, ist dank der Listenverbindung mit Aufrecht, EDU und Schweizer Demokraten und Nicolas Rimoldi als Spitzenkandidat der Gewinn von einem oder zwei Sitzen jedoch durchaus realistisch. Auch im Kanton Bern scheint ein Sitzgewinn für Aufrecht oder Mass-voll möglich.

Die Ostschweizer Sitze sind weit entfernt

Und was ist Aufrecht in der Ostschweiz zuzutrauen? Bei den Zürcher Kantonsratswahlen im Februar holte Aufrecht (zusammen mit der Freien Liste) mit Spitzenkandidat Jetzer 2,2 Prozent der Stimmen. Damit verfehlte die Gruppierung zwar den Einzug ins Parlament, verzeichnete aber einen so grossen Stimmenzuwachs wie keine andere Partei.

HSG-Politologe Patrick Emmenegger räumt Aufrecht dennoch praktisch keine Chance auf einen Sitz ein, weder in St.Gallen noch im Thurgau. «Viel mehr als 2 Prozent Stimmenanteil werden sie wohl nicht erreichen.» Das reiche selbst mit den EDU-Stimmen im Thurgau (2019: 2,8 Prozent) und den Parteifrei-Stimmen in St.Gallen (0,8 Prozent) bei weitem nicht für einen Sitz im Nationalrat. In St.Gallen (zwölf Sitze) brauche es dafür – je nach Listenverbindungen – einen Stimmenanteil zwischen 7 und 8 Prozent, im Thurgau (sechs Sitze) noch mehr. Bei den Wahlen 2019 habe die FDP im Thurgau 11,5 Prozent der Stimmen geholt, fast einen Prozentpunkt mehr als die Grünen, habe den Sitz aufgrund der Listenverbindungen aber trotzdem an diese verloren.

Bei Aufrecht ist man dennoch zuversichtlich: Der Thurgauer Sektionspräsident und Nationalratskandidat Robin Spiri sprach vor einem Jahr in der «Thurgauer Zeitung» von einem «Sturm auf die Politik» und meinte, Aufrecht Thurgau könne «acht bis zwölf Prozent Wähleranteil» erreichen, mit einer Listenverbindung liege ein Nationalratssitz drin. Emmenegger hält dies für nahezu ausgeschlossen: «Das wäre schlicht eine Sensation.»

Die SVP kämpft um ihre Wähler:innen

Vielmehr könnte die SVP im Thurgau, sollte sie wie 2019 Stimmanteile einbüssen, durch das Fehlen der EDU als Steigbügelhalterin einen ihrer drei Sitze verlieren. «Die neue Ausrichtung der EDU stellt die SVP vor eine neue Herausforderung», schrieb der Thurgauer SVP-Kantonalpräsident Ruedi Zbinden an die Mitglieder. Die Verteidigung der drei Sitze erfordere «einen ausserordentlichen Einsatz». Es wäre die Ironie der Wahlgeschichte, wenn sich das rechtskonservative Lager selber schwächen würde.

Dass sich die SVP herausgefordert fühlt – sowohl im Thurgau, wo ein Sitzverlust droht, als auch in St.Gallen, wo allenfalls ein fünfter Sitz möglich wäre – dürfte die ohnehin fast aussichtslose Mission für Aufrecht zusätzlich erschweren. Die SVP habe in den vergangenen Jahrzehnten sehr erfolgreich alle Splittergruppen am rechten Rand aufgesogen. «Sie wird nicht passiv hinnehmen, dass ihr Aufrecht Stimmen wegnimmt, sondern ihre Wählerschaft daran erinnern, worum es geht. Und viele werden ohnehin lieber das Original wählen.»

Die Sympathisant:innen von Aufrecht seien wohl so heterogen wie die Gruppierung selbst, sagt Emmenegger. Da sich die meisten Kandidat:innen jedoch am rechten Rand bewegten, seien sie für viele massnahmen- oder staatskritische links-grüne Wähler:innen nicht wählbar. Mit allzu vielen Stimmen von bisherigen Nichtwähler:innen oder Politikverdrossenen könne Aufrecht auch nicht rechnen. Der Grossteil der Wähler:innen gehe jedes Mal an die Urne und die meisten hätten eine ziemlich klare Parteiorientierung.

Randfiguren ohne Einfluss im Parlament

Selbst wenn Aufrecht ein Sitzgewinn gelingen sollte, was der Gruppierung kurzfristig zweifelsohne Aufschwung bescheren würde, hätte dies auf politischer Ebene kaum Bedeutung. «Ein Vertreter oder eine Vertreterin von Aufrecht wäre im Nationalrat eine Randfigur ohne jeglichen Einfluss», sagt Emmenegger. Politik werde in Fraktionen gemacht, dafür brauche es Grösse. Vielleicht fände der oder die Gewählte Unterschlupf bei der SVP, viel bewirken könnte er oder sie dennoch nicht. Sollten die Bürgerrechtsbewegungen jedoch keinen Sitz holen und sollte es in den nächsten Jahren nicht zu einer weiteren Pandemie mit Massnahmen kommen, geht Emmenegger davon aus, dass die Gruppierungen bei den nächsten Wahlen in vier Jahren bereits Geschichte sein werden.

Er habe ohnehin nicht den Wunsch, in die Politik zu gehen, sondern sehe es «als Höchststrafe, wenn ich nach Bern gehen müsste», sagte Stefan Millius kürzlich in einem Talk. Ob eine Wahl für ihn selbst die Höchststrafe wäre oder für die Schweizer Politik, sei dahingestellt. Am besten tun wir ihm den Gefallen und wählen einfach andere.

Dies ist eine aktualisierte Fassung des Artikels im Septemberheft. Die Neuerungen sind kursiv und in eckigen Klammern eingefügt.

 

Die Recherche zum Titelthema im Septemberheft wurde vom Saiten-Recherchefonds mitfinanziert. Die Redaktion hat sich dafür Verstärkung von LOTTA MAIER geholt. Ihren bürgerlichen Namen gibt sie aus Sicherheitsgründen nicht preis. Lotta recherchiert seit Jahren zu den Themen Rechtsextremismus, Esoterik und Staatsverweigerung. Sie war Teil des Recherche-Kollektivs Die Betonmaler*innen. X (früher Twitter): @maier_lotta

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Impressum

Herausgeber:

 

Verein Saiten
Gutenbergstrasse 2
Postfach 2246
9001 St. Gallen

 

Telefon: +41 71 222 30 66

 

Hindernisfreier Zugang via St.Leonhardstrasse 40

 

Der Verein Saiten ist Mitglied des Verbands Medien mit Zukunft.

Redaktion

Corinne Riedener, David Gadze, Roman Hertler

redaktion@saiten.ch

 

Verlag/Anzeigen

Marc Jenny, Philip Stuber

verlag@saiten.ch

 

Anzeigentarife

siehe Mediadaten

 

Sekretariat

Isabella Zotti

sekretariat@saiten.ch

 

Kalender

Michael Felix Grieder

kalender@saiten.ch

 

Gestaltung

Data-Orbit (Nayla Baumgartner, Fabio Menet, Louis Vaucher),
Michel Egger
grafik@saiten.ch

 

Saiten unterstützen

 

Saiten steht seit 30 Jahren für kritischen und unabhängigen Journalismus – unterstütze uns dabei.

 

Spenden auf das Postkonto IBAN:

CH87 0900 0000 9016 8856 1

 

Herzlichen Dank!