Auf- und Abschwung einer Zukunftsstadt

Weltpremiere eines Ostschweizers an den 60. Solothurner Filmtagen: In Asphalte public erzählt der in Biel lebende St.Galler Jan Buchholz wie in seiner Wahlheimat auf 5082 Quadratmetern Asphalt zwei Welten aufeinander prallen. Ein reines Vergnügen.

Jan Buchholz mit Plakat auf Asphalt. (Bild: Geri Krebs)

Ar­chi­tek­tur­gu­ru Be­ne­dict Lo­de­rer ist be­geis­tert: Das hier sei die ein­zi­ge ita­lie­ni­sche Piaz­za der Schweiz, schwärmt er zum Auf­takt von Asphal­te pu­blic. Am ei­nen En­de das Müns­ter mit Haupt­ge­bäu­de und Cam­pa­ni­le und am an­de­ren En­de das Bap­tis­te­ri­um. Und gleich­zei­tig ha­be hier die Schweiz den Weg vom 19. ins 20. Jahr­hun­dert ge­fun­den. Was das Herz von Herrn Lo­de­rer so hoch schla­gen lässt, ist ei­ner­seits das 1966 er­öff­ne­te Bie­ler Kon­gress­haus. Sei­ne Glas­fas­sa­de und das ge­schwun­ge­ne Dach ra­gen samt ne­ben­ste­hen­dem Ver­wal­tungs­hoch­haus hin­ter dem «Es­pla­na­de» ge­nann­ten Platz in den Him­mel.

Was an­de­rer­seits die Tauf­ka­pel­le, das Bap­tis­te­ri­um, be­trifft, so ist die al­ler­dings so we­nig sa­kral wie das Müns­ter. Denn hier han­delt es sich um nichts an­de­res als um den bunt be­mal­ten, über und über mit Graf­fi­ti ver­zier­ten Gas­kes­sel. Ge­nau­er ge­sagt ist es des­sen Kup­pel (frz.: la cou­po­le; bern­deutsch: dr Ch­es­su), ein Über­rest des al­ten städ­ti­schen Gas­werks. Des­sen Spren­gung kann man in ei­ner der zahl­rei­chen Ar­chiv­auf­nah­men in Asphal­te pu­blic be­wun­dern. Seit 1968, ein Jahr nach der Spren­gung des Gas­werks, funk­tio­niert das mit Be­ton­plat­ten aus­ge­klei­de­te Me­tall­ge­rip­pe der Gas­kes­sel-Kup­pel als Biels Au­to­no­mes Ju­gend­zen­trum, das äl­tes­te der Schweiz – und ei­nes der ein­zi­gen noch exis­tie­ren­den.

«Ss­schchrrr…»: Kul­tur- statt Wirt­schafts­boom

Die bei­den Wahr­zei­chen sind Zeu­gen ei­ner Epo­che, als die da­ma­li­ge Uh­ren­me­tro­po­le Biel glaub­te, Zu­kunfts­stadt der Schweiz zu sein. In je­nen Jah­ren der Hoch­kon­junk­tur streb­te die Bi­lin­gue-Me­tro­po­le ei­ne Be­völ­ke­rungs­zahl von 100 000 an. Das Kon­gress­haus war der Leit­bau die­ser Eu­pho­rie, wie es Ben­de­dict Lo­de­rer for­mu­liert. Doch schon 1972 war der Boom zu En­de, es schloss bei­spiels­wei­se die Nie­der­las­sung von Ge­ne­ral Mo­tors, ne­ben der Uh­ren­in­dus­trie Biels gröss­ter Ar­beit­ge­ber, 450 Ar­bei­ter stan­den auf der Stras­se. Ins­ge­samt ha­gel­te es von 1973 bis 1977 in Biel nur so von Be­triebs­schlies­sun­gen. Und von den 1980er- bis En­de der 1990er-Jah­re ver­lor Biel als Fol­ge da­von ein Fünf­tel sei­ner Be­völ­ke­rung.

Wie ver­un­si­chert da­mals Biels dra­ma­ti­sche Si­tua­ti­on me­di­al wahr­ge­nom­men wur­de, zei­gen ein­drück­lich die Ti­tel ei­ni­ger der zahl­rei­chen Ar­chiv­auf­nah­men aus Be­stän­den des Schwei­zer Fern­se­hens. So hiess et­wa im Sep­tem­ber 1975 ei­ne Sen­dung des «CH Ma­ga­zin»: Biel in der Re­zes­si­on. Und nur zwei­ein­halb Jah­re spä­ter, im März 1978, ei­ne Re­por­ta­ge des Ma­ga­zins «Blick­punkt»: Auf­schwung Biel. Wie sehr hier Wunsch­den­ken im Zen­trum stand, zeigt ein – im Film eben­falls er­wähn­ter – Blick auf die ak­tu­el­le Be­völ­ke­rungs­zahl: Erst heu­te ist sie wie­der et­wa gleich hoch wie in den 1970er Jah­ren.

Auf der an­de­ren Sei­te ent­wi­ckel­te sich im Biel je­ner Jah­re des ra­san­ten öko­no­mi­schen Nie­der­gangs in und um die Cou­po­le ei­ne blü­hen­de Sub­kul­tur von Hip Hop, Break­dance, Beat­bo­xer:in­nen und Graf­fi­ti­künst­ler:in­nen. Ei­ne mar­kan­te und bis heu­te ak­ti­ve Fi­gur die­ser Sze­ne ist et­wa der Ni­no G, den man im Film ein­mal sieht, wie er stolz ei­ne 1993 er­schie­ne­ne LP von Doug E Fresh prä­sen­tiert, ei­nes sei­ner da­ma­li­gen Ido­le. Vir­tu­os imi­tiert er vor der Ka­me­ra des­sen ar­chai­sche Brumm-, Klack- und Schnalz­lau­te: «Cou­po­le, Es­pla­na­de, Pa­lais de con­grès, ss­schchrrr...»

Und RosyO­ne, ei­ne Graf­fi­ti­künst­le­rin, die noch heu­te in der Be­triebs­grup­pe der Cou­po­le ak­tiv ist, schwärmt von ei­nem in­ter­na­tio­na­len Gross­an­lass, «Hip-Hop Rea­li­ty» vom Ju­li 1991, als wäh­rend ei­nes Wo­chen­en­des die gan­ze Es­pla­na­de samt Cou­po­le und zu­sätz­lich da­zu auch das Kon­gress­haus Schau­platz von Kon­zer­ten, Graf­fi­ti Aus­stel­lun­gen und Break­dance war. Wie­der­holt prä­sen­tiert der Film Ar­chiv­auf­nah­men der­ar­ti­ger und ähn­li­cher Acts.

Film mit ko­mi­schen Qua­li­tä­ten

Über­haupt ist Asphalt pu­blic ein Film, der ne­ben Ar­chi­tek­tur, Stadt­ent­wick­lung und So­zi­al­ge­schich­te auch der Mu­sik un­ter­schied­lichs­ter Stil­rich­tun­gen viel Platz ein­räumt. Ein­ge­rahmt von Kon­zer­ten des «Thea­ter Or­ches­ter Biel So­lo­thurn» im Kon­gress­haus am An­fang und am En­de des Film, zeigt Jan Buch­holz jen­seits von Kon­zer­ten aus Klas­sik, Hip-Hop oder Rock auch ei­nen ganz an­de­ren mu­si­ka­li­schen Be­reich: den der Stras­sen­mu­si­ker:in­nen. Hier er­reicht Jan Buch­holz – der ja be­reits 2007, da­mals noch als Au­to­di­dakt, sich mit dem Do­ku­men­tar­film Auf- und Ab­bruch in St.Gül­len kri­tisch mit Stadt­ent­wick­lung aus­ein­an­der­setz­te – in sei­nem neu­en Film durch­aus ko­mi­sche Qua­li­tä­ten.

Seit ei­ni­gen Jah­ren ist Biel näm­lich die ein­zi­ge Stadt der Schweiz, wo Stras­sen­mu­si­ker:in­nen für ih­re Be­wil­li­gung auf ei­ner Dienstel­le der Stadt­ver­wal­tung vor­spre­chen und da­bei auch die Be­herr­schung ih­res je­wei­li­gen In­stru­ments de­mons­trie­ren müs­sen. So sieht man denn im Film ne­ben ei­nem Gi­tar­re-Ge­sangs­duo und ei­nem Du­del­sack­spie­ler auch ei­nen Alp­horn­blä­ser. Der setzt im Gang vor dem Bü­ro des zu­stän­di­gen jun­gen Be­am­ten sto­isch sein rie­si­ges In­stru­ment zu­sam­men, um dar­auf­hin ei­ne Kost­pro­be sei­nes Kön­nens zu lie­fern. Und wird, wie die an­de­ren Mu­si­ker, für be­wil­li­gungs­wür­dig be­fun­den. «Das ist halt hier wie bei Deutsch­land sucht den Su­per­star», kom­men­tiert tro­cken der jun­ge Be­am­te die exo­tisch an­mu­ten­de Pra­xis. La­chend er­zählt Jan Buch­holz, wie pro­blem­los bei den Dreh­ar­bei­ten die Zu­sam­men­ar­beit mit die­ser Be­hör­de ge­we­sen sei. «Für die Ge­schich­te mit dem Alp­horn­blä­ser rief uns der zu­stän­di­ge Be­am­te so­gar an: Da kom­me ei­ner, der viel­leicht für das Film­pro­jekt in­ter­es­sant sei.»

We­ni­ger po­si­tiv wa­ren die Er­fah­run­gen des Re­gis­seurs mit den Bau­her­ren ei­ner rie­si­gen Über­bau­ung mit ge­sichts­lo­sen Wohn­blö­cken am Rand der Es­pla­na­de. Die Stadt brau­che drin­gend gu­te Steu­er­zah­ler:in­nen, recht­fer­tigt Biels ehe­ma­li­ge Fi­nanz­di­rek­to­rin den Ver­kauf des städ­ti­schen Lan­des an ei­ne aus­wär­ti­ge In­ves­to­ren­grup­pe.

Im Ver­lauf des Films, des­sen Dreh­ar­bei­ten sich über den lan­gen Zeit­raum von De­zem­ber 2020 bis März 2024 er­streck­ten, sieht man, wie der Bau der öden Wohn­blö­cke dem letz­ten Grün in der Um­ge­bung der Es­pla­na­de den Gar­aus macht. Ger­ne hät­te Jan Buch­holz für den Film auch ein Ge­spräch mit den Bau­her­ren ge­führt. «Doch zu­erst ver­scho­ben sie den In­ter­view­ter­min, dann ver­lang­ten sie al­le Fra­gen vor­ab schrift­lich, sag­ten schliess­lich ei­nem neu­en Ter­min zu – um ihn dann am Vor­tag des zu­ge­si­cher­ten Da­tums oh­ne Er­klä­rung ab­zu­sa­gen.»

Asphal­te pu­blic wird im Lau­fe die­ses Jah­res auch in die Ki­nos kom­men, ein ge­nau­es Da­tum ist aber noch nicht be­kannt.