Architekturguru Benedict Loderer ist begeistert: Das hier sei die einzige italienische Piazza der Schweiz, schwärmt er zum Auftakt von Asphalte public. Am einen Ende das Münster mit Hauptgebäude und Campanile und am anderen Ende das Baptisterium. Und gleichzeitig habe hier die Schweiz den Weg vom 19. ins 20. Jahrhundert gefunden. Was das Herz von Herrn Loderer so hoch schlagen lässt, ist einerseits das 1966 eröffnete Bieler Kongresshaus. Seine Glasfassade und das geschwungene Dach ragen samt nebenstehendem Verwaltungshochhaus hinter dem «Esplanade» genannten Platz in den Himmel.
Was andererseits die Taufkapelle, das Baptisterium, betrifft, so ist die allerdings so wenig sakral wie das Münster. Denn hier handelt es sich um nichts anderes als um den bunt bemalten, über und über mit Graffiti verzierten Gaskessel. Genauer gesagt ist es dessen Kuppel (frz.: la coupole; berndeutsch: dr Chessu), ein Überrest des alten städtischen Gaswerks. Dessen Sprengung kann man in einer der zahlreichen Archivaufnahmen in Asphalte public bewundern. Seit 1968, ein Jahr nach der Sprengung des Gaswerks, funktioniert das mit Betonplatten ausgekleidete Metallgerippe der Gaskessel-Kuppel als Biels Autonomes Jugendzentrum, das älteste der Schweiz – und eines der einzigen noch existierenden.
«Ssschchrrr…»: Kultur- statt Wirtschaftsboom
Die beiden Wahrzeichen sind Zeugen einer Epoche, als die damalige Uhrenmetropole Biel glaubte, Zukunftsstadt der Schweiz zu sein. In jenen Jahren der Hochkonjunktur strebte die Bilingue-Metropole eine Bevölkerungszahl von 100 000 an. Das Kongresshaus war der Leitbau dieser Euphorie, wie es Bendedict Loderer formuliert. Doch schon 1972 war der Boom zu Ende, es schloss beispielsweise die Niederlassung von General Motors, neben der Uhrenindustrie Biels grösster Arbeitgeber, 450 Arbeiter standen auf der Strasse. Insgesamt hagelte es von 1973 bis 1977 in Biel nur so von Betriebsschliessungen. Und von den 1980er- bis Ende der 1990er-Jahre verlor Biel als Folge davon ein Fünftel seiner Bevölkerung.
Wie verunsichert damals Biels dramatische Situation medial wahrgenommen wurde, zeigen eindrücklich die Titel einiger der zahlreichen Archivaufnahmen aus Beständen des Schweizer Fernsehens. So hiess etwa im September 1975 eine Sendung des «CH Magazin»: Biel in der Rezession. Und nur zweieinhalb Jahre später, im März 1978, eine Reportage des Magazins «Blickpunkt»: Aufschwung Biel. Wie sehr hier Wunschdenken im Zentrum stand, zeigt ein – im Film ebenfalls erwähnter – Blick auf die aktuelle Bevölkerungszahl: Erst heute ist sie wieder etwa gleich hoch wie in den 1970er Jahren.
Auf der anderen Seite entwickelte sich im Biel jener Jahre des rasanten ökonomischen Niedergangs in und um die Coupole eine blühende Subkultur von Hip Hop, Breakdance, Beatboxer:innen und Graffitikünstler:innen. Eine markante und bis heute aktive Figur dieser Szene ist etwa der Nino G, den man im Film einmal sieht, wie er stolz eine 1993 erschienene LP von Doug E Fresh präsentiert, eines seiner damaligen Idole. Virtuos imitiert er vor der Kamera dessen archaische Brumm-, Klack- und Schnalzlaute: «Coupole, Esplanade, Palais de congrès, ssschchrrr...»
Und RosyOne, eine Graffitikünstlerin, die noch heute in der Betriebsgruppe der Coupole aktiv ist, schwärmt von einem internationalen Grossanlass, «Hip-Hop Reality» vom Juli 1991, als während eines Wochenendes die ganze Esplanade samt Coupole und zusätzlich dazu auch das Kongresshaus Schauplatz von Konzerten, Graffiti Ausstellungen und Breakdance war. Wiederholt präsentiert der Film Archivaufnahmen derartiger und ähnlicher Acts.
Film mit komischen Qualitäten
Überhaupt ist Asphalt public ein Film, der neben Architektur, Stadtentwicklung und Sozialgeschichte auch der Musik unterschiedlichster Stilrichtungen viel Platz einräumt. Eingerahmt von Konzerten des «Theater Orchester Biel Solothurn» im Kongresshaus am Anfang und am Ende des Film, zeigt Jan Buchholz jenseits von Konzerten aus Klassik, Hip-Hop oder Rock auch einen ganz anderen musikalischen Bereich: den der Strassenmusiker:innen. Hier erreicht Jan Buchholz – der ja bereits 2007, damals noch als Autodidakt, sich mit dem Dokumentarfilm Auf- und Abbruch in St.Güllen kritisch mit Stadtentwicklung auseinandersetzte – in seinem neuen Film durchaus komische Qualitäten.
Seit einigen Jahren ist Biel nämlich die einzige Stadt der Schweiz, wo Strassenmusiker:innen für ihre Bewilligung auf einer Dienstelle der Stadtverwaltung vorsprechen und dabei auch die Beherrschung ihres jeweiligen Instruments demonstrieren müssen. So sieht man denn im Film neben einem Gitarre-Gesangsduo und einem Dudelsackspieler auch einen Alphornbläser. Der setzt im Gang vor dem Büro des zuständigen jungen Beamten stoisch sein riesiges Instrument zusammen, um daraufhin eine Kostprobe seines Könnens zu liefern. Und wird, wie die anderen Musiker, für bewilligungswürdig befunden. «Das ist halt hier wie bei Deutschland sucht den Superstar», kommentiert trocken der junge Beamte die exotisch anmutende Praxis. Lachend erzählt Jan Buchholz, wie problemlos bei den Dreharbeiten die Zusammenarbeit mit dieser Behörde gewesen sei. «Für die Geschichte mit dem Alphornbläser rief uns der zuständige Beamte sogar an: Da komme einer, der vielleicht für das Filmprojekt interessant sei.»
Weniger positiv waren die Erfahrungen des Regisseurs mit den Bauherren einer riesigen Überbauung mit gesichtslosen Wohnblöcken am Rand der Esplanade. Die Stadt brauche dringend gute Steuerzahler:innen, rechtfertigt Biels ehemalige Finanzdirektorin den Verkauf des städtischen Landes an eine auswärtige Investorengruppe.
Im Verlauf des Films, dessen Dreharbeiten sich über den langen Zeitraum von Dezember 2020 bis März 2024 erstreckten, sieht man, wie der Bau der öden Wohnblöcke dem letzten Grün in der Umgebung der Esplanade den Garaus macht. Gerne hätte Jan Buchholz für den Film auch ein Gespräch mit den Bauherren geführt. «Doch zuerst verschoben sie den Interviewtermin, dann verlangten sie alle Fragen vorab schriftlich, sagten schliesslich einem neuen Termin zu – um ihn dann am Vortag des zugesicherten Datums ohne Erklärung abzusagen.»
Asphalte public wird im Laufe dieses Jahres auch in die Kinos kommen, ein genaues Datum ist aber noch nicht bekannt.