Volksstück für die Generation MeToo

Das Theater St.Gallen spielt im November und Dezember, als Wiederaufnahme vom Sommer, Ödön von Horváths kritisches Volksstück «Geschichten aus dem Wiener Wald». Regisseurin Barbara-David Brüesch macht klar: Das ist, obwohl aus dem Jahr 1931, Stoff für heute.
Von  Peter Surber
Marianne (Anna Blumer) und ihr Halodri Alfred (Fabian Müller). (Bilder: Toni Suter)

«Der Herr Bräutigam in spe können sich gratulieren.» So liest sich das, im gestelzten k.u.k.-Tonfall des alten Rittmeisters, in Horváths Stücktext. Marianne, die künftige Braut, ist da grad weg, um in der Wohnung oben nach dem vermissten Sockenhalter des Zauberkönigs, ihres Vaters zu suchen. Unten auf der Gasse tauschen Rittmeister, Zauberkönig und der «Bräutigam in spe», Fleischermeister Oskar, ihre Floskeln aus.

Und so sieht das aus, in der St.Galler Inszenierung: Marianne ist nicht weg, sondern kriecht suchend auf dem Boden, richtet sich dann in Zeitlupe zu einem grotesken Kopfstand auf, die roten Schuhe in der Luft, den Hintern den drei Herren zugekehrt, diese erstarren in einem ebenso grotesken Balztanz, und die «Gratulation» des Rittmeisters scheppert aufs Mal bösartig anzüglich und so verstimmt, wie die «Schöne blaue Donau» immer wieder aus den Lautsprechern walzert.

In der Puppenklinik: Das Ensemble.

So inszeniert, steckt in der kleinen Szene am Anfang schon das ganze Elend des Stücks, die Katastrophe dieser Marianne, des «süssen Madels», das im Wiener Kleinbürgermief der Krisenjahre zwischen den Kriegen unter alle Räder kommt: vom «Halodri» Alfred geschwängert und vom rabiaten Vater verstossen, das Kind von der Stiefgrossmutter umgebracht, zur Prostitution gezwungen und schliesslich wieder in den Armen des Fleischers Oskar gelandet, den sie nie geliebt hat.

AUS steht in grossen Lettern am Ende an der schwarzen Wand, der Zauberkönig hat sie hingeschmiert, nachdem ihn im Variété beim Anblick seiner Tochter der Schlag getroffen hatte und er seine Puppenklinik aufgeben muss. «Aus» ist es aber von Anfang an in Horváths scharfsichtiger Gesellschaftsanalyse. Und «aus» ist es in der St.Galler Inszenierung schon von Beginn weg mit aller Wien-Seligkeit.

Kalte Strasse: Zauberkönig Matthias Albold und der Bräutigam in spe (Nils Torpus).

Die «stille Strasse» mit der Fleischerei, der Puppenklinik und dem Tabak-Trafik: Gestrichen. Hier gibt es nur eine schwarze Wand, die die düstere Spielfläche unten von der hart erleuchteten Bühne oben trennt. Requisiten: drei, vier Stühle, sonst nichts. Ausstattungs-Fantasie steckt allein in der überdrehten Dauerwelle des Zauberkönigs und den übrigen, witzigen Frisuren. Hausregisseurin Barbara-David Brüesch und ihr Frauenteam (Claudia Rohner, Bühne, Heidi Walter, Kostüme und Zenta Haerter, Choreografie) entrümpeln das Stück radikal und laden es dafür mit choreografischer Raffinesse auf, untermalt von Walzerbrutalität (Musik Christian Müller und Andi Peter).

Birgit Bücker liest ihrem Enkel Alfred (Fabian Müller) die Leviten.

Diese Inszenierung hat nichts mit Atmosphäre am Hut, hier gibt es keine Fassade, hinter der sich die kleinbürgerlichen Abgründe auftun würden in diesem «Volksstück gegen das Volksstück», wie Erich Kästner es genannt hat. Hier ist von Beginn weg der Mensch so nackt wie Marianne am Schluss. Oskars frühe Einsicht: «Man ist und bleibt allein» gibt die Tonart vor. Königin in diesem erbarmungslosen Reich ist die Grossmutter (Birgit Bücker dämonisch schwarz, mit grandioser Kälte und Herrscherinnenpose), die aus ihrer Ecke unten die Fäden zieht und ihre Drohung wahrmacht: «Ich krieg meine Leut schon noch runter.»

Handgreiflich und subtil

Das St.Galler Ensemble in Grossbesetzung (sowie Nils Torpus als Gast in der Rolle des tollpatschigen Oskar) stürzt sich virtuos in die Choreos und Pantomimen, am wildesten im (nicht endenwollenden) Heurigenbesäufnis zu Beginn des dritten Teils. Aber es bietet auch Subtileres wie Oskars komisch-hilflosen Bonbon-Slapstick, mit dem er seine Marianne verführen will, oder Valeries (Diana Dengler) im Wortsinn handgreiflichen Pragmatismus im Umgang mit ihren Männern.

Ohne Kapital, ohne Moral: Diana Dengler, Fabian Müller, Anja Tobler, Oliver Losehand, Birgit Bücker.

Zwischen all den luschen Figuren, dem groben Havlitschek (Marcus Schäfer), dem windigen Alfred (Fabian Müller), dem polternden Zauberkönig (Matthias Albold), dem aufrechten Rittmeister (Hans Jürg Müller), dem wüsten Nazi Erich (Dimitri Stapfer), Anja Tobler und Oliver Losehand in Doppelrollen sowie der Tänzerin Swane Küpper – zwischen all den Figuren ohne Moral und Kapital, geknebelt vom patriarchalen Irrsinn und verlassen von einem Gott, der nicht sagt, was er mit ihr vorhat: Marianne.

Nächste Vorstellungen:
4. November 14.30 und 19.30
18., 22., 26., 29. November
Theater St.Gallen

theatersg.ch

Anna Blumer trägt den Ernst und die Traurigkeit dieser Marianne im Gesicht und im Körper, aber man nimmt ihr genauso die Rebellin ab, wenn sie die Verlobung platzen lässt und es wagt, ihr eigenes Leben einzufordern. Wie aussichtslos das von Anfang an ist, spürt und sieht man – etwa an der Geste, mit der sie die nicht vorhandene Schaufensterscheibe ihrer Puppenklinik putzt. Oder am Kinderwagen, der ihren kleinen Leopold in ein besseres Leben kutschieren soll: bloss ein leeres Gestell ohne Kind und Wagen.

So schwächliche Typen bei Horváth auch die Männer sind: Ihr System hält dicht, sie sind wie Alfred «an dieser ganzen Geschicht eigentlich unschuldig». Havariert und eingesperrt in ihre Stereotypien: Die Figuren auf der St.Galler Bühne, ob männlich oder weiblich, hätten selber eine Puppenklinik nötig. Doch der Zauberkönig repariert nicht mehr.

Bloss für Junge und Alte?

Vor vollem Haus zum Start der Wiederaufnahme hinterliess die Inszenierung, dem Applaus nach zu schliessen, neben Begeisterung auch Irritation. Wer das vertraute Horváth-Wien sucht, findet es hier tatsächlich nicht. Wer sich «Stille», Horváths immer wieder mit Bedacht gesetzte Regieanweisung, erhoffte, hoffte ebenfalls vergebens. Wer aber fragt, wie man einen bald 90jährigen Klassiker ohne angestrengte Aktualisierung aktuell spielen kann, bekommt mit dieser Inszenierung eine Antwort.

Regisseurin Brüesch gewichtet die Zeitlosigkeit der Figuren höher als das Zeitkolorit. In ihrem «Wiener Wald» werfen die Bäume beziehungsweise Mauern des Sexismus und der Frauenfeindlichkeit bis heute lange und beklemmende Schatten. Im Gegensatz zu vielen älteren Semestern und mehreren Schulklassen fehlte zumindest an diesem Mittwochabend im Publikum aber ausgerechnet die mittlere Generation, die Generation MeToo.

Das Happy-End bleibt aus: Oskar (Nils Torpus) und Marianne (Anna Blumer), rechts die Mutter (Anja Tobler).