, 31. März 2015
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Vier Tage Anti-WEF in prekärem Umfeld

In Tunis trafen sich am Weltsozialforum Flüchtlinge, Bauern, NGO-Vertreter, Vertriebene… – kurz Menschen, die über Alternativen zum Kapitalismus diskutierten. Mit dabei: die beiden St.Gallerinen Sonia Brechbühl und Eva Schürmann.

«Eigentlich hat sich an unserer Lage seit der Revolution nichts geändert, wir dürfen jetzt aber wenigstens laut darüber sprechen», sagt Salam Ayari, als er über die wirtschaftspolitische Lage in Tunesien berichtet. Er ist Generalsekretär der Union des Diplomés Chomeurs (UDC), die sich hier in Tunesien für die Rechte der rund 350’000 Erwerbslosen mit Hochschulabschluss einsetzt. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt im nordafrikanischen Land heute 31 Prozent, bei jenen mit Hochschulabschluss sogar 45 Prozent.

Wir hatten Gelegenheit die UDC im Rahmen des Weltsozialforums (WSF) vom 25. bis 28. März in der tunesischen Hauptstadt Tunis kennen zu lernen. Unter dem Motto «Eine andere Welt ist möglich» bietet das WSF eine Plattform, um während vier Tagen Alternativen zur kapitalistischen Marktwirtschaft zu diskutieren.

Die Stimme des Südens verstärken

Das WSF fand erstmals 2001 in Porto Alegre, Brasilien, als Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos und den Weltwirtschaftsgipfeln statt. Nebst der Möglichkeit, viel über die weltwirtschaftlichen Zusammenhänge und deren Folgen in Nord und Süd unzensiert zu erfahren, bietet das WSF die Möglichkeit, sich mit Leuten aus sozialen Bewegungen der ganzen Welt zu vernetzen.

Dazu zählen afrikanische Flüchtlinge genau so wie vertriebene Bäuer_innen aus Südamerika oder Indien und Menschen aus Südeuropa, die von der dortigen Sparpolitik betroffen sind. Auch wir von MultiWatch haben diese Chance genutzt und sind mit einer kleinen Delegation nach Tunis gereist.

MultiWatch widmet sich der Beobachtung von multinationalen Konzernen, die ihren Sitz in der Schweiz haben. Wir informieren über deren Menschenrechtsverletzungen im globalen Süden und dem Widerstand der Betroffenen und verstärken so deren Stimme in der Schweiz. Auch aus diesem Grund ist das WSF für uns eine gut Gelegenheit, um von Schicksalen Betroffener zu erfahren und Vernetzungsarbeit zu leisten.

Wie schon 2013, als das WSF zum ersten Mal in Tunis stattfand, boten verschiedenste Nichtregierungsorganisationen und Vertreter_innen von politischen Bewegungen auf dem Campus der Universität El Manar Hunderte von Workshops zu allerlei Themen an. Rund um die Veranstaltungen wurde viel Musik gemacht, getanzt und an Ständen Bücher und Informationsmaterial, aber auch Couscous und andere tunesische Leckereien angeboten. Es war bei dem riesigen Angebot an Veranstaltungen nicht immer einfach, sich für eine bestimmte zu entscheiden.

Marktverhandlungen im Fokus

Ein wichtiges Thema waren die Verhandlungen zwischen der EU, den USA und Kanada sowie verschiedenen transnationalen Konzernen über Freihandels- und Investitionsschutzabkommen. Für uns war es essentiell, möglichst viel darüber zu erfahren, Zusammenhänge zu erkennen und deren Folgen zu verstehen.

Im Vordergrund standen die Diskussionen über TTIP (Trans-Atlantic Trade and Investment Partnership) und TISA (Trade in Services Agreement). Die Verhandlungen finden hinter verschlossenen Türen statt; durch Leaks gelangten jedoch gewisse Dossiers an die Öffentlichkeit. Die engagiert vorgebrachte Kritik der Redner_innen leuchtete uns schnell ein. Verfolgen diese Freihandelsabkommen doch lediglich das Ziel, noch mehr zu deregulieren und die neoliberale Marktöffnung noch stärker voranzutreiben.

Die Folgen wären, dass die Rechte der arbeitenden Bevölkerung zugunsten der Firmen und Konzernen zurück gestutzt und der Privatisierung der öffentlichen Dienste Tür und Tor geöffnet würden. Organisationen wie Attac und Our World is not for Sale zeigten dies anschaulich am Beispiel der Bildung auf. Auch Errungenschaften wie der Mutterschaftsurlaub wären gefährdet.

Ziel der europäischen und US-amerikanischen Konzerne ist es, weiter in fremde Märkte einzudringen, was automatisch zur Verdrängung von lokalen Geschäften und Firmen führt. Zudem bedeutete eine Annahme der Verträge einen weiteren Machttransfer von den Regierungen zu den Multis. Welche Ausmasse das annehmen kann, zeigt folgendes Beispiel: Nach dem Beschluss, bis 2022 aus der Atomenergie auszusteigen, verklagte der schwedische Energiekonzern Vattenfall die deutsche Regierung auf Schadenersatz in Milliardenhöhe. Mit den neuen Abkommen drohen solche Klagen Alltag zu werden.

Bauer trifft Professor

Für uns speziell wichtig ist die Tatsache, dass die Abkommen die europäischen Staaten zwingen würde, die US-Standards in der Gentechnik und bei der Zulassung von Pestiziden zu übernehmen. So erhofft sich der in Basel ansässige Multi Syngenta, der grösste Hersteller von Pestiziden, von TTIP die Lockerung restriktiver Gentechnik-Regulierungen in Europa. Syngenta, die trotz ihrer Grösse im Gegensatz zu Monsanto wenig bekannt ist, verkauft in Drittweltländern Pestizide, die wegen ihrer Toxizität in der Schweiz und der EU schon lange verboten sind. Dass diese Pestizide zu Krankheiten und sogar Todesfällen bei Menschen führen, das Grundwasser verseuchen und für das Bienensterben verantwortlich sind, bestätigte am WSF der ägyptische Bauer Mohamad im Gespräch mit einem Bäuer_innenvertreter aus Frankreich.

Die Öffnung der Agrarmärkte führt nicht nur zu Umweltverschmutzung. Viele Kleinbäuer_innen sind auch gezwungen, patentiertes Saatgut – und das entsprechende Pestizid – von Multis wie Syngenta zu kaufen, und müssen sich deswegen verschulden. Darauf wiesen am WSF vor allem auch Vertreter_innen von Via Campesina hin, dem weltweiten Zusammenschluss von Kleinbäuer_innen-Organisationen. Die Agromultis verstärken die Abhängigkeit der Bäuer_innen durch gentechnisch verändertes Hybridsaatgut, das jedes Jahr neu gekauft werden muss.

Diese und viele weitere Themen werden am WSF engagiert diskutiert und der ägyptische Bauer begegnet dem portugiesischen Professor auf Augenhöhe. Für alle ist klar, dass die Solidarität untereinander essentiell ist, um den Widerstand zu verstärken und solche Entwicklungen zu verhindern. Die sozialen Kämpfe in verschiedenen Ländern haben das gleiche Ziel und sie können gegenseitig von den Erfahrungen lernen.

Viel Mut und Kampfgeist

Am WSF in Tunis hat sich unsere Überzeugung einmal mehr bestätigt: Konzerne wie Syngenta müssen bekämpft werden. So wehrt sich auch die brasilianische Bewegung der Landlosen (MST) mit Demos und Landbesetzungen gegen die Machenschaften von Syngenta und dergleichen. Um es mit den Worten der brasilianischen Bäuerin Adriana auszudrücken: «Convidamos todos trabalhadores do mundo a unir e a tirar de esses países essas empresas. Fora Syngenta. Trabalhadores do mundo unidos.» (Wir fordern alle Arbeiter_innen der Welt auf, sich zu vereinigen und diese Unternehmen aus ihren Ländern zu vertreiben. Raus mit Syngenta. Arbeiter_innen der Welt vereint euch.)

Das Thema ist aktueller denn je angesichts der Expo in Mailand, die unter dem Motto «Feeding the World» stattfindet. Dort wird der Auftritt der Schweiz von Nestlé hauptfinanziert und jener Basels von Syngenta gesponsert. MultiWatch veranstaltet aus diesem Grund am 24. und 25. April 2015 in Basel eine Konferenz mit Delegationen aus Pakistan, Hawaii und Paraguay. Unter anderem wird dort auch ein Film mit Statements von Betroffenen zu sehen sein, der am WSF produziert wurde. Mit der Konferenz wollen wir ein klares Zeichen gegen Syngenta setzen, gegen ihren Auftritt an der Mailänder Expo, aber vor allem auch gegen ihr menschenverachtendes Handeln im globalen Süden.

Die Reise nach Tunesien hat viele Eindrücke hinterlassen. Auf der einen Seite bleibt ein Gefühl von Machtlosigkeit gegenüber der Übermacht des neoliberalen kapitalistischen Systems. Viel mehr allerdings hat uns der Kampfgeist, der Mut und die Stärke der Menschen des Südens beeindruckt und ermutigt. Wir haben viele Menschen kennen gelernt und uns mit ihnen ausgetauscht. Gemeinsam arbeiten wir für eine Gesellschaft, in welcher die Menschen, und nicht die Profite der Konzerne im Vordergrund stehen.

 

Titelbild: Ein Workshop am WSF von Via Campesina, einer Vereinigung von Kleinbauern und Landarbeitern.

1 Kommentar zu Vier Tage Anti-WEF in prekärem Umfeld

  • Cincinnatus sagt:

    Vielen Dank für den schönen Bericht!

    Eine kleine Ergänzung: Neoliberale Marktöffnung, Deregulierung, Privatisierung von öffentlichen Gütern, WEF, Verhandlungen hinter verschlossenen Türen, Kampfgeist und Widerstand – das gibt es aktuell auch hier! Die „Übermacht des kapitalistischen Systems“ anzufassen gibt es auch hier in St.Gallen. Am 7. und 8. Mai findet an der HSG das alljährliche „St.Gallen Symposium“ statt. Informationen zum Protest gegen diese unsägliche Veranstaltung finden sich auf: http://www.smashlittlewef.blogsport.de oder auf https://www.facebook.com/pages/Smash-Little-WEF-No-HSG-Symposium/472520729578253

    Die Demo „Smash little WEF“ startet am 2. Mai um 13.30 auf den Bahnhofsplatz.

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