Vier Güllener Graffiti

Auf seinen Stadtspaziergängen begegnet Historiker und Aktivist Hans Fässler immer wieder vergänglicher Kunst. Street Art-Denkmäler sind für ihn auch eine Art «Gegenentwurf von unten» zur gängigen helvetischen Heldenverehrungspraxis.
Von  Hans Fässler
Gemalte Denkmäler: Unpatriotischer Gegenentwurf zur helvetischen Heldenverehrung in St.Gallen. (Bilder: Hans Fässler)

Leider sind alle vier Männer. Und weiss. Aber immerhin: Der eine machte eine Schlosserlehre, der andere eine als Laborant in der chemischen Industrie. Einer hatte migrantische Wurzeln, ein anderer wurde in eine arme Bauernfamilie geboren. Einer war und ist ein Schweizer Weltbürger, einer brachte es zum Marschall, einer ist jetzt Vollzeithausmann, und einer wurde aggressiv, wenn er zu viel getrunken hatte. Zwei leben noch, zwei sind schon lange tot.

Alle findet man in einem Geviert von etwa hundert mal hundert Metern in der St.Galler Altstadt: eine Serie von Denkmälern von unten, eine vergängliche Heldengalerie, vielleicht ein unpatriotischer Gegenentwurf zu Calvin, De Pury, Escher, Guisan, Pestalozzi, Tell, Vadian, Waldmann, Winkelried, Zwingli und all den anderen, die sich in alphabetischer Reihenfolge auf ihren steinernen Sockeln erheben. Wie lange die schön gemachten Güllener Graffiti schon prangen, weiss ich nicht, wie lange noch, auch nicht. Also: Augen auf!

Tito, Charlie, Quillo

Mit bürgerlichem Namen hiessen sie Josip Broz (1892–1980), Pius Frey (*1954) und Tranquillo Barnetta (*1985). Der erste kämpfte im Ersten Weltkrieg, geriet in russische Gefangenschaft, wurde in Petrograd Zeuge der Oktoberrevolution, trat in die Rote Garde ein, agierte als Gewerkschafter im Königreich Jugoslawien, nahm den Kampfnahmen «Tito» an und am Spanischen Bürgerkrieg teil, war Partisanenführer im Zweiten Weltkrieg, wurde Staatschef der Volksrepublik Jugoslawien sowie Gegenspieler von Stalin und lancierte mit Gamal Abdel Nasser (Ägypten), Jawaharlal Nehru (Indien) und Sukarno (Indonesien) die Bewegung der Blockfreien Staaten. Welches seiner vielen Verdienste ihn im frühen 21. Jahrhundert auf eine St.Galler Hauswand geführt hat, ist nicht bekannt.

Der zweite war nicht nur Mitbegründer der «Comedia», der einzigen heute noch bestehenden Genossenschaftsbuchhandlung der Schweiz, sondern auch Kulturaktivist (AfriKaribik, Jamaica), Musikkenner, Anti-Apartheid-Kämpfer, freier militanter Linker und Gewerkschafter. Die von einem Team engagierter Buchhändlerinnen weitergeführte «Comedia» hat von der Stadt St.Gallen dieses Jahr einen Anerkennungspreis bekommen, was man durchaus auch als Anerkennung für «Charlie» lesen kann, wie ihn viele seiner weit verstreuten Freund:innen und Genoss:innen nennen. Welches seiner vielen Verdienste ihn im frühen 21. Jahrhundert auf eine St.Galler Hauswand geführt hat, ist nicht bekannt.

Der dritte war ein Wanderarbeiter (Bayer 04 Leverkusen, Hannover 96, Schalke 04, Eintracht Frankfurt, Philadelphia Union), der für den FC St.Gallen einige Tore geschossen hat und von sich sagt: «Mi sento a casa soltanto a San Gallo.» Mit 17 wurde «Quillo» professioneller Fussballer, mit 34 trat er vom Spitzensport zurück, lebt seither als Hausmann in St.Gallen und sagt von sich, nun sei er «endlich frei». Ob sein Gaffiti auf einer St.Galler Hauswand den Fussballer oder den bekennenden Hausmann ehrt, ist nicht bekannt.

Auch nicht bekannt ist, wer wann, warum und wozu den Vierten im Bunde, den grossen (kleingewachsenen) Нестор Іванович Махно (1888–1934), den «Batko» (Väterchen, Anführer) der ukrainischen anarchistischen Volksbewegung «Machnowschtschina», mit raffiniert pseudo-kyrillischem Namenszug in der St.Galler Altstadt verewigen wollte. Aber es ist für mich ein kleines Wunder. Machno hat über sich gesagt: «Erinnert euch an mich!», und jemand geht im frühen 21. Jahrhundert hin und führt das mit schön gestalteter Schablone, Spraydose und nächtlicher Courage aus.

Politischer Machtfaktor

Anarchist:innen haben viele Spuren hinterlassen, zunächst auf den «Schlachtfeldern der Theorie», wie Hans Magnus Enzensberger gesagt hat. Zu erwähnen sind hier etwa William Godwin, Percy B. Shelley, Joseph Proudhon, Voltairine de Cleyre, Gustav Landauer, Max Stirner oder Henry David Thoreau. Andere leisteten nicht nur theoretische Beiträge zur Idee einer herrschaftsfreien Gesellschaft, sondern wurden auch zu überragenden Figuren in den politischen Kämpfen ihrer Zeit: Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, Michail Bakunin, Emma Goldmann, Johann Most, Louise Michel, Adhémar Schwitzguébel, Buenaventura Durruti oder Errico Malatesta.

Nur selten ist es dem Anarchismus gelungen, zu einer Massenbewegung und zu einem politischen Machtfaktor zu werden. Relativ bekannt sind die anarchistischen Organisationen und Bewegungen im Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939). Anarchistisch-bäuerliche und anarcho-syndikalistische Gruppierungen leisteten erbitterten Widerstand gegen Franco und sein faschistisches Regime; bekannt wurden die beiden grossen Gewerkschaften Confederación Nacional del Trabajo (CNT) und Federación Anarquista Ibérica (FAI). In den Hochburgen Katalonien (Barcelona) und Aragonien (Saragossa) standen ganze Gebiete unter anarchistischer Verwaltung und kollektivierter Wirtschaft. 1936 beschlossen CNT und FAI sogar die Beteiligung an der Volksfront-Regierung: Der Anarchist Juan García Oliver wurde Justizminister, die anarchistische Schriftstellerin Federica Montseny Mañé wurde Gesundheitsministerin (und erstes weibliches Regierungsmitglied Spaniens überhaupt).

Aber das alles ist nichts (oder besser: wenig) im Vergleich mit der «Machnowschtschina». Als 1918, nach der Oktoberrevolution, die Ukraine politisch und ökonomisch von Sowjetrussland getrennt wurde, begann dort der Russische Bürgerkrieg. Er dauerte bis 1923 und forderte mehr als 10 Millionen Tote, weil in diesem «Gewaltraum» (Felix Schnell) an der Peripherie des Zarenreichs eine Zeitlang alle gegen alle kämpften (und dazu noch Judenpogrome veranstalteten oder zuliessen): die kommunistischen Bolschewiki mit der «Roten Armee», die aus konservativen Zaristen, Demokraten, gemässigten Sozialisten und Nationalisten zusammengesetzte «Weisse Armee», die nationalistische ukrainische Armee der Volksrepublik, diverse Milizen, Invasionstruppen der Entente (polnische, deutsche und österreichisch-ungarische Soldaten). Und im Südosten des Landes, in einer Region von Odessa über Mariupol bis Donezk, kämpfte die sagenumwobene revolutionäre aufständische Armee unter dem Kommando des Anarchisten Nestor Machno. Das Motto der Bewegung stand auf ihren schwarzen Flaggen: «Анархия – мать порядка» (Anarchie ist die Mutter der Ordnung).

Wer sich dafür interessiert, wie aus dem armen Bauernjungen aus Huljajpole im Gouvernement Jekaterinoslaw ein Malerlehrling wurde, dann ein ungelernter Arbeiter in einer Eisengiesserei und schliesslich der Führer einer Bewegung wird, der zu ihrem Höhepunkt im Dezember 1919 auf einem Gebiet von etwa 100’000 km² (zweieinhalb mal die Schweiz) mit sieben Millionen Einwohnern die unglaubliche Zahl von 83’000 Infanteristen und 20’000 Kavalleristen angehörten, der kann sich das  Feature «Nestor Machno und seine ukrainische anarchistische Volksarmee» von Mark Zak anhören.

Der deutsche Schauspieler aus Lwiw (Lemberg), der in Odessa aufgewachsen ist und über Nestor Machno 2018 eine Biographie publiziert hat, behandelt in 40 spannenden Minuten den Aufstieg der Machno-Bewegung – und auch ihren Untergang im Kampf gegen die Bolschewiki unter der Führung von Leo Trotzki.

Wer es sich anhört, wird es wie ich als kleines Wunder ansehen, dass der Mann, der nach langer Flucht 1924 schliesslich in Paris anlangt, wo er sich 1927 mit Buenaventura Durruti trifft und wo er 1934 arm, krank und vereinsamt stirbt und auf dem Friedhof Père Lachaise begraben wird, in der Brühlgasse in St.Gallen wieder auftaucht. Nestor Machno wird übrigens, das sei zum Schluss nicht verschwiegen, von der neueren Forschung auch für seine Kultur der exzessiven revolutionären Gewalt kritisiert.