Vieles bröckelt am Berg

Im Frühling hat eine riesige Lawine, wie es sie seit über 60 Jahren nicht mehr gegeben hat, eine Hütte der Alp Weesen zerdrückt und drei Hütten und ein gutes Dutzend Gämsen ins Tal gerissen. Der Lawinenkegel türmte sich fünf Meter hoch auf dem Wanderweg und drückte die Fassade des Restaurants Seealpsee ein.
Überhaupt bröckelt der Berg: Der Blaue Schnee beim Säntis wird von Jahr zu Jahr kleiner. Der Permafrost schmilzt allmählich, die Berge kommen ins Rutschen.
Das sind keine klimahysterischen Dystopien, sondern messbare Tatsachen. Die ETH belegt das mit ihrer Messreihe mit dem Projektnamen «Permanase» am Matterhorn. Die Nullgradgrenze steigt jedes Jahr weiter nach oben, immer mehr Wasser fliesst in den Fels und lässt den Permafrost noch schneller schmelzen. Steinschläge und Felsstürze werden zunehmen.
Der allgemeinen Faszination für den Berg tut dies keinen Abbruch. Der Alpstein wird derzeit geradezu von einem Hype erfasst. Zu Tausenden strömen schlecht beschuhte Handyfotografen und Drohnen-Hobbypilotinnen ins nahe Naturparadies. Die Berghilfe unterstützte die millionenschwere Renovation des Gasthauses «Forelle» und schüttete damit Spendengelder an eine Tourismusregion, die wahrlich nicht auf Wirtschaftsförderung angewiesen wäre.
Angekurbelt wird das Tourismusgeschäft noch durch die globale Aescher-Manie (thanks, «National Geographic») und lokale Medien. Ungebremst stogglet der Rheintaler Victor Rohner in seinen Sommertouren für «TV0» durch sein «Schoggistück», und auch das «Tagblatt» fühlt sich bemüssigt, die Bergkäs-Romantik zu zelebrieren und eine ganze Woche lang vom Berg herab zu berichten. Alt-Bundesrat Merz darf fürs Blatt in seiner Militärmottenkiste wühlen und über Kameradschaft am Berg fabulieren, und im Berner Oberland besingen die Möchtegern-Büezer-Buben Gölä und Trauffer ihren unappetitlichen Nationalstolz auf der Jungfrau und verbrennen sich dabei gehörig ihre Blut-und-Boden-Grinder.
Also hopp, alle schnell nochmals die klobigen Treter angeschnürt und ab ins rutschende Geröll, bevor die letzten Gipfel zu Staub zerfallen sind, sich das Mittelland über alle Kantone ausgebreitet hat und uns nur noch das Eidgenössische und das traurige Muhen der letzten Alphörner an jene glorreichen Zeiten erinnern, in denen wir noch selber bestimmt haben, welches Gehölz und Gestein auf den europäischen Feind herunterkullert.