«Viel schlimmer, als man es sich vorstellt»
Morteza Hakimi ist 2015 aus Afghanistan in die Schweiz geflüchtet, weil er ins Visier der Taliban geriet. Im Gespräch erklärt er, wieso Afghanistan so ein umkämpftes Land ist, was die Machtübernahme der Taliban konkret bedeutet und was die Schweiz jetzt tun müsste.
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Saiten: Morteza, die Taliban haben mittlerweile fast die ganze Stadt Kabul unter ihre Kontrolle gebracht. Fast alle anderen Provinzen des Landes haben sie bereits erobert. Was ging dir durch den Kopf als du die Bilder aus Kabul gesehen hast?
Morteza Hakimi: Heute erfährt man via Internet ja alles sehr schnell. Ich war schockiert und auch überrascht, als ich gesehen habe, dass die Taliban schon in Kabul sind, hatte Panik. Grosse Teile meiner Familie und viele Freund:innen leben dort. Ich habe sie am Anfang nicht erreicht. Ich bin in Tränen ausgebrochen.
Wie geht es deiner Familie und deinen Bekannten?
Sie sind alle in grosser Panik, jeden Tag hören sie Schüsse und Bomben in nächster Nähe. Viele verstecken sich. Und es ist ja nicht so, dass nur die Taliban sie bedrohen und sie Angst um ihre Sicherheit haben. Auch ihre wirtschaftliche Not ist gross. Es fehlt an allem. Mein Bruder lebt in Kabul. Weil alle Banken geschlossen sind und sämtliche Infrastruktur zusammengebrochen ist, kann ich ihm kein Geld schicken. Die Lebensmittelpreise sind innert kürzester Zeit in die Höhe geschossen.
In den Medien ist aktuell vor allem die Situation am Flughafen in Kabul ein grosses Thema, weil noch immer tausende Afghan:innen hoffen, per Flugzeug aus dem Land fliehen zu können. Was weisst du über die Situation dort?
Das, was man über die sozialen Medien hört und sieht, ist nur ein kleiner Teil. In der Realität ist es noch viel schlimmer. Tausende Menschen harren noch immer am Flughafen aus und warten auf ein Flugzeug, viele Kinder und Frauen. Auch einige Freund:innen sind aktuell dort, obwohl sie wissen, dass sie kaum eine Chance haben. Die amerikanische und deutsche Armee wollen nur ihre eigenen Leute retten, die normalen Leute werden zurückgelassen. Die amerikanische Armee hat sogar Schüsse abgegeben. Und die Bilder von den Leuten, die von den Flugzeugen fallen, an denen sie sich anfangs noch festgehalten haben, brechen mir das Herz. Man sieht, wie verzweifelt die Leute sind.
Die USA ist seit 2001 in Afghanistan präsent. Was hat sich in diesen 20 Jahren geändert?
Es hat sich tatsächlich viel zum Besseren gewandt: Frauen-, bzw. allgemein die Menschenrechte haben sich allmählich durchgesetzt. Viele hatten erstmals Zugang zu Bildung, auch Frauen. Afghanistan wurde zu einem mehr oder weniger stabilen Staat, es gab politische Strukturen, es war eine kleine Demokratie. Auch darum treffen mich die aktuellen Ereignisse so: Wie über Nacht verschwindet das alles wieder.
Die Machtübernahme der Taliban lässt Erinnerungen an ihre letzte Herrschaft von 1996 bis 2001 aufkommen.
Genau. Das war eine Katastrophe. Vor allem für Frauen und Kinder. Die Frauenrechte sind jetzt wieder bei null. Frauen durften weder arbeiten noch studieren, mussten Burka tragen. Die Behauptung der Taliban, sie würden die Frauenrechte achten, ist eine Lüge, das glaubt kein Mensch. Ich höre bereits jetzt von Freund:innen, dass Taliban-Kämpfer von Haus zu Haus gehen und junge Frauen mitnehmen und sie zur Heirat zwingen. Wer hat ihnen das Recht dazu gegeben?
1996 bis 2001 war auch sonst eine schreckliche Zeit: Es gab keine politische Mitbestimmung, die Taliban verlangten absoluten Gehorsam. Ich habe diese Zeit als Kind erlebt. Wir mussten Koranschulen besuchen. Und überhaupt die Kultur: Die Taliban zerstörten zahlreiche historischen Stätten, ausserdem war es verboten, Musik zu hören.
War die politische Repression auch der Grund, wieso du 2013 geflüchtet bist?
Ja. Ich hatte mich an der Universität für Kinder- und Frauenrechte engagiert. Als unsere Gruppe immer grösser wurde, gerieten wir auf den Radar der Taliban. Drei meiner besten Freunde, die auch in dieser Gruppe aktiv waren, wurden von den Taliban ermordet. Nur durch einen Zufall sass ich nicht mit ihnen im Taxi, als auf sie geschossen wurde. Der Taxifahrer berichtete mir danach, dass auch ich auf der Schwarzen Liste der Taliban stand – mit Foto! Hinzu kam, dass ich der Ethnie der Hazara angehöre, eine Minderheit, die wie viele andere von den Taliban verfolgt werden.
Bereits im Kalten Krieg, zwischen 1979 und 1989, besetzte die Sowjetunion Afghanistan. Wieso ist das Land eigentlich so umkämpft?
Es ist klar, dass die USA 2001 nicht nur nach Afghanistan gekommen sind, um den Terrorismus zu bekämpfen. Es ging ihnen und der Nato immer auch um das Opiumgeschäft und um Bodenschätze, wovon es in Afghanistan reichlich gibt. Gerade der Opiumhandel hat in den letzten 20 Jahren stark zugenommen. Auch wegen diesen wirtschaftlichen Interessen haben zahlreiche Staaten immer wieder mit den Taliban verhandelt. Wenn das so schlimme Terroristen sind, wieso hat man sie nicht einfach verhaftet? Und wieso sollte die USA so viel Geld in Afghanistan ausgeben, wenn sie keinen Vorteil daraus ziehen?
Wie konnten die Taliban so stark werden?
Soviel ist klar: Der Grossteil der Bevölkerung hasst die Taliban noch mehr als die USA oder die Deutschen. Sie haben erlebt, was es bedeutet unter den Taliban zu leben. Das war eine Diktatur. Es ist auch klar, dass die Taliban nie so stark wären, wenn sie keine Unterstützung aus dem Ausland hätten, aus Katar, dem Iran und aus Pakistan, woher übrigens die meisten Taliban-Kämpfer stammen. Es gibt in Afghanistan keine Waffenindustrie, woher sollten sie also sonst ihre Waffen haben? Alle profitieren von Afghanistan, das zu einem Spielball der grossen Mächte geworden ist. Aber natürlich sind die Taliban auch attraktiv für Leute ohne Perspektive: Sie wollen einfach überleben und schliessen sich ihnen darum an.
Die SP und die Grünen fordern, dass die Schweiz sofort 10’000 Flüchtlinge aufnehmen soll. Was müsste aus deiner Sicht passieren?
Das wäre ein wichtiger Schritt. Die Leute brauchen aber auch sehr direkt, vor Ort, Hilfe. Viele Menschen sind an der Grenze zum Iran, zur Türkei, verstecken sich in den Bergen. Da geht es ums Überleben. Und ich habe es selber erlebt, es ist keine einfache Flucht.
Wie geht es für deine Familie weiter?
Ich habe kürzlich beim Migrationsamt angerufen und ihnen meine Situation geschildert. Meine Eltern sind in Indien, sie können und wollen nicht zurück nach Afghanistan. Mein Bruder ist wie erwähnt noch in Kabul. Ich habe gefragt, ob es eine Möglichkeit gebe, sie in die Schweiz zu holen. Man hat mir gesagt, ich müsse dafür finanziell abgesichert sein, mindestens 180’000 Franken auf meinem Konto haben. Eine solche Summe konnte ich mir bislang nicht einmal vorstellen. Das ist unfair. Mit erleichtertem Familiennachzug für Angehörige in Afghanistan könnte man jetzt schnell helfen.
Morteza Hakimi ist 29 und lebt in Berneck. Aktuell macht er eine Lehre als Polymechaniker und arbeitet nebenbei in der Grabenhalle in St.Gallen. Er engagiert sich zudem beim Jugendrotkreuz des Kantons St.Gallen.