Vertuschte Taten, verpfuschte Kindheit
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Der Fall hat in Frankreich hohe Wellen geworfen: Père Bernard Preynat soll zwischen 1986 und 1991 dutzende minderjährige Jungen missbraucht haben. Und Kardinal Philippe Barbarin, der Erzbischof der Lyoner Diözese, hat es vertuscht.
Im März wurde Barbarin wegen Nichtanzeige der sexuellen Übergriffe auf Minderjährige unter 15 Jahren und unterbliebene Hilfeleistung zu sechs Monaten auf Bewährung verurteilt. Er ging in Berufung, hat aber seinen Rücktritt eingereicht. Im Juli wurde Bernard Preynat von einem Kirchengericht des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen für schuldig befunden. Dafür kassierte er die Höchststrafe: die Entfernung aus dem klerikalen Stand. Das Zivilverfahren gegen ihn läuft noch.
François Ozon hat aus diesem harten Stoff keinen Dokumentarfilm gemacht, wie anfangs geplant, sondern ein dokumentarisches Drama. Als Grundlage diente ihm, nebst vielen Gesprächen mit Preynats Opfern, auch das umfangreiche Material, das die Vereinigung «La Parole Libérée», ein Zusammenschluss seiner Missbrauchsopfer, gesammelt hat: Mails, Briefe, Erfahrungsberichte. Herausgekommen ist eine episodenhafte Reise aus der Ohnmacht heraus, ein Lehrstück über institutionelles Verschweigen und die Kraft des Zusammentuns.
Die Spannung ergibt sich nicht aus Preynats Übergriffen, sie werden von ihm nie bestritten. Das Spannende an Grâce à Dieu ist der Weg aus dem jahrzehntelangen Stillschweigen in die gemeinsame Bewältigung und schliesslich ins Rampenlicht. Es ist aber kein Film gegen die Kirche. Oder wie die Mitglieder der Parole Libérée einmal sagen: «Wir machen es für die Kirche, nicht gegen sie.»
Salbadernd statt schuldbewusst
Alles beginnt 2014 mit Alexandre, einem gläubigen, gutbürgerlichen Familienvater, gespielt von Melvil Poupard. «Hat Père Preynat dich auch befummelt?», wird er eines Tages von einem ehemaligen Schulfreund gefragt – und alles kommt wieder hoch: Von neun bis zwölf, als junger Pfadfinder, hat ihn der Priester wiederholt sexuell missbraucht. Alexandre erinnert sich an die Zungenküsse, den schweren Atem, den dicken Bauch.
Als er erfährt, dass Preynat immer noch Jugendarbeit macht, will Alexandre intervenieren. Er hofft auf die Einsicht seiner Diözese, spricht mit der Kirchenpsychologin, mit Kardinal Barbarin – und schliesslich auch mit Preynat, der zwar mit ihm beten, aber ihn nicht um Verzeihung bitten will.
Im ersten Teil des Films, der als Dreier-Stafette angelegt ist, herrscht eine unterschwellige Unruhe, obwohl der ständig herumeilende Alexandre durchaus überlegt und gefasst agiert. Schon hier zeichnet sich die perfide Rolle der Sprache ab. Alexandre selber spricht kaum, dafür hört man Voice-Over- Auszüge seiner Korrespondenz mit dem Kardinal und der Kirchenpsychologin. Ihre Antworten triefen nur so vor Scheinheiligkeit, und auch im direkten Gespräch salbadert Barbarin ganz unerträglich vertröstlich vor sich hin.
Alexandre, (gut)gläubig wie er ist, hofft, dass Preynat ausgeschlossen und bestraft wird. Was natürlich nicht passiert, also zeigt er ihn an. Hier kommt François (Denis Menochet) ins Spiel. Eine Kämpfernatur, leidenschaftlicher Atheist und ebenfalls Opfer von Preynat. Die Polizei stöbert ihn im Rahmen ihrer Ermittlungen auf. «Was ist das für ein Idiot, der erst jetzt aufwacht», sagt er anfangs über Alexandre. «Der will doch nur Geld machen.» Solche Argumente kommen in der Regel nicht von Betroffenen. Schon kurz darauf jedoch prügelt François seine ganze Wut über Preynat in sein Schlagzeug – und gründet zusammen mit Gilles, einem weiteren Opfer, die Parole Libérée.
Das Ziel: Öffentlichkeit schaffen, die katholische Omertà brechen, die Oberen zum Handeln zwingen. Denn der grössere Skandal ist, dass alle von den Übergriffen wussten, dass eine ganze Diözese den pädophilen Pfarrer gedeckt hat, auch nach mehrmaliger Intervention von Eltern und Angehörigen. Preynat, gespielt von Bernard Verley, beteuert, er habe seine Vorgesetzten mehrmals über seine «Neigungen» informiert, aber es seien halt «andere Zeiten gewesen» damals. Gott sei Dank – Grâce à Dieu – seien die Taten verjährt, sagt Barbarin einmal an einer Medienkonferenz. Auch der Filmtitel spielt mit der Macht der Worte.
Grâce à Dieu von François Ozon:
ab 3. Oktober im Kinok St.Gallen und am 11. November im Kinotheater Madlen, Heerbrugg
inok.ch kinomadlen.ch
Ringen um die Sprache
Die Parole Libérée wächst. Sie bringt nicht nur die Übergriffe zur Anzeige, sondern auch das Schweigekartell. Auch der fragile Emmanuel, gespielt von Swann Arlaud, ist Mitglied. Um ihn geht es im dritten Teil. Emmanuel ist Epileptiker, hochbegabt und gehört, anders als Alexandre und François, nicht zum gutsituierten Bürgertum. Preynat hat sein Leben verpfuscht, hat auch körperliche Spuren hinterlassen. Das alles wühlt Emmanuel enorm auf. Er kämpft. Auch mit seiner Lebensgefährtin. Und mit sich selber, als ihn Preynat bei der Gegenüberstellung konsequent immer noch duzt.
Da ist sie wieder, die Sprache. Mal subtil, mal salbungsvoll, mal schlicht unterirdisch. In Grâce à Dieu spielt auch sie eine Hauptrolle. Wenn die Protagonisten Witze machen übers Fotolabor, wo sie früher missbraucht wurden. Wenn Kardinal Barbarin Pädophilie und Homosexualität im selben Atemzug nennt. Oder wenn er Alexandre korrigiert, weil er den Begriff «Pädophilie» verwendet – weil das übersetzt Kinderliebe heisse und Gott selber die Kinder ja auch liebe.
Der gläubige Alexandre, der kämpferische François und der fragile Emmanuel: Mit diesem Dreiergespann hat Ozon ein unerhörtes Stück der jüngeren französischen Kirchenge- schichte geschickt und einfühlsam aufgearbeitet. Aus der Perspektive der Überlebenden, nicht als Gerichtsdrama oder reisserisches Biopic, sondern vielschichtig und respektvoll, ja beinah sachlich. So, dass am Schluss auch die Frage von Alexandres Sohn Platz hat: «Glaubst du noch an Gott, Papa?»
Dieser Beitrag erschien im Oktoberheft von Saiten.