, 14. Dezember 2023
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Verstaubte Stereotype bestimmen den Diskurs

Wenn es um den Nahostkonflikt geht, hat spätestens seit den 1970er-Jahren ein Schwarz-Weiss-Denken eingesetzt, das der vertrackten Situation in Israel und Palästina nicht gerecht wird. Dass sogenannt progressive Stimmen Terrorismus legitimieren, ist dabei kein neues Phänomen. von Alfred Hackensberger

Die Illustrationen zum Dezember-Schwerpunkt hat Anna Albisetti gemacht.

Perfektes Sommerwetter und eine begeisterte Stimmung herrschen in München, als am 26. August 1972 der Startschuss für die Olympischen Spiele fällt. Es sind die zweiten Sommerspiele in Deutschland und die sollen nun endgültig die dunklen Schatten der Berliner Spiele von 1936 unter dem Nationalsozialismus vertreiben. München soll ein Traum werden, doch der Traum endet im Terror, wie deutsche Medien später schreiben. Denn am frühen Morgen des 5. September überfallen acht Mitglieder der palästinensischen Organisation Schwarzer September das israelische Wohnquartier im olympischen Dorf. Sie ermorden zwei Sportler und nehmen neun weitere als Geiseln. Einen Tag später misslingt ein Befreiungsversuch nachts auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck. Alle neun israelischen Geiseln, ein Polizist sowie fünf der acht palästinensischen Geiselnehmer:innen sterben. Die Olympischen Spielen werden nach einem Trauertag fortgesetzt – als Zeichen, dass man sich vom Terrorismus nicht hat besiegen lassen.

Das «Münchner Massaker» war die bisher grösste Operation des Schwarzen Septembers – vor allen Dingen, was die publizistische Reichweite betraf. Das deutsche Fernsehen übertrug live und man kann davon ausgehen, dass damals etwa 900 Millionen Zuschauer:innen das Geiseldrama verfolgt haben. «Unser Minimalziel», hatte Flugzeugentführerin Leila Khaled von der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) einmal gesagt, «war die Einschreibung des Namens Palästina in das Gedächtnis der Menschheit». Der Terroranschlag von München trug dazu sicher einen erheblichen Teil bei.

Ein paradoxes Phänomen

Man könnte meinen, Terror sei eine völlig kontraproduktive Vorgehensweise, um Sympathien und Solidarität zu erlangen. Aber gerade München 1972 verschaffte der palästinensischen Sache weltweit neue Aufmerksamkeit. Der schreckliche Vorfall beeinflusste sogar ein Stück weit die öffentliche Meinung gegen Israel, sie wurde zum Negativen verändert. Ein paradoxes Phänomen, das auch heute, nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober, zu beobachten ist: Hunderttausende protestieren auf den Strassen Europas und in den USA gegen Israels angeblichen Genozid im Gazastreifen. Sie fordern ein «freies Palästina vom Meer bis zum Fluss» Jordan, was gleichbedeutend mit der Auslöschung des jüdischen Staats ist. Der terroristische Angriff der Hamas, der den neuen Krieg ausgelöst hat, und die israelischen Geiseln im Gazastreifen bleiben unerwähnt.

Gleichzeitig behaupten manche, das Hamas-Massaker sei übertrieben dargestellt worden, vielleicht auch erfunden und womöglich sogar von Israel selbst inszeniert. Die Poster mit den Fotos der verschleppten israelischen Kinder, Frauen und Männer in Universitäten, an Lichtmasten und Häuserwänden verschwinden. «Israelische Propaganda», begründeten zahlreiche amerikanische Student:innen, die die Plakate wutentbrannt heruntergerissen hatten. «Das wirkliche Opfer ist das palästinensische Volk, das in Gaza hingeschlachtet wird und nicht das mörderische Kolonialregime Israel», behaupteten die meist jungen Leute. Für sie ist Hamas keine Terrororganisation, sondern eine Freiheitsbewegung, wie sie, ohne mit der Wimper zu zucken, sagen.

Dabei ist es völlig absurd, bei der religiös motivierten, radikalislamistischen Hamas von Freiheitskämpfern auszugehen. Schliesslich führen sie einen Heiligen Krieg, der eigenen Aussagen zufolge nicht allein die Zerstörung Israels, sondern die Weltherrschaft der Scharia bringen soll. Märtyrer würden direkt ins Paradies aufsteigen, neben dem Propheten Mohammed sitzen und die Gesellschaft von 70 Jungfrauen geniessen, wie die Instruktoren von Selbstmordattentätern in Dokumentationen erzählt haben.

Eingebrannte und medial transportierte «Wahrheiten»

Heute haben Differenzierungen im eingefahrenen Diskurs jedoch keinen Platz. Das Opfer-Täter-Schema, die Dichotomien von Gut und Böse, Freiheit und Unterdrückung scheinen wie eingebrannt und als Wahrheit unumstösslich zu sein. Jede Kritik wird als persönlicher Angriff empfunden und entsprechend emotional sind die Reaktionen. «Hamas ist eine Terrororganisation»: Ein Schild mit dieser Aufschrift genügt, um den Zorn von Pro-Palästina-Apologet:innen zu provozieren. Die eingängigen Dichotomien haben eine jahrzehntelange Geschichte und sind wohl deswegen mit derart tiefen Emotionen verbunden, die ein Umdenken so schwierig machen. Das Schema von Gut und Böse im Nahost-Konflikt wurde über Generationen weitergereicht, medial immer wieder bestätigt, mit neuen Bildern, Eindrücken und Erfahrungen untermauert.

Die Wurzeln des «Freiheitskampfes der Palästinenser» gegen die «Unterdrückung Israels» liegen in den späten 1960er- und 1970er-Jahren. Mit der Studentenrevolution begann damals eine Zeit des Aufbruchs. Man wollte radikale politische Veränderung, Gerechtigkeit, ein besseres und freieres Leben, jenseits althergebrachter Konventionen und des Kapitalismus. Revolution heute, jetzt, und am besten weltweit! Alle, die etwas auf sich hielten, wollten irgendwie aufgeklärt, politisch und progressiv rüberkommen. Da liessen sich bodenständige Fussballprofis die Haare lang wachsen, man trug Schlaghosen, hörte Rockmusik und rauchte Haschisch. In der Schule fertigte man Che-Guevara-Poster im Kunstunterricht an. Links zu sein war Zeitgeist und dieser prägte auch die Narrative der Epoche.

Die Haltung der deutschen Linken war nach dem Zweiten Weltkrieg lange Jahre überwiegend pro-israelisch gewesen. Aber mit dem Sechstagekrieg von 1967 kam eine Zäsur. Die Wahrnehmung Israels änderte sich. Im Krieg mit Jordanien, Syrien und Ägypten erlangte der jüdische Staat die Kontrolle über den Sinai, die Golanhöhen, das Westjordanland, den Gazastreifen und Ostjerusalem. Israel war plötzlich Besatzungsmacht und für die Linke somit ein Feind. Die Palästinenser:innen nahm man fortan als Opfer und kämpfende Revolutionäre wahr, während den Jüdinnen und Juden die Rolle der Täter zukam und sie als Stellvertreter des US-Imperialismus im Nahen Osten galten.

Eine simple Erzählung, die heute noch, fünf Jahrzehnte später, unkritisch verfochten wird. Selbst die UNO ist davor nicht gefeit, wie die Bemerkungen des UN-Generalsekretärs António Guterres kürzlich zeigten. Man müsse den «Kontext des Hamas-Angriffs sehen», hatte er gesagt, und Israel damit als schuldigen Bösewicht auserkoren. Dies ist letztlich nur die Spitze des Eisbergs: In New York haben 120 Länder für eine UN-Resolution gestimmt, die zur Waffenruhe aufrief, ohne die Massaker der Hamas zu verurteilen.

Als wäre die Zeit stehengeblieben

Viele wissen es nicht: Der erste antisemitische Anschlag von linker Seite in Deutschland am 9. November 1969 richtete sich gegen die Gedenkfeier zur Reichspogromnacht von 1938. Ziel war die jüdische Gemeinde in der Berliner Fasanenstrasse. Nur aufgrund eines technischen Defekts explodierte der in einem Coca-Cola-Automaten versteckte Sprengsatz nicht. Bis heute wird kaum daran erinnert. Der Initiator der Aktion, Dieter Kunzelmann von den Westberliner «Tumpamaros», forderte danach in einem offenen Brief an das Berliner Szeneblatt «Agit 883», den «Judenknax» zu überwinden und mit der Waffe in der Hand gegen die Zionisten zu kämpfen.

Diese Zeilen erinnern an heutige Pro-Palästina-Demos, auf denen Menschen «Befreit Palästina von deutscher Schuld» skandieren und sich mit dem bewaffneten Kampf der Hamas gegen Zionismus solidarisieren. Nicht weniger skandalös war die Reaktion der RAF-Ikone Ulrike Meinhof auf das Attentat des Schwarzen Septembers in München 1972. Jubelnd hatte sie aus dem Gefängnis in einem Brief an ihren Anwalt von einer «zutiefst proletarischen Aktion» gesprochen, von «Menschlichkeit», die sich dem «faschistischen Imperialismus» entgegenstelle.

Sicher waren ab den 1970er-Jahren nicht alle Linken für den Terror gegen Israel. Aber man gab sich gern «antizionistisch», trug Palästinensertuch, plakatierte für den Widerstand und sammelte Geld für Palästina in der Uni-Kantine. Die veränderte Rezeption des Nahost-Konflikts setzte sich über die Jahre in Kultur und Politik fest, auch dank vieler Veranstaltungen, Artikel, Bücher, Vorlesungen und Filme. Palästina wurde in einer Reihe mit dem Vietnam-Krieg, den Guerilla-Bewegungen in Südamerika, Afrika und Asien gesehen – also eingebettet in den damals so populären anti-imperialistischen Gesamtkontext. Dies geschah auch mit anderen «Freiheitsbewegungen» wie etwa der Polisario, die in den 1970er-Jahren begann, gegen das Königreich Marokko für die Unabhängigkeit der Westsahara zu kämpfen.

Bezeichnenderweise bestimmen noch heute Stereotype aus den 1970er-Jahren die Diskussionen über die Polisario. Als wäre die Zeit einfach stehen geblieben. So ist es auch bei Israel. Fünf Jahrzehnte alte und verstaubte Meinungen sind nach wie vor schick. Sogar LGBTQ-Aktivist:innen, die im homophoben und queerfeindlichen Gaza kaum eine Woche überleben würden, und Vertreter:innen von Fridays for Future solidarisieren sich mit den Hamas-Mördern. «Allahu Akbar»-Rufe und Forderungen nach dem Kalifat überhört man dabei geflissentlich. Vermutlich wäre das sogar Ulrike Meinhof zu viel gewesen…

Alfred Hackensberger, 1959, lebt in Tanger und ist Korrespondent für Nordafrika und den Mittleren Osten, unter anderem schreibt er für «Die Welt». Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter das Lexikon der Islam-Irrtümer. Zuletzt erschien der Kriminalroman Letzte Tage in Beirut.

 

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