Vergessliche Kühe und radioaktive Wölfe

«Re-flooded» heisst die jüngste Arbeit der St.Galler Künstlerin Jayn Erdmanski, «wieder geflutet». Thema der prozesshaften Installation: die Kehrseite der Katastrophe, die Rückeroberung der Natur durch die Natur. Ihre «Tschernobyl-Collage» im Frauenpavillon besteht unter anderem aus Malereien, Moosflechten, Kräutern, Steinen, Pilzkolonien, Nippes und Zeitungsartikeln – aus Gefundenem, aus Dingen, die ihr «zugelaufen» sind.
Heimat in der Wildnis
Die Inspiration dazu kam auch in Form einer Trouvaille; im Februar, als sie auf die «Radioactive Wolves of Chernobyl – Scary Mutations» gestossen ist. Die 2011 erschienene Dokumentation von Klaus Feichtenberger erzählt vom regen Wolfs-Leben in der verseuchten 3000-Quadratkilometer-Sperrzone, wo sich das lokale Ökosystem in aller Stille verwandelt hat: aus den sowjetischen Kornfeldern von einst sind in den vergangenen 28 Jahren dichte Wälder geworden. Und mit den Bäumen ist auch die Tierpopulation wieder gewachsen.
Erdmanski (unten die Pilze am Giessen) ist fasziniert von den imposanten Wölfen, die dort ihre Heimat gefunden haben. Furchteinflössend und mythisch gleichermassen, seien sie. «Symbole der Rückeroberung.» Zweifellos mussten wir, die angebliche Krone der Schöpfung, kapitulieren und den Platz räumen 1986. Für die Wölfe und ihre Mittiere ist das Gebiet wieder zur menschfreien Zone geworden, nicht zur Sperrzone. Erdmanski bevorzugt ohnehin den Englischen Ausdruck: Exclusion- beziehungsweise Inclusion-Zone. «Weil zwar etwas ein-, aber immer auch etwas ausgeschlossen wird.»
In diesem Fall hat sich die Menschheit selber ausgeschlossen, für Jahrtausende. Nur so konnte neue Wildnis wuchern – auch wenn sie trügt, diese grüne Idylle. «Radioaktive Strahlung ist so omnipräsent wie unsichtbar», betont auch WoZ-Redaktionsleiterin Susan Boos an der Lesung im Pavillon. Seit über zwanzig Jahren beschäftigt sich die St.Gallerin mit Kernenergie, beschreibt deren Folgen, bereist die Welt und beliefert sie mit Hintergründen.
Achtbeinige Füllen
Das erste ihrer drei Bücher zum Thema ist 1996 erschienen, zehn Jahre nach der Explosion in Block 4. Recherchiert hat sie vor Ort. Boos schildert darin auch ihre Begegnung mit einem Biologen und dessen Missgeburten-Sammlung in Schytomyr: Säuglinge ohne Gliedmassen, achtbeinige Füllen, Ferkel mit Doppelhintern. «Aufgereiht in Einmachgläsern trotzen die Föten der Verwesung», schreibt sie. Nur ein vertrockneter Fötus sei noch abscheulicher.
Der Wissenschaftler berichtet auch von unsichtbaren Anomalien, von seiner Angst vor einem «Gen-Gau». Indizien finde er ständig, auch in eigenen Studien. «Wir stellten fest, dass die Kühe in den kontaminieren Gebieten vergesslich werden», zitiert Boos den Biologen. Er müsse sie jeweils anbinden im Stall, so desorientiert seien sie, klagt er. Die Kühe im Rest der Welt wüssten doch allesamt, wo ihr Platz ist.
Das mag eine ihrer harmloseren Anekdoten sein, sie verweist aber auf das «Drama von Tschernobyl», wie Boos es nennt: dass die Auswirkungen des Gaus nie seriös erforscht worden seien. «Unter anderem liegt es daran, dass viele der Ukrainischen und Russischen Untersuchungen nicht akzeptiert wurden im Westen wegen sogenannt ungenügender Standards», erklärt sie. «Erstaunlich, dass sich die westliche Wissenschaft nicht stärker dafür interessiert.»
Militante Affen
In Fukushima sei die Forschungslage besser. Boos hat das Gebiet um die beiden japanischen Kraftwerke Daiichi und Danini im Herbst 2011 besucht, ein halbes Jahr nach den Kernschmelzen. Dort sei es wiederum skandalös, wie die Behörden informiert hätten – oder auch nicht. Monatelang habe man die Bevölkerung mit der Ungewissheit allein gelassen.
«Von einer modernen Industriegesellschaft hätte ich mehr erwartet», kritisiert Boos und ist damit alles andere als allein: «Die Regierung sage, es sei alles nicht so schlimm. Aber das stimme nicht, wenn sie diese Daten anschaue», heisst es in ihrem jüngsten Buch. Notiert hat sie dieses Zitat einer Fachärztin aus Osaka vier Wochen nach dem Unglück.
Heute passiert in den japanischen Sperrzonen dasselbe wie zuvor in der Ukraine: die Wildnis kehrt zurück. «Es ist eindrücklich, in welch kurzer Zeit sich der grüne Teppich über die Siedlungen gelegt hat und sich nun Tiere in den verlassenen Häusern einnisten», sagt die Journalistin und lacht. «Manche Affen sind regelrecht militant.»
Auch wenn das ein amüsantes Bild ist, das durchaus zu Erdmanskis «Reclaim-Art» passt, Susan Boos hat schon recht, wenn sie hin und wieder Dennis Meadows zitiert: «Bei der Kernenergie gibt es nur zwei Gruppen von Leuten: Kernenergiegegner und Leute, die nicht genug nachgedacht haben.»
Die Installation von Jayn Erdmanski ist noch bis Freitag, 4. Juli im Frauenpavillon zu sehen.
Infos: frauenpavillon.ch
Bücher von Susan Boos:
Beherrschtes Entsetzen. Das Leben in der Ukraine nach Tschernobyl (1996)
Strahlende Schweiz. Handbuch zur Atomwirtschaft (1999)
Fukushima lässt grüssen. Die Folgen eines Super-Gaus (2012)
Infos: rotpunktverlag.ch
Die radioaktiven Wölfe auf Deutsch:
und in der Englischen Version:
Bilder: Jayn Erdmanski