Vergessen, Mensch zu sein
Es gibt Dinge, an die will sich der Mensch nicht erinnern: das zerbombte Heimatdorf, Folter in überfüllten Gefängnissen oder Schikanen und Misshandlungen auf der Flucht. Solche Geschehnisse hinterlassen nicht nur körperliche, sondern meist auch tiefe seelische Wunden. Doch wo gebrochene Knochen oder geschundene Leiber mit der Zeit heilen, schlummern unterdrückte Bilder noch jahrelang im Unterbewusstsein. Sie brechen sich Bahn bei scheinbar nichtigen Gelegenheiten, lassen das gerne Vergessene wieder aufleben und verunmöglichen so unter anderem den Aufbau eines geregelten Alltages.
In der Gravita SRK, dem Zentrum für Psychotraumatologie am St.Galler Bahnhofplatz, wird daran gearbeitet, traumatisierende Erfahrungen aufzuarbeiten, und der Umgang mit ihnen geübt. Das vom Schweizerischen Roten Kreuz (SRK) Kanton St.Gallen betriebene Zentrum wurde 2011 gegründet und ist schweizweit das einzige der fünf Zentren im Verbund «Support for Torture Victims», welches psychisch schwer belasteten geflüchteten Menschen Behandlung in Form einer Tagesklinik anbietet. Aus der gesamten Ostschweiz finden Geflüchtete hier einen Ort, an dem sie einerseits eine sichere und geregelte Tagesstruktur wiederfinden und andererseits über ihre Erlebnisse sprechen können.
Zugang zum Verdrängten finden
Mit Psychotherapie, Ergotherapie, Kunst- oder Musikstunden oder sportlichen Aktivitäten wird über verschiedene Kanäle versucht, Selbstvertrauen aufzubauen und einen Zugang zum Erlebten zu finden. Oft hilft nur schon das Gespräch mit anderen Leidensgenoss:innen, um die eigenen Erfahrungen einordnen und verarbeiten zu können.
Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina schätzt, dass rund die Hälfte aller Geflüchteten unter einer Traumafolgestörung leidet und 25 Prozent eine professionelle Behandlung benötigen. So besteht auch für die 24 Plätze bei der Gravita SRK eine Warteliste. Doch leben in den Verfahrenszentren für Asylsuchende viele Menschen, die ihr Leiden gar nicht richtig zuordnen können und so auch nicht die benötigte Hilfe suchen können. Denn die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung sind vielfältig und auf den ersten Blick nur schwer einzuordnen. Verdrängung, ungewollte Erinnerungen, Schlaflosigkeit, Angststörungen, Nervosität, Reizbarkeit und Konzentrationsstörungen sind andauernde Zustände, die etwa das Erlernen einer Sprache beeinträchtigen und die gewünschte Integration in die fremde Gesellschaft verunmöglichen.
Oft sind jedoch handfeste Schmerzen, für die auf einer Röntgenaufnahme oder per MRI keine Erklärung gefunden wird, der Grund, weshalb Geflüchtete vom Hausarzt zur Gravita SRK geschickt werden. Denn obwohl die Folter vielleicht schon Jahre zurückliegt, kann der Körper die Tortur nicht vergessen und hat sie im Körpergedächtnis abgespeichert.

Psychologin Lena Forrer: «Alles einfach hinter sich zu lassen heisst auch, alle schönen Erinnerungen zu begraben.» (Bild: co)
Lena Forrer arbeitet als Psychologin beim SRK Kanton St.Gallen und bildet mit ihren dolmetschergestützten Therapiegesprächen einen Teil des Behandlungsprogramms. «Der erste Wunsch von vielen Klientinnen und Klienten ist es, das Erlebte einfach nur vergessen zu können», erklärt Forrer. Denn oft werden Geflüchtete regelrecht von ihren traumatisierenden Erlebnissen heimgesucht. Immer wiederkehrende Erinnerungen tauchen in Albträumen oder selbst in Alltagssituationen auf. Alles einfach hinter sich lassen zu können, klingt im ersten Moment verlockend. «Das würde jedoch auch heissen, alle schönen Erinnerungen an die Heimat und die Vergangenheit zu begraben. Das möchten die wenigsten», so Forrer.
Eine andere Taktik der Psyche, unliebsame Erinnerungen fernzuhalten, liegt in der Vermeidung. Denn oft sind es bestimmte «Trigger», welche die Erinnerung wieder aufleben lassen. Der Klassiker sind Uniformen von Polizistinnen oder Feuerwehrleuten mit ihren Einsatzfahrzeugen, die an die Repressalien aus dem geflüchteten Unrechtsstaat erinnern. Aber auch Gerüche, Farben oder Töne können Auslöser von Flashbacks sein, in welchen Geflüchtete regelrecht wieder in die traumatisierende Situation zurückgeworfen werden.
«Der Geruch von Ammoniak löst bei vielen Unbehagen aus. Es erinnert sie an ihre Zeit in Gefängnissen ohne Toiletten, wo sie ihre Notdurft in ihren eigenen Zellen verrichten mussten», sagt Forrer. Die Strategie, solche Trigger zu vermeiden, scheint für den Körper vermeintlich aufzugehen: Die schlimmen Erlebnisse wiederholen sich nicht. Das führt jedoch zwangsläufig zu einem Rückzug aus sozialen Aktivitäten, der Kontakt zu Freunden und Familie wird abgebrochen. Der Besuch eines Sprachkurses kann so plötzlich enorme Überwindung kosten.
Falsch abgespeichert
Die Gründe für solch posttraumatische Belastungsstörungen sind komplex. Nicht alle Menschen, die extremer Gewalt oder Misshandlungen ausgesetzt sind, entwickeln automatisch eine Traumafolgestörung. Eine medizinische Erklärung liefern die Prozesse im Hirn: Normalerweise werden Erlebnisse im Hippocampus hinterlegt. Dieser Teil des Gehirns speichert Geschehnisse zeitlich, örtlich und inhaltlich zwischen – und ermöglicht so, biografische Informationen abzurufen. Unter traumatischen Stresssituationen gelingt dieses Ablegen im eigentlichen Gedächtnisspeicher nicht, sondern es werden nur die emotionalen Aspekte des Erlebten hinterlegt. Die Geschehnisse können nun in keinen vergangenen Kontext gesetzt werden und spuken im «Hier und Jetzt» umher.
Diese Unmittelbarkeit der Gefühle führt wiederum dazu, dass die Amygdala, das Alarmsystems des Gehirns, ständig ausschlägt. Wahllose Details aus der traumatischen Situation werden als lebensgefährlich eingestuft und rufen so Kampf-, Flucht- oder Erstarrungsreaktionen hervor. Eine ständige Übererregung und Anspannung sind die Folge.
Die «gute» Nachricht in dem Ganzen: Psychische Traumata können behandelt werden – nur braucht dies viel Zeit und erfordert einen komplexen Ansatz. Und so einfach es klingen mag: Darüber sprechen hilft. Allerdings haben Geflüchtete oft niemanden, dem sie sich anvertrauen können. Sei es aus Schamgefühlen, gestörtem Vertrauensverhältnis oder dass sie niemandem zur Last fallen wollen – ihre Leidensgeschichte tragen einige jahrelang mit sich herum.
«Oft bin ich die erste Person, der sie ihre Erlebnisse erzählen», sagt Forrer. Ein Anfang, doch damit ist es meist noch lange nicht getan. Es gilt Techniken zu finden, die Geschehnisse in der Vergangenheit richtig einzuordnen und mit Triggern umzugehen. So dauert die Behandlung bei der Gravita SRK nach erfolgter Kostengutsprache der Gemeinde oder dem Kanton sowie der Krankenkasse meist etwa 20 Wochen. Eine Zeit, in der nicht nur die Vergangenheit bewältigt, sondern auch der Weg in die Zukunft geebnet wird.
«Die geflüchteten Menschen, die es bis in die Schweiz schaffen, sind die stärksten der Starken. Doch haben sie so viel Erniedrigung und Misshandlung erlebt, dass ihr Selbstwert oft zerstört ist und sie das Gefühl haben, gar nichts zu können», sagt Forrer. Gemeinsam etwas zu kochen, ein Bild zu malen oder einen Witz zu erzählen, kann da schon viel bewirken. «Sie haben vergessen, was für Fähigkeiten sie besitzen und was sie bereits alles geschafft haben», so Forrer. «Ich fühle mich wieder wie ein Mensch» ist deshalb ein Satz, den die Psychologin von Geflüchteten nach der Zeit bei der Gravita SRK nicht selten zu hören bekommt.
Emil Keller, 1990, ist freier Journalist und lebt in Kreuzlingen.
Einen Grossteil der Behandlungskosten im Zentrum für Psychotraumatologie übernehmen Gemeinden, Kanton und Krankenkasse. Für bestimmte Dienst- leistungen, wie etwa die Dolmetscher-Tätigkeiten, ist Gravita SRK auf Spenden angewiesen. Auch für individuelle Notsituationen von Patient:innen benötigt die Gravita finanzielle Unterstützung. Diese können direkt in den Gravita-Fonds eingezahlt werden. Weitere Informationen dazu und allgemein zum Therapiezentrum gibt es unter gravita.ch oder Telefon 071 552 25 15.
Dieser Beitrag erschien im Dezemberheft von Saiten.