Vater und Sohn – zwei Pflegeväter

Tschösi Olibet: 1982 haben wir mit der Heilpädagogischen Grossfamilie (HPG) angefangen. Meine Frau Nora und ich mit unseren eigenen Kindern Peter und Eva. Peter, du warst altersmässig in der Mitte, Eva die Kleinste. In den Anfangszeiten waren Nora und ich zusammen zu 150 Stellenprozenten angestellt, was sich mit den Jahren wieder reduziert hat, denn die HPGs waren als Eingenerationenprojekt angelegt. Dann ging ich wieder als Reallehrer unterrichten. Die Idee war, dass die Beziehungen der Pflegeeltern zu den Pflegekindern möglichst familiengleich oder zumindest familienähnlich sein sollten. Auch ihr musstet uns Tschösi und Nora sagen, nicht Mami und Papi.
Peter Olibet: Ah, das mussten wir? Das haben wir nicht freiwillig gemacht? Das weiss ich gar nicht mehr.
Tschösi: So machten wirs von Anfang an. Die Beziehungen zu den Pflegekindern sind nach ihrem Auszug nicht einfach abgebrochen. Teilweise haben wir auch bei ihren Kindern eine Grosselternfunktion. tipiti hat das Modell der Grossfamilien später umgebaut. Der 80er-Jahre-Groove mit den professionalisierten Vollzeiteltern ist längst vorbei. «Ein warmes Nest für Problemkinder» hiess das damals. Es war eine Art Anti-Heim-Kampagne, Kinder sollten aus den Institutionen geholt und in Familien integriert werden. Es war eine gesamtschweizerische Bewegung. Einzige regionale Spezialität war, dass hier der Verein Elternpaare anstellte. Alle anderen 40 Grossfamilien in der Schweiz haben das selbständig gemacht.
Peter: Ich war im zweiten Kindergarten, wir zügelten nach Wald AR. Am anderen Ort war ich eh nicht gern im Kindi, darum war der Wechsel an sich gar nicht so schlimm. Aber für mich war es eine schwierige Zeit. Das weiss ich zwar selber nicht mehr so genau, eher aus euren Erzählungen. Ich habe mehr gehadert als meine kleine Schwester. Plötzlich war alles anders, vorher war ich der Älteste.
Tschösi: Innerhalb von anderthalb Jahren sind fünf Kinder zu uns gekommen. Am Anfang sind gleich drei aufs Mal gekommen, weil drei Geschwister aus derselben Ursprungsfamilie einen Platz gesucht haben. Das war natürlich eine grosse Veränderung für alle.
Peter: Es gab auch sehr schöne Seiten. Beide Eltern waren immer zu Hause. Aber ich musste lernen, sie zu teilen. Schwierig war auch unsere Rolle in Wald als Grossfamilie, von denen es damals drei gab. Wir waren die Dorf-Exoten. Die Eltern immer daheim, die Väter mit langen Bär- ten. Ich ging dort zur Schule und hatte Freunde. Aber wir waren dennoch immer die Speziellen. Unsere Pflegegeschwister waren nicht immer die Einfachsten. Das fiel manchmal auf uns zurück, manchmal gabs eins aufs Dach.
Tschösi: Ja, es waren Kinder mit besonderen Lebensläufen, die nicht mehr in ihrem ursprünglichen Umfeld wohnen konnten. Ein Kind kam beispielsweise als Vollwaise.
Peter: Für Eva war es wohl nicht so schlimm. Sie war immer die Kleine, ist meist unter dem Radar geblieben. Sie war sicher auch etwas angepasster als ich. Ich hatte eher schwierige Phasen. Gerade mit Nora, meiner Mutter, gings nicht immer gut. Aber andererseits hat es, wie gesagt, auch viele schöne Sachen gegeben, wofür ich dankbar bin. Eine grosse Familie ist super, es sind immer viele Kinder da. Wir haben in einem grossen Haus gewohnt. Wir hatten viel Platz, viele Tiere und den Wald in der Nähe. Lauter Sachen, die wir in einer Kleinfamilie in der Stadt nicht gehabt hätten. Keine Ahnung, wo und wie wir gelebt hätten.
Tschösi: Wahrscheinlich einfach irgendwo als ganz normale Lehrerfamilie.
Peter: In der Beziehung zu meiner leiblichen Schwester und zu den anderen Geschwistern gibt es Unterschiede. Vor allem, wenn ich anderen von meiner Familie erzähle, weil es sonst zu kompliziert würde. Aber für mich ist klar, dass alle meine Geschwister sind. Dennoch habe ich heute zu Eva die engste Beziehung. Einmal, als ich mit Franziska Ryser an einer Standaktion am Bärenplatz stand, kam Willi, der Zweitälteste vorbei. Wir haben miteinander geplaudert. Als er wieder ging, sagte ich, das sei mein Bruder gewesen. Franziska hat mich schräg angeschaut und gefunden, ich sähe aber total anders aus. Das sei noch ein spezielles Verhältnis, das wir hätten. Ich habe es ihr dann erklärt. Natürlich ist es ein spezielles Verhältnis. Wir sehen uns nicht oft. Zu einigen habe ich fast keinen Kontakt mehr. Gerade letzthin habe ich Salvi getroffen, der mir altersmässig am nächsten war. Mit ihm hatte ich die meisten Rivalitäten. An der Züglete der Eltern war er auch da. Eva, er und ich haben lange miteinander geredet. Wir konnten gleich anknüpfen und mussten nicht erst lange Kindererinnerungen aufwärmen. Das war sehr schön.
Tschösi: Wir sind mit der Idee in die Arbeit eingestiegen, emotional keinen Unterschied zwischen den eigenen und den Pflegekindern zu machen. Aber wir merkten bald, dass das nicht geht und schlussendlich auch niemandem etwas nützt.
Peter: Aber in der Haltung habt ihr schon klar durchblicken lassen, dass wir gleichwertig sind. Da gab es doch jeweils diese Beschäftigungsprogramme. Zum Beispiel Sagexformen ausstanzen zum Verkaufen, das mussten wir alles auch mitmachen. Das hätten wir als Kinder einer Kleinfamilie wohl nicht müssen. So sind wir quasi auch in den besonderen Lebenslauf hineingedrückt worden. In meiner Erinnerung war das so. Aber ich glaube auch, dass wir für euch doch immer einen besonderen Status gehabt haben. Und das durften wir wahrscheinlich zu einem gewissen Grad auch merken, aber in der Haltung habt ihr immer zumindest versucht, uns alle als gleich anzusehen. Wir hatten keine Sonderrechte.
Tschösi: Es ging ja für die Pflegekinder auch ein bisschen darum, dass sie zunächst nicht als Fremdkörper in der Familie gelten und als solche behandelt werden. Ein wenig erleichtert hat die Situation, dass am Anfang gleich die drei Geschwister zu euch zwei dazu kamen.
Peter: Schwieriger wars dann für den vierten, der dazukam. Der fünfte war dann der Älteste. Zu ihm haben wir alle aufgeschaut.
Tschösi: Der war für alle der grosse Bruder. Für die anderen war es insgesamt sicher schwieriger, weil es immer noch das Hin und Her gab mit den leiblichen Eltern. Ein Wochenende pro Monat waren sie auch bei ihnen. Zum Teil mussten sie das, zum Teil wollten sie es. Für einen Pflegeknaben war klar, dass er zu seinem Vater wollte. Diesen Schritt hat er nach der Oberstufe gemacht. Er wollte unbedingt zurück. Dafür hat er auch gekämpft. Und dieser Kampf hat natürlich auch …
Peter: Man könnte auch sagen, er hat so blöd getan, dass ihr ihn rausgestellt habt.
Tschösi: So könnte man es auch sagen. Ich denke, heute würde ich anders mit der Situation umgehen. Der Einbezug der leiblichen Eltern hat bei heutigen Pflegefamilien ein viel grösseres Gewicht bekommen. Das haben wir früher sicher zu wenig oder teils gar nicht gemacht.
Peter: Das war ja auch ein Stück weit eure Haltung. Ihr habt die leiblichen Eltern auch irgendwie als notwendiges Übel betrachtet. Die sind selten zu uns gekommen, und wenn sie mal da waren, wars komisch. Ich habe sie teilweise nicht einmal richtig gekannt. Das hatte viel mit eurer Haltung zu tun, oder? So quasi: Wir sind jetzt die Kernfamilie, am Wochenende schicken wir alle mal nach Hause und danach ist aber jedes Mal Feuer im Dach und wir müssen die Kinder wieder auffangen.
Tschösi: Es dauerte jedes Mal eine halbe Woche, bis sie wieder bei uns «angekommen» waren. Aber so war damals halt unsere Haltung. Heute wird natürlich ganz anders gearbeitet. Nach der Phase des Unterrichtens zusammen mit dem heutigen tipiti GL-Mitglied Stefan Gander am zehnten Schuljahr bin ich 2010 wieder zurück zu tipiti mit der Aufgabe, für Jugendliche und junge Erwachsene begleitete Jugend-WGs aufzubauen. Daneben haben wir angefangen, Plätze zu suchen bei Kleinfamilien, Paaren und Einzelpersonen, die dann in ihrer Pflegeelternfunktion von uns geschult und betreut wurden. Ich habe viele spannende Menschen angefragt, unter anderem auch bei euch.
Peter: Immer wieder.
Tschösi: Ja klar, ich habe bei vielen gefragt. Zur Zeit der sogenannten «Flüchtlingswelle» 2015 gelangte der Kanton Appenzell Ausserrhoden an tipiti wegen den unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden. tipiti vermittelt bis heute immer wieder Pflegefamilien für Jugendliche, die vorerst bei der Ankunftsfamilie in Trogen untergebracht sind (siehe Portrait ab S. 21). Mein Nachfolger bei tipiti hat auch Nora und mich angefragt – erfolgreich. Seit 27. September sind wieder zwei Jugendliche bei uns. Er hat explizit einen Ort gesucht, wo beide aufgenommen werden konnten, weil sich die zwei sehr gut verstehen. Beide sind Afghanen, einer kam direkt aus Afghanistan, der andere kam aus dem Iran, wo seine Eltern leben. Sie haben sich erst in der Schweiz kennengelernt und werden beide bald 17.
Peter: Ich habe eigentlich immer gesagt: Das will ich meinen Kindern nie antun. Ich mache vieles wie du, bin ja auch Lehrer geworden, wir haben eine ähnliche politische Grundhaltung etc. Alles habe ich euch nachgemacht. Aber Pflegekinder wollte ich nie. Vielleicht hat sich das allmählich geändert, als du Caro und mich immer wieder angefragt hast. Aktuell wurde es dann, als wir um- ziehen mussten, im Quartier bleiben wollten und auch einen schönen Ort gefunden haben, der aber zu gross und zu teuer gewesen wäre für uns vier. Mit dem finanziellen Zustupf für Pflegekinder hätten wir uns das leisten können. Das war der äussere Auslöser. Geklappt hat das mit der Wohnung dann doch nicht. Aber in uns selber hat es etwas bewirkt.
Tschösi: Dafür habt ihr zusammen mit tipiti etwas Neues entwickelt.
Peter: Ja, wir haben einfach gesagt, wir haben zwei freie Plätze und können relativ schnell reagieren. Für uns war aber klar, dass wir nur Jugendliche und keine Kinder wollten. Auch weil unsere Kinder bereits im Jugendalter waren. Wir wollten nicht die nächsten zehn oder fünfzehn Jahre eingespannt sein. Vor drei Jahren kam der erste Jugendliche zu uns. Er blieb etwa sieben oder acht Monate. Insgesamt waren in diesen drei Jahren vier Jugendliche bei uns, ein Junge und drei Mädchen mit unterschiedlichsten Biografien. Eine junge Frau lebt noch immer bei uns. Da haben auch unsere Kinder viel dazugelernt im Umgang mit schwierigen Situationen. Wir haben immer versucht, in der Familie eine offene Kommunikation zu pflegen. Das ist sicher anders als früher. Über die persönlichen oder familiären Probleme meiner Pflegegeschwister wurde damals viel weniger geredet. Wir versuchen immer gemeinsam möglichst viel Transparenz herzustellen. Ich denke, unser Modell ist das realistischere als eures.
Tschösi: Das ist vermutlich schon so.
Peter: Es war schön, dass ihr immer daheim wart. Aber ich würde das nicht wollen. Schon vorher haben sich Caro und ich die Arbeit geteilt, das machen wir auch weiterhin. Es ist gut, gibt es auch noch etwas anderes. Manchmal braucht es einen eben mehr zu Hause, manchmal weniger. Das ist mit eigenen Kindern ja auch so. Aber die Jugendlichen nehmen sich auch von sich aus etwas zurück, wenn sie merken, dass jemand anderes gerade besondere Begleitung braucht. Sie sind untereinander recht solidarisch. Für die Jugendlichen ist aber klar, dass sie bei uns einen besonderen Status haben, was für sie manchmal auch schwierig sein kann. Aber auch das muss man transparent ansprechen können. Und nicht wie bei euch das Gefühl vermitteln, ihr seid alle gleich. Weil das sind sie nicht. Es sind unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Geschichten. Aber auch mit gemeinsamen Geschichten. Die Unterschiede sind manchmal schmerzhaft. Zu merken, man gehört halt doch nicht ganz dazu. Das darf man auch nicht schönreden.
Tschösi: Es kam halt auch aus der Zeit heraus, so wie wir das damals gelebt haben. Da hat sich zum Glück auch einiges wei- terentwickelt. Das heutige System bei tipiti ist eher auf eine ge- wisse Lebensphase beschränkt. Gerade bei Jugendlichen: Was braucht dieser Jugendliche jetzt gerade, in seiner Übergangszeit zur Selbständigkeit? tipiti ist die Organisation, die ein Netz auf- spannt, in dem alle Beteiligten ihren Platz haben. Das war bei uns nicht so. Da ging es darum, die Heime zu schliessen und die Heimstrukturen aufzulösen. Das war der Zeitgeist. Später, in den 90er-Jahren, wurden die Paare für die Heilpädagogischen Grossfamilien rar. Es ist ja auch keine leichte Aufgabe als Paar. Man muss zusammenbleiben. Daraus entstand das neue Modell, wonach Paare oder Einzelpersonen für ein oder zwei Pflegekin- der ausgebildet und begleitet werden und nicht voll daheim sind.
Peter: Ich habe immer ganz stolz erzählt, dass ihr beide zu Hause seid.
Tschösi: Jaja, ein bisschen später dann schon. Aber die Situation war schon etwas unnatürlich. Man stand nicht so im Arbeitsalltag, wie ihr es heute macht. Ihr teilt euch die Arbeit und arbeitet auswärts. Das kann auch für Einzelpersonen funktionieren.
Peter: Für mich war von Anfang an klar: Ich wollte nie so ein konservatives Familienmodell mit Häuschen auf dem Land. Ich wollte das, wenn überhaupt, hier in der Stadt machen. Es waren jetzt auch immer Jugendliche aus der Stadt bei uns, die in diesem Umfeld unterwegs sind.
Tschösi: In der Zeit ab etwa 2010 haben wir bewusst nach Leuten in der Stadt und in Stadtnähe gesucht. Früher hat man eher nach Bauernfamilien gesucht. Ich habe selber noch Inserate in der Bauernzeitung geschaltet. Irgendwann haben wir aber gemerkt, wir brauchen Plätze in der Stadt.
Peter: Die Anonymität in der Stadt hilft, dass du nicht total auffällst als Familie oder als dasjenige Kind, das jetzt bei einer anderen Familie wohnt.
Tschösi: Die Rahmenbedingungen für Pflegefamilien sind heute allgemein besser, auch wenn sie mit mehr Bürokratie und staatlicher Aufsicht verbunden sind.
Peter: Um ein Pflegekind aufzunehmen, braucht es eine Bewilligung des Kantons. Man kann die selber beantragen. Wir haben das aber mit tipiti zusammen gemacht, gerade weil man in der Organisation ein grosses Netz an Leuten hat. Weil Caro und ich aus sozialen Berufen kommen, war es vermutlich für uns relativ einfach, die Bewilligung zu erhalten. Aber grundsätzlich können das wohl alle machen, die nachweisen können, dass sie pädagogisch nicht komplett ahnungslos sind. In unserem Fall bürgt tipiti für unsere Kompetenz. Es gibt natürlich eine Aufsicht, bei uns kam mal eine Frau vom Kanton vorbei. Sie hat mit den Pflegejugendlichen gesprochen und uns gefragt, wie es uns geht. Auch mit den leiblichen Kindern wollte sie reden.
Tschösi: Früher lief das über die Gemeinden, das war noch vor den Zeiten der KESB. Man musste sich bei den Vormundschaftsbehörden melden, man habe jetzt ein Pflegekind daheim. Dann ist jemand von der Behörde vorbeigekommen und hat nach dem Rechten geschaut. Das wars dann eigentlich. Beim VHPG war es finanziell gesehen etwas paradox, weil wir offiziell als Heim galten – ein dezentral organisiertes Schulheim. Die Grossfamilien waren die Wohngruppen. Insofern sind wir vom Kanton dann schon auch geprüft worden.
Peter: Finanziell ist es heute sicher kein Anreiz, Pflegekinder oder -jugendliche bei sich aufzunehmen. Davon kannst du nicht leben, das ist aber auch nicht die Idee und richtig so. Pro Kind sind es 40 Franken im Tag für die Betreuung plus 33 für Kost und Logis. Das sind die kantonalen Pflegegeld-Richtlinien.
Tschösi: Wenn man die Bewilligung einholt, schaut der Kanton die Einkommen an. Der Wunsch nach einem Pflegekind darf nicht finanziell begründet sein. Der Zustupf darf schon sein, aber er darf nicht zur Haupteinnahmequelle werden.
Peter: Ich finde es richtig, dass es eine kleine Entschädigung für die geleistete Arbeit gibt. Pflegekinder zu haben bedeutet nicht nur Elternsein, sondern auch Arbeit. Das ist auch ein Job. Sowieso mit Kindern älter werden, bedeutet Arbeit.
Tschösi: Dass wir jetzt nochmals angefangen und zwei UMA bei uns aufgenommen haben, ist sicherlich auch zu einem gewissen Teil zivilgesellschaftliches Engagement. Wir wollen den Kanton im Umgang mit jungen Flüchtlingen unterstützen. Ganz anders als St.Gallen, das auf Aufnahmezentren wie die Mariaburg setzt. Wir wollen ein Zeichen setzen. Junge Flüchtlinge sollten möglichst schnell in private Strukturen eingebunden werden.
Peter: Für mich persönlich ist es eigentlich nichts Politisches. Die einzige politische Auswirkung ist, dass in meinem Smartvote-Profil die Anzahl Kinder variiert. Bei Caro und mir hat es eher damit zu tun, dass wir finden, wir haben die Ressourcen, um diese Plätze anzubieten. Und wir haben zwei eigene Kinder, denen wir das – im besten Sinn – zumuten können. Obwohl ich früher gesagt habe, dass ich das meinen Kindern nie antun würde. Aber heute weiss ich, dass es für mich persönlich auch eine Bereicherung war, Pflegegeschwister zu haben. Zivilgesellschaftlich geht es aber schon auch ein bisschen drum, die systemische Zusammenarbeit, die es in vielen Bereichen bräuchte, vorzuleben.
Tschösi: Ich denke, die staatlichen Strukturen hierfür sind gegeben. Mit der Kantonalisierung der Pflegefamilienaufsicht und der Einführung der KESB sind diese Stellen professionalisiert worden. Nora und ich müssen jetzt den ganzen Rattenschwanz an Bewilligungen, Betreibungs- und Strafregisterauszügen etc. abliefern. Das ist zwar Bürokram, aber es ist auch richtig so. Es gibt auch diverse andere Organisationen, die ähnliche Angebote haben. Politisch gesehen wäre mein Anliegen, dass mit geflüchteten Jugendlichen gleich verfahren wird wie mit den einheimischen. Die heutigen Strukturen sind für Einheimische gemacht, tipiti setzt jetzt dieselben Methoden mit den UMA um. Das müsste auch noch mehr ins politische Bewusstsein rücken. Die UMA brauchen ein Nest, einen Ort zum Ankommen, um von dort aus in die Selbständigkeit zu kommen. Dazu braucht es Leute, Einzelpersonen, Paare, Familien.
Peter: Das macht einen ja so hässig: Wenn du hörst, dass der Bund nur 20 Kinder und Jugendliche aus Moria aufnehmen will. Du nimmst zwei, ich nehme zwei, schon wäre ein Fünftel davon versorgt. Du hast gesagt, es ist eigentlich gut, wie es ist. Das glaube ich nicht. Wir dürfen nicht stehenbleiben. Die Professionalisierung mit der KESB war wichtig. Aber was die neuen Ansätze von Kooperation, die systemische Zusammenarbeit betrifft, sind wir noch nicht am Ziel. Da reden immer noch so viele Instanzen bei den einzelnen Kindern und Jugendlichen mit, dann kommen noch die Leute aus dem psychiatrischen Kontext, Therapien etc. Alle kücheln ein bisschen vor sich hin. Das ist teilweise recht ermüdend, auch aus Sicht der Jugendlichen. Man muss die Jugendlichen ins Zentrum stellen und nicht einfach um sie herumplanen. Hier müsste noch einiges passieren.
Tschösi: Und was wäre dein Ansatz?
Peter: Wir sollten von dem ausgehen, was es braucht. Dass das System diese Jugendlichen begleiten kann, und nicht: Ich habe eine Idee, der Therapeut hat eine Idee, die Beiständin hat eine Idee, die Mutter hat eine Idee, tipiti hat auch noch eine Idee. Das ist eine totale Überforderung. Es braucht eine Stärkung der Netzwerke. Lieber weniger Leute, dafür starke Netzwerke. Miteinander nach Lösungen suchen. Wir haben die ähnlichen Erfahrungen gemacht wie du. Auch wir haben zu Beginn vermutlich noch zu wenig mit der leiblichen Mutter zusammengearbeitet. Es lohnt sich, die ganze Zeit am eigenen System zu arbeiten und nicht alle Kinder einfach ins bestehende reinzudrücken. Es braucht alle Personen rundherum, auch die Herkunftsfamilie, wenn es die gibt.
Tschösi: Das stimmt natürlich. Ich bin jetzt schon wieder zu fest im Denken drin von diesen Jugendlichen, die eben alleine da sind. Peter: Ja klar, da hast du natürlich kein bestehendes Netz, da musst du eins aufbauen.
Tschösi: Und unsere Aufgabe als Pflegeltern und Begleitpersonen ist es, die Kinder und Jugendlichen beim Aufbau dieser Netzwerke zu unterstützen.
Tschösi Olibet, 1954, lebt in Trogen und war Reallehrer. Anfang der 1980er-Jahre entschlossen sich seine Frau Nora und er, eine Heilpädagogische Grossfamilie zu gründen. Zu ihren zwei leiblichen Kindern Peter und Eva kamen zwischen 1982 bis 1985 fünf Pflegekinder hinzu. Bis zur Pensionierung arbeitete er bei tipiti und leitete die Abteilung Begleitetes Wohnen. Heute leben zwei junge geflüchtete Afghanen bei Nora und ihm.
Peter Olibet, 1976, wuchs als leiblicher Sohn in der Olibet’schen HPG in Wald AR auf. Der ausgebildete Lehrer ist heute Co-Leiter im Kinderlokal tiRumpel im St.Galler Lachenquartier und sitzt seit 2015 für die SP im Stadtparlament. Bei ihm, Partnerin Caro und den beiden leiblichen Kindern lebten seit 2017 insgesamt vier Pflegejugendliche.