Utopie und Spiel in St.Fiden

Bei der Bushaltestelle St.Fiden befindet sich seit Frühling ein Kunstraum. Wer durchs Schaufenster schielt, entdeckt einen visuell bestechenden Raum. Wer ihn betritt, bekommt eine sorgfältig kuratierte Ausstellung zu sehen. Ihr Schwerpunkt sind Stadtvisionen. von Nina Keel
Von  Gastbeitrag
Blick in die Chambre Directe mit den Radierungszyklen von Johannes Gachnang (Bilder: pd)

Die Chambre Directe hat keine Website und zur Zeit auch keine offiziellen Öffnungszeiten. Wer rein möchte, muss die an der Tür angebrachte Nummer wählen. Sie führt zu Felix Boekamp, einem der Initiatoren des Raums. Niederschwellig ist das nicht unbedingt, doch die Neugierigen werden so vor den schwarz-weissen Radierungen von Johannes Gachnang (1939-2005) landen. Sie sind Teil der dritten Ausstellung in der Chambre Directe – Schubiger, so der Name des Raums. Ihr Titel: Im Bad der Berauschten – Johannes Gachnang – ein paar Radierungen.

Ein Leben in Grossstädten und Utopien

Auf A2-grossen Blättern wimmelt es an kleinteiligen Formen, die zu Mosaik, Rundbögen, Kuppeln oder Portalen zusammenfinden – oder so sind zumindest die Assoziationen, die bei der Betrachtung des ersten Mappenwerks Gachnangs von 1963-1966 auftauchen. Die Formen überlagern sich immer wieder gegenseitig. Sind es nun Grundrisse oder Ornamente, die man zu erkennen meint?

Johannes Gachnang: Blatt aus «Die neue historische Architektur des Johannes Gachnang», 1963-1966.

Johannes Gachnang, der 2005 in Bern starb, hatte eine wechselvolle und höchst spannende Biografie: Der gelernte Hochbauzeichner arbeitete Anfang der 1960er Jahre im Atelier des Architekten Hans Scharoun in Berlin. In der freien Zeit entstand das erste Mappenwerk; laut Boekamp arbeitete er bis zu einem Monat an einer Radierung.

Die erste Mappe stellte er in Zürich aus und gewann einen Preis in Berlin. Daraufhin liess er sich in Istanbul nieder, wo er sich ganz der Kunst widmete. Gachnang arbeitete an einer zweiten Mappe, die wesentlich direkter und kontrastreicher daherkommt. Auch sie ist in der Chambre Directe zu sehen. Das Liebliche der ersten Mappe ist verschwunden, die Formensprache härter und moderner geworden.

Diagonalen führen über das ganze Blatt, dazu Boekamp: «Die Inspiration gaben kippende Säulen im Friedhof von Istanbul.» Der Ausstellungstitel ist übernommen von einem gleichnamigen Blatt der zweiten Mappe: In Izmir gab es ein Bad aus frühbyzantinischer Zeit, das als Bad der Berauschten bekannt war.

Johannes Gachnang: Radierung aus der zweiten Serie «Die neue historische Architektur des Johannes Gachnang. Das byzantinische Buch», 1970.

Gachnangs Lebensweg führte über Rom und Amsterdam nach Bern, wo er von 1974-1982 die Kunsthalle leitete. Später gründete er einen Verlag und war bis in die 1990er Jahre als Ausstellungs- und Buchmacher aktiv.

Von Gachnang zu Constant zu Boekamp

Die Radierungen von Johannes Gachnang machen – präsentiert an Wänden und auf Tischen – den Grossteil der Ausstellung in St.Fiden aus. Dazu gesellen sich phantastische Architekturen des niederländischen Künstlers Constant (1920-2005) und von Felix Boekamp.

Ausstellungsansicht Chambre Directe, Werke von Constant an der Wand, im Vordergrund Installation von Felix Boekamp.

Das hängt folgendermassen zusammen: Gachnang nannte Constant als wichtige Referenz für seine städtischen Utopien, und Boekamp setzt sich schon länger mit Constant, seinem Projekt New Babylon und dem Konzept des Homo Ludens auseinander. Die Idee des spielenden, nicht zweckorientierten handelnden Menschen fasziniert Boekamp. Für die Ausstellung vertonte er einen Text Constants mit einem Programm namens ISpeak und der virtuellen Stimme Steffi. Das hat zur Folge, dass die Intonation überhaupt nicht stimmt – ein erheiterndes Moment begleitet den Gang durch die Ausstellung.

Anarchisch, direkt und ephemer

Felix Boekamp, der in Nürnberg und Hamburg Kunst mit einem Schwerpunkt auf dem öffentlichen Raum studiert hat, betreibt die Chambre Directe mit weiteren St.Galler, Kölner und Hamburger Kulturschaffenden, die anonym bleiben möchten: «Dieser Ausstellungsraum ist ein Wir-Ding, an dem viele mitwirken – und es gibt keine Hierarchie», betont er.

Chambre Directe – Schubiger
Rorschacherstrasse 112, St.Gallen

Besichtigung auf Anfrage: 076 748 95 68

Der Name ist von action directe abgeleitet, hat also einen sozialpolitischen Hintergrund: Es geht um das unmittelbare Tätig-Werden zur Erreichung eines Ziels. Der Zusatz «Schubiger» bezieht sich auf den Vormieter, das gleichnamige Fachgeschäft für Haushaltsgeräte, und hat den Vorteil, dass die St.Gallerinnen und St.Galler gleich wissen, welcher Raum gemeint ist. Gleichzeitig ist darin Schub enthalten: «Ein Schub steht für etwas Energetisches, das direktes, schnelles und unabhängiges Agieren ermöglicht. So soll auch dieser Kunstraum funktionieren», erklärt Boekamp.

Und wie steht es um die inhaltliche Ausrichtung der Chambre Directe? Zeitgenössisches kommt vor, aber ist bei weitem nicht der ausschlaggebende Punkt. Ein Augenmerk liegt auf Gattungen, die in den hiesigen Institutionen wenig vorkommen wie Künstlerplakate, Einladungskarten und Künstlerbücher – in letzteren soll geblättert werden. Mit solchen Ephemera und Multiples ist eine nächste Ausstellung geplant, ferner eine Kooperation mit dem Zentrum für das Buch der Kantonsbibliothek.

Die Chambre Directe zeigt sich als Raum, der sich nicht anbiedert, nicht um sein Publikum buhlt und einen klaren Bestandteil der künstlerischen Praxis von Boekamp und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern bildet. St.Fiden kann vermehrt mit dem Homo Ludens rechnen – und es darf etwas auch mal nicht aufgehen.