Unverzichtbare Ressource

Archivmaterial bietet Filmemacher:innen sowie Publikum die Möglichkeit, historische Ereignisse und Entwicklungen in visueller Form zu erleben und besser zu verstehen. Die Zürcher Kunsthochschule ZHdK hat eine zweitägige Konferenz zum Umgang mit Archivmaterial in Dokumentarfilmen abgehalten.
Von  Philip Bürkler
Gut besucht: die Zürcher Dokumentarfilmtagung in der Gessnerallee. (Bild: pb)

«Stamattina mi sono alzato, O bella, ciao! Bella, ciao! Bella, ciao, ciao, ciao! Stamattina mi sono alzato, E ho trovato l’invasor…», sang Filmemacherin Giulia Giapponesi gekonnt ins Mikrofon auf der Bühne der Zürcher Dokumentarfilmtagung ZDok.23 vergangene Woche in der Gessnerallee und überraschte damit das Publikum.

Bella Ciao, die bekannte italienische Widerstandshymne gegen Invasoren, Unterdrückung und soziales Unrecht, ist im 19. Jahrhundert entstanden und wurde von zahlreichen Protestbewegungen adaptiert. Unter anderem im Arabischen Frühling, von der Occupy-Bewegung in den USA oder bei Demonstrationen gegen Globalisierung, Klimawandel sowie gegen Regierungen in Ländern wie dem Libanon, Chile und der Türkei.

Breiten Kultstatus erlangte Bella Ciao 2017 durch die Netflix-Serie Haus des Geldes: Ein Mann namens «Der Professor» rekrutiert darin acht Personen, um in die staatliche Banknotendruckerei einzubrechen und dort Euronoten im Wert von Milliarden zu drucken. An mehreren Stellen in der Serie singen die Bankräuber:innen Bella Ciao.

Giulia Giapponesi war von den verschiedenen Adaptionen des Liedes in Protestbewegungen und in der Popkultur so fasziniert, dass sie beschloss, einen Dokumentarfilm zu drehen und sich auf die Suche nach dem Ursprung des Liedes zu begeben. In ihrem Film Bella ciao – Per la libertà spricht die Autorin mit einigen der letzten noch lebenden Partisanen, die während des Zweiten Weltkriegs in der italienischen Resistenza gegen den Faschismus gekämpft haben und es angeblich als Widerstandshymne gesungen haben.

Während ihrer Recherchen stellte Giapponesi jedoch fest, dass die Partisanen das Lied damals wahrscheinlich gar nicht gesungen haben, obwohl dies bis heute die landläufige Meinung war.

 

Für den Film durchsuchte Giapponesi zahlreiche Archive und suchte bei Privatpersonen nach Filmmaterial aus der damaligen Zeit, auf dem italienische Partisanen während des Krieges zu sehen sind. Sie fand jedoch keinen Ausschnitt, auf dem die Männer Bella Ciao singen. Auch die befragten ehemaligen Widerstandskämpfer konnten sich nicht daran erinnern, das Lied damals gesungen zu haben.

Giapponesi wurde schliesslich in einem Archiv fündig, jedoch mit einer Aufnahme, die keine Partisanen zeigt. «Die erste Filmaufnahme des Liedes stammt aus dem Jahr 1953, also nach dem Krieg», erklärt Giapponesi.

Kreative Kritik gegen Bild-Monopolisten

Einen ganz anderen Zugang zu Archivaufnahmen hat der britische Filmemacher und Filmwissenschaftler Richard Misek gewählt. A History of the World According to Getty Images ist ein experimenteller Dokumentarfilm, der komplett aus Archivmaterial von Getty Images besteht.

Misek untersucht dabei die Rolle von Bildern in unserer heutigen Welt und wie sie unsere Wahrnehmung von Geschichte, Kultur und Politik beeinflussen. Sein Film ist aber vor allem eine Kritik an der Monopolstellung des US-Unternehmens Getty Images und dessen Macht und Kontrolle über das visuelle Kulturerbe der Menschheit.

Die Film- und Bildagentur Getty Images wurde 1995 gegründet, besitzt heute jedoch weltweit fast alle Urheberrechte und Lizenzen von historischen Film- und Fotoaufnahmen des 20. und 21. Jahrhunderts. Getty hat über Jahre hinweg zahlreiche Archive aufgekauft und die darin enthaltenen Werke unter eigene Lizenzen gestellt, mit denen das Unternehmen nun jährlich Millionen verdient.

 

In der Collage A History of the World According to Getty Images zeigt Misek die meisten historischen Aufnahmen daher inklusive der sich mittig im Bild befindenden transparenten Wassermarke «Getty Images», die das Unternehmen auf seiner Website in die frei zugänglichen Previews setzt. Für den Download der Aufnahmen ohne Wassermarke hätte Misek bis zu 53’000 Dollar Lizenzgebühren hinblättern müssen.

Wann sind SRF-Archive für Künstleri:innen frei zugänglich?

Auch die Podiumsdiskussion mit Sabine Gisiger, Luzia Schmid und Anka Schmid war aufschlussreich. Die Filmemacherinnen suchten nach einem feministischen Blick auf Archivaufnahmen. Seit dem 20. Jahrhundert ist der Bereich Film mehrheitlich von Männern geprägt, was sich bis heute auch auf die Sichtweise in Archiven auswirkt.

In ihrem aus Archivmaterial montierten Film Trained to See – Three Women and the War suchte Luzia Schmid bewusst nach weiblich gelesenen Archivaufnahmen, um damit die Geschichten der ersten weiblichen Kriegsreporterinnen während des Zweiten Weltkriegs zu erzählen.

Anka Schmid präsentierte eine ältere Arbeit, die sie aus sogenannten Found Footages gestaltet hatte. Die Aufnahmen, die sie exklusiv für ein Projekt in Zusammenarbeit mit SRF im Archiv des Schweizer Fernsehens gefunden hatte, zeigen die «Herren» der globalen Politik – darunter Jacques Chirac, Bill Clinton oder Wladimir Putin –, wie sie sich während einer Konferenz in den späten 1990er-Jahren für das übliche Gruppenfoto positionieren. Auf fast schon komische und lächerliche Art versucht sich der kleine Putin in den Vordergrund zu drängen. Es sind Aufnahmen, die so nie im Fernsehen gezeigt wurden.

Der Umgang mit Archivaufnahmen in Dokumentarfilmen ist ein wichtiges und brennendes Thema, weshalb die ZHdK-Verantwortlichen dazu eine eigene Konferenz organisiert haben. Dennoch sind einige Fragen zu kurz gekommen oder wurden gar nicht angesprochen. Beispielsweise hätte der Schwerpunkt zum Umgang mit Bildern aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust besser im Kontext von Konflikten des 21. Jahrhunderts (wie dem Syrien-Krieg, den Dramen im Mittelmeer oder dem Ukraine-Krieg) diskutiert werden können.

Im Diskurs über die Nutzung von Archivaufnahmen wurden auch wichtige Aspekte wie die Remix-Kultur im Netz und die grossen Public-Domain-Bestände, die allen Kreativen ohne Kosten für Urheberrechte frei zugänglich sind, leider nicht berücksichtigt. Ebenso fehlen Antworten auf dringende Fragen zur Offenheit von Archiven – Stichwort «Open Archive» –, beispielsweise warum die Filmarchive des Schweizer Fernsehens SRF noch immer nicht für nichtkommerzielle künstlerische Zwecke sowie für Dokumentar- und Experimentalfilme genutzt werden können.