Als das Kloster St.Gallen vor über 1300 Jahren gegründet wurde, war die Region noch dicht bewaldet. Im Laufe der Zeit wurde der Wald zunehmend zurückgedrängt, und aus der kleinen Einsiedelei entwickelte sich ein mächtiges Kloster, für welches das bewaldete Herrschaftsgebiet von zentraler Bedeutung war. Der Wald lieferte Bau-, Brenn- und Heizholz, Material für Handwerk und Kunst, diente als Weide für Nutztiere und als Lieferant von Jagdwild.
Die neue Jahresausstellung des Stiftsarchivs St.Gallen «Mönche im Wald» und die kleine Begleitpublikation beleuchten das mit verschiedenen Schlaglichtern. Das ist durchaus interessant, wobei die Ausstellung alles ziemlich knapp präsentiert. Für einen wirklichen Einblick ist die Begleitpublikation unentbehrlich. Bei der Ausstellung ist insbesondere auf die Porträts dreier Waldkomplexe hinzuweisen, die heute dem Katholischen Konfessionsteil gehören, dem Rechtsnachfolger der 1805 aufgehobenen Fürstabtei St.Gallen. Die Porträts machen Lust, sich diese Gegenden einmal vor Ort anzusehen, darunter das Wissholz in Gossau, ein Waldstück mit eindrücklichen Eichen und einigen schönen Douglasien. Interessant sind auch die farbigen Rekonstruktionszeichnungen. Zu sehen sind etwa das Kloster St.Gallen um 850, oder ein Blick auf die Bodenseegegend um dieselbe Zeit. Faszinierende Einblick in längst vergangene Welten.
Zurückgedrängte Natur
Ausstellung und Begleitpublikation machen aber auch etwas ratlos. Sie sehen vor lauter Bäumen den Wald nicht, will sagen: Sie verlieren sich mehr oder weniger in den Archiv-Funden und Detailfakten und vergessen wichtige nichtklösterliche Kontexte, die hier mit im Spiel sind. Die Tiere und Pflanzen, das Ökosystem Wald und der Klimawandel kommen nur ganz am Rand vor, sind Statisten und Ressourcen. Dasselbe gilt für den zivilisationskritischen Aspekt bis hin zum spirituellen Aspekt der «Mitgeschöpflichkeit», bis zum «Netz des Lebendigen», das uns Menschen mit allen andern Lebewesen verbindet. Für die Ausstellung und die Begleitpublikation ist die Wald-Geschichte des Klosters St.Gallen eine Fortschritts- und Erfolgsgeschichte.
Man kann das auch anders sehen. Das Kloster St.Gallen gehörte in der Ostschweiz und darüber hinaus zu den wichtigen Akteuren im Zurückdrängen der Natur, im Umbau der natürlichen Landschaft in eine Wohn- und Gebrauchslandschaft für Gewerbe, Landwirtschaft, Mobilität und manches mehr. Im Vergleich zu heute waren diese Eingriffe längst nicht so brachial, nur schon wegen der begrenzten technischen Mittel. Der Anfang war aber gemacht, eine Entwicklung, die später in sehr ungute Bahnen geriet: Immer mehr Landschaft wurde banalisiert, ausgeräumt oder sogar zerstört. Zu den Leidtragenden gehörten diverse Tier- und Pflanzenarten, unter ihnen auch der Bär. Für ihn sollte die Begegnung mit Gallus langfristig gravierende Folgen haben. Der letzte St.Galler Bär wurde Ende des 18. Jahrhunderts im Sarganserland erlegt. Die Ausstellung und die Begleitpublikation klammern auch das aus.
Vergleichbar mit Regenwaldabholzung
Die genannten Entwicklungen laufen längst rund um den Globus, und vielerorts noch viel drastischer als in unserer Gegend. Wache Zeitgenoss:innen realisierten das schon früh, Henry David Thoreau (1817–1862) etwa, Aussteiger, Ökologie-Pionier und Schriftsteller in Concorde, Massachusetts. In seinen Texten thematisierte er diese Entwicklungen intensiv, etwa in Chesuncook, dem Bericht über einen Streifzug durch die Wälder von Maine. Die Holzwirtschaft und die Besiedelung dort wurden mit einer Brachialität und Kaltschnäuzigkeit betrieben, die an die heutigen Verhältnisse im Regenwald erinnern.
Zu diesem zivilisationskritischen Blick könnte auch gehören, gewisse Fakten aus der Ausstellung und der Begleitpublikation mit bewusst heutigem Blick zu lesen. Im Frühmittelalter war zum Beispiel, in unserer Gegend der deutsche König der grösste Waldbesitzer. Ihm gehörten alle unerschlossenen Wälder ausserhalb der Siedlungen – wertvolle Jagdgebiete. Wem «gehört» der Wald? Wem «gehört» die Landschaft? Interessant ist auch der Begriff «Rodungsinsel», im frühen Mittelalter eine Zone menschlicher Gemeinschaft inmitten von Wald. Heute, in Zeiten des Klimawandels, ist die «Hitzeinsel» aktuell, vor allem in den Städten: eine Zone gestauter Hitze, mit entsprechenden gesundheitlichen Folgen für uns Menschen, aber auch die Tier- und Pflanzenwelt.
Kurz: Aufgrund ihrer weltweit einzigartigen Bestände wurden Stiftsarchiv und Stiftsbibliothek St.Gallen 2017 in die Liste des «Memory of the World» der UNESCO aufgenommen. Das ist eine Ehre und eine Verpflichtung, verbunden mit viel Arbeit. Der Blick in die Gegenwart sollte dabei aber nicht vergessen gehen.