Unschweizerisch
«Wir sind, sehr simpel, vom Umstand ausgegangen, dass in St.Gallen mehr als ein Viertel der erwachsenen, Steuer zahlenden Wohnbevölkerung kein Stimmrecht hat, und wir haben dies in einer Weise skandalisiert, dass wir sagten: Wenn fast 30 Prozent der Menschen in unserem Kanton nicht abstimmen können – und das in der Schweiz, also in einem Land, das sich die älteste Demokratie der Welt nennt –, dann müssen wir entweder den Namen unseres politischen Systems ändern, denn der inklusive Begriff der ‹Demokratie› passt für eine real durch nur eine ethnische Gruppe ausgeübte Herrschaftsform nicht mehr, oder wir müssen die Demokratie retten, also das Stimmrecht für Ausländerinnen und Ausländer einführen.»
So umschreibt Regisseur Milo Rau 2019 im Buch Das geschichtliche Gefühl den Ausgangspunkt seines Theaterprojekts City of Change im Jahr 2010/11 am Theater St.Gallen. Es ging darin bekanntlich um eine Recherche zum «St.Galler Lehrermord». Nach heftigen Protesten bis zu Morddrohungen sagte das Theater das Stück, das zu jenem Zeitpunkt noch gar nicht existierte, ab. Rau nannte das Projekt daraufhin um in City of Change und fokussierte es auf die Thematik des Stimm- und Wahlrechts.
Fahnen, Debatten und eine Petition
Das theatralische Vorgehen, als «symbolischer Totalitarismus» bezeichnet, habe darin bestanden, linke, rechte und liberale Symbole zu kombinieren, schreibt Rau: das «Sünneli» der SVP, die Friedenstaube und das St.Galler Kantonswappen. Das progressive Anliegen kam in konservativ-nationalistischem Kleid daher und zielte darauf ab, die reale «Oligarchie» der Stimmberechtigten als «unschweizerisch» zu denunzieren. Hinzu kamen Debatten, es wurde eine Schattenregierung, das «Government of Change» gewählt, eine Petition lanciert usw. Diese vorerst «eher aus Spass» geschaffenen, der Politik entlehnten Elemente seien bemerkenswert ernst genommen worden.
«Es entstand eine Art Wettbewerb darin, aus seiner üblichen, mürrischen, zögerlich-zynischen Rolle hinauszutreten in den politischen Raum, in dem plötzlich alles möglich zu sein schien», schreibt Rau. Die Antwort des Projekts auf diesen «konsensuellen Rauschzustand» war, Gegensteuer zu geben, in Form einer gefakten Volksinitiative mit dem Titel «Die Schweiz den Blutschweizern». Sie trieb den Abstammungsirrsinn der Nürnberger Rassengesetze der Nazis auf die Spitze. Das Resultat sei, zum Schrecken der Theaterleute, eine «überbordende Zustimmung» beim Unterschriftensammeln gewesen. City of Change titelte: «Sind die Schweizer die neuen Nazis?».
Am 3. Juni 2011 hielt Schauspieler Alexandre Pelichet als «Interimspräsident» seine letzte pathetische Rede, in der er die Macht feierlich in die Hände des Volks legte und daran erinnerte, dass «die Schweiz in dem Moment aufhört zu existieren, wenn ein einziger ihrer Bewohner seine Stimme verliert». Rau zog in einem Interview in der WOZ zum Vergleich das Theater des 18. Jahrhunderts bei: Bereits damals habe Theater im Geist der Aufklärung «Minderheiten zu Menschen, zu gleichberechtigten Bürgern» gemacht. «Denn erst was gezeigt wird – auf der Bühne, im öffentlichen Raum –, ist auch vorstellbar. Und erst das, was vorstellbar ist, wird möglich.»
Bis jetzt allerdings ist es bei der Möglichkeitsform geblieben. In den knapp zehn Jahren seit dem Theaterprojekt ist auf der Bühne der Politik nichts geschehen. Realpolitische Veränderung sei allerdings auch nicht der Anspruch der Kunst, differenziert Rolf Bossart, St.Galler Publizist, Mitdenker der ersten Stunde in Raus Projekten und innerhalb der City of Change-Regierung mit dem «Amt für Theorie» betraut (es gab auch ein «Amt für Propaganda», wie einst bei Goebbels).
Vielmehr sei es um inszenierte Verunsicherung gegangen, die ein «Akt der Aufklärung über die wahren Zustände» sei, schreibt Bossart im Rau-Buch Die Enthüllung des Realen. Raus «kultische Symbolisierungsakte» liefen darauf hinaus, Realität noch einmal herzustellen – ob beim Stück über die Ermordung Ceausescus, bei den Moskauer Prozessen oder dem St.Galler City of Change-Projekt. «Milo Rau führt in seinem Theater die Leute wieder an jenen Punkt, wo ‹es› getan wird», mit dem Ziel, «den kollektiven Prozess des Verstehens in Gang zu bringen».
Das starke Medien- und Publikumsecho habe gezeigt, dass es dem Projekt gelungen sei, das Thema neu aufs Tapet zu bringen, sagt Bossart. Und dies bis hin zu einer konsultativen Befragung im «Tagblatt», die ein «Ja» zum Ausländer-Stimm- und -Wahlrecht ergab – während zeitgleich in der Stadt Basel über dieselbe Frage offiziell abgestimmt wurde und gerade einmal 20 Prozent Ja-Stimmen zusammenkamen. So publikumswirksam das St.Galler Projekt selber war, inklusive Vorwurf, mit den Mitteln des Theaters «Spasspolitik» zu betreiben, ein Vorwurf, der immer rasch zur Hand ist, wenn sich Kunst realpolitische Instrumente aneignet – so rasch aber war das Thema wieder weg. Bossart stellt fest: «Es gab niemanden, der den Faden aufgenommen und sich das Thema angeeignet hätte.»
Zum Beispiel Ausserrhoden
Dabei hätte es Vorbilder gleich um die Ecke gegeben: in Appenzell Ausserrhoden. Zwar sind es gerade einmal 45 Personen in den vier Ausserrhoder Gemeinden Wald, Rehetobel, Speicher und Trogen, Stand 2019 – aber immerhin mehr als in allen anderen Deutschschweizer Kantonen, mit Ausnahme von Graubünden. Denn nur Ausserrhoden und Graubünden kennen per Kantonsverfassung das fakultative Stimm- und Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer auf Gemeindeebene. Die Voraussetzungen lauten, mindestens zehn Jahre in der Schweiz und mindestens fünf Jahre im Kanton wohnhaft zu sein.
Initiative im Kanton Zürich
Im Kanton Zürich ist das kommunale Stimmrecht für Ausländerinnen und Ausländer einen Schritt weiter. Der Kantonsrat hat am 6. Januar 2020 eine Behördeninitiative des Zürcher Stadtrates vorläufig unterstützt, die den Gemeinden die Möglichkeit einräumt, ein solches Recht für Ausländerinnen und Ausländer einzuführen, die seit mindestens zwei Jahren in der Gemeinde wohnen. Stadtpräsidentin Corine Mauch sagte,es sei demokratie-politisch wünschenswert, dass politische Entscheide breiter abgestützt würden. Die 10-jährige Wohnsitzfrist für Einbürgerungen führe bisher dazu, dass auch sehr gut integrierte Ausländerinnen und Ausländer vom politischen Leben ausgeschlossen blieben.
In den anderen 16 Ausserrhoder Gemeinden ist das Ausländerstimmrecht abgelehnt oder gar nie diskutiert worden. Anders sieht die Landkarte in der Westschweiz aus. Dort kennen alle Kantone mit Ausnahme des Wallis das Stimm- und Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer auf kommunaler und kantonaler Ebene. In Appenzell Ausserrhoden könnte das auch kommen – in den Vorberatungen der Kommission für die neue Kantonsverfassung im Sommer 2019 ist die Ausweitung auf kantonale Vorlagen jedenfalls mehrheitsfähig gewesen, ebenso das Stimm- und Wahlrechtsalter 16.
Ausserrhoden macht vor, was sonst rundherum offensichtlich kein Thema ist. «Das Projekt City of Change wollte und konnte das nicht ändern», sagt Rolf Bossart. «Was wir wollten, war, den Diskurs in Gang zu bringen und zu sagen: Es ist ein Skandal, dass ein Viertel der Bevölkerung politisch nicht repräsentiert ist.»
Dieser Beitrag erschien im Januarheft von Saiten.