, 16. Oktober 2020
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Undatierter Schmerz

Leben als über Generationen sich kumulierendes Inferno: Gleich in zwei Büchern erzählt Dragica Rajčić Holzner die Geschichte von Ana Jagoda und ihrem Befreiungsversuch aus der patriarchalen Gewaltspirale. Am 22. Oktober liest sie in St.Gallen aus «Liebe um Liebe» und «Glück».

Dragica Rajčić Holzner. (Bild: Ayse Yavas)

Der Ort heisst «Glück». Aber er bringt der Erzählerin im gleichnamigen Roman nichts als Unglück. Ana Jagoda heisst sie, sie trägt in ihrem Nachnamen den Duft von Erdbeeren mit sich – aber in ihrem Kindheitsdorf in Dalmatien war ihr Aufwachsen ein einziges Desaster. In Dragica Rajčić Holzners neuen Büchern gibt es kein Glück, nur Kaskaden von Unglück.

Die Mutter: manchmal über Stunden «unsichtbar», selten die Erinnerung an ein Lachen. Der «fremde überdimensionale» Vater: Angestellter bei der staatlichen Eisenbahn und ein gewalttätiger Säufer. «In ihm kochte Zornsuppe»: Das ist eines der heftigen Bilder, die die Autorin für den Vater findet. Der macht es sich zur Aufgabe, aus den Kindern «die Schlechtigkeit aller Menschen» auszutreiben – und haut deshalb der Tochter auch schon mal mit dem Hosengurt den Rücken wund. Die Kinder beten zu Gott, «den Vater zum Verschwinden zu bringen» – vergeblich.

Die Tätermänner bringt Ana ein Leben lang nicht los. Was sich mit dem Schreckensvater abspielt, repetiert sich später bei Don Lilo, dem schmierigen Priester, der Ana betatscht und ihre Freundin Tea schwängert. Und mit Igor, dem Jungen aus dem Dorf namens «Glück», der Ana im Heuschober verführt. Erst ist es die grosse Liebe, dann die Schwangerschaft und die Flucht (so wie schon die Mutter und die Grossmutter aus dem Vaterhaus geflüchtet waren) vor dem Zorn des Vaters, der sie als «kurva», als Hure beschimpft.

Im Fluchtort Split erlebt Ana eine kurze erfüllte Zeit, mit der Familie gibt es einen Aussöhnungsversuch, aus dem sie als «begnadigte Aussätzige» herauskommt. Doch rasch verwandelt sich auch Igor vom fürsorglichen in den eifersüchtigen Mann, den Trinker, den Betrüger, den Schläger. Ana, «vortot» vor Schmerz, nimmt alle Schuld auf sich, stellt den «Weltrekord in Tränen» auf, verzeiht dem Mann, das Paar emigriert in die USA, doch auch diese neuerliche Flucht hilft nichts.

Kind, Abtreibung, Selbstmordversuch, Schläge: Die Schlinge zieht sich enger und enger um Ana, bis sie im Frauenhaus landet, das im Buch einen drastischen Namen trägt: «Womanirrhaus».

Brüche und Risse in der Sprache

Man folgt diesem Drama mit atemloser Spannung, nicht weil die Geschichte vom Tätermann und der ihn immer wieder entschuldigenden und sich beschuldigenden Frau neu wäre – sondern wegen der sprachlichen Wucht und Unerbittlichkeit, mit der Dragica Rajčić die Dinge beim Namen nennt. Das gilt sowohl für das in der Spoken-Word-Reihe des Verlags Der gesunde Menschenversand erschienene Buch Glück als auch für den bei Matthes & Seitz verlegten Roman Liebe um Liebe, die beide den selben Stoff behandeln.

Dragica Rajčić Holzner:
Liebe um Liebe. Matthes & Seitz, Berlin 2020, Fr. 27.90.
Glück. Der gesunde Menschenversand, Luzern 2019,
Fr. 26.90

Dragica Rajčić, Jahrgang 1959, seit 1978 in St.Gallen lebend als Gastarbeiterin und Autorin, 1988 zurück in Kroatien und seit dem Kriegsausbruch 1991 wieder in der Schweiz, schreibt seit jeher in dem Deutsch, das nicht ihre Muttersprache ist. Ihre Sprache hat Schäden und Fehler, sie ist selber lädiert, sie erzählt die Verwüstungen und Beziehungskrisen nicht bloss, sondern macht sie selber durch.

In den früheren Gedichtbänden, in Halbgedichte einer Gastfrau, Lebendigkeit ihre züruck, Nur Gute kommt ins Himmel, Post bellum oder dem 2004 erschienenen Buch von Glück war die Brüchigkeit dieses Idioms noch ausgeprägter, die Fehler türmten sich auf. In Glück, aus einem Theaterstück entwickelt, sind die Beschädigungen seltener geworden, aber sie sind weiter da – falsche oder fehlende Artikel, Wortwendungen, die den vertrauten Begriff mit zusätzlicher, wunderlicher oder augenöffnender Bedeutung aufladen. Da wird aus dem sich erbarmenden ein «erbärmlicher» Gott, da stürzt an einer «Haarspalt Grenze» die Liebe ab, da werden aus Arschlöchern «Arschlocher», da stapeln sich Briefe, welche Ana «ungeschickt» hat.

Das Traumatisierende an Anas Geschichte, die die Geschichte zahlloser geschlagener Frauen ist, reicht bis tief in die Wörter, Satzstellungen und Bilder. Das gilt auch noch für Liebe um Liebe. Obwohl hier die Orthographie duden-konform ist, bleibt die ungebärdige Kraft der Sprachbilder und die Atemlosigkeit des Erzählens erhalten.

Familiäre Gewaltüberlieferung

Das so Packende wie Qualvolle an dieser Geschichte ist die Erkenntnis: «Das Eigentliche / wird nie durch die Worte oder Geschichten weitergegeben / die zweite Generation übernimmt / die tiefe Erinnerung der Eltern». Die Erzählerin sagt es in Glück selber so: «Ich redet obwohl es Ich nicht gibt.» Die Überlieferung über Generationen, die familiäre Gewaltgeschichte von den Ahnen bis zu den künftigen Kindern, das ist in Rajčićs Worten ein «Inferno / welches sich nicht leben lässt».

Lesung: Do 22. Oktober, 19.30 Uhr Kunsthalle St.Gallen, organisiert von Literaturhaus und Bibliothek Wyborada. Platzzahl beschränkt, Reservation: wyborada.ch

Igors Vater zum Beispiel, man erfährt es gegen Ende, kam selber schwer traumatisiert aus dem Zweiten Weltkrieg, die Schrecken des Kriegs haben sich ihm und seinen Kindern ein- und in ihnen weitergeschrieben. «Das ganze Land hatte solche Väter.» «Die Ursachen», sagt Jennifer, die Therapeutin in Chicago, in Liebe um Liebe, «liegen auf dem Schlachtfeld im Ersten Weltkrieg, im Zweiten, sie liegen in Wäldern, in den toten Augen der Kinder, in der Schizophrenie, in der Politik…». Nicht umsonst klingt im Romantitel die alttestamentarische Racheparole «Auge um Auge, Zahn um Zahn» an.

Leben, Liebe, Sterben als über Generationen sich kumulierendes Inferno: Dagegen ist kein Kraut gewachsen und kein «Glück» in Sicht. Ausser die Hoffnung auf eine dennoch «unversehrte Geschichte», auf einen innersten Kern, der in Träumen aufscheint und den die Erzählerin in Glück am Ende vielleicht in der fragilsten und zugleich stabilsten aller Heimaten findet: in der Sprache.

Eher aber bleibt im Kern: Illusionslosigkeit. «Unser Körper», heisst es einmal, «ist voll von undatiertem Schmerz.»

Eine erste Fassung dieses Beitrags erschien im Aprilheft von Saiten.

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