, 5. Juni 2024
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Umtriebig, getrieben und unterdrückt

Der Toggenburger Jakob Rudolf Forster (1853–1926) war vermutlich der erste Schweizer, der offen für die Rechte Homosexueller kämpfte – und dafür immer wieder weggesperrt wurde. Jetzt erscheint eine ausführliche Biografie über ihn.

In der Männerbadeanstalt Zürich ging es nicht immer nur um körperliche Ertüchtigung: Auch Jakob Rudolf Forster hat sich Ende 19. Jahrhundert dort aufgehalten. Von ihm selber ist kein Bild überliefert. (Bild: pd/Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich)

Er war Honighändler, Heiratsvermittler, Finanzagent, Bewunderer des kunstliebenden bayrischen «Märchenkönigs» Ludwig II. – und wohl der erste Schwulenaktivist der Schweiz: Jakob Rudolf Forster, geboren 1853. Wobei die Zuschreibung «schwul» damals noch nicht gebräuchlich war und sich der Begriff «Homosexualität» erst allmählich etablierte. Die Rede war im 19. Jahrhundert von «Sodomiten» oder «Päderasten». Forster selber bezeichnete sich nicht ohne Stolz als «Urning».

Den Kantons- und Gemeindebehörden galt er als geistesgestörter Querulant, eine Sichtweise, die sogar der Bundesrat übernahm. Wegen angeblicher Betrugsdelikte, vor allem aber wegen seiner offen gelebten Homosexualität wurde er über Jahre immer wieder ins Gefängnis gesteckt, in psychiatrischen Heilanstalten versorgt und zu Zwangsarbeit verdingt. In verschiedenen Gemeinden verwehrte man ihm die Niederlassungsbewilligung, in St.Gallen wurde sie ihm entzogen. Man wollte ihn sogar ins Exil nach Argentinien schicken.

Zeitlebens erfuhr Forster aufgrund seines Liebeslebens, das er in seinem «Liebhaberheft» feinsäuberlich protokollierte, Hass und Gewalt, wovon auch seine Gefährten nicht verschont blieben. Und zeitlebens kämpfte er gegen diese Ungerechtigkeit an. Er stand in Kontakt mit führenden Persönlichkeiten der frühen Schwulenbewegung, verfasste Flugblätter und verschickte die neueste sexualwissenschaftliche Literatur in die Amtsstuben, ohne dort auf Gehör zu stossen.

Philipp Hofstetter, René Hornung: Der Urning – selbstbewusst schwul vor 1900. Hier und Jetzt, Zürich 2024.

Buchvernissage mit Lesung und Musik: 7. Juni, 18:30 Uhr, Stadthaus der Ortsbürgergemeinde St.Gallen (Festsaal).

Vom Verfolgten zum Aktivisten

Aufgewachsen in einfachen Verhältnissen auf einem Bauernhof in Brunnadern, macht Forster als Zehnjähriger seine ersten «Doktorspiel»-Erfahrungen mit einem gleichaltrigen Buben. Als er mit 18 den Konfirmationsunterricht besucht, wird ihm seine Neigung bewusst. In seiner 180-seitigen Autobiografie schreibt er: «In diesem Jahre erwachte in mir neben der Nächstenliebe auch die physische, leider aber auf eine Weise, die mir sehr unlieb war, denn (…) alles, was Jünglinge begeisterte, erweckte in mir Abneigung, ja Ekel, während ich für Jünglinge innige Liebe empfand, und mehr als Freundschaft, ach, Geschlechtsliebe!»

Nachdem sein Vater verstirbt, übernimmt er dessen Honigdepot an der Spitalgasse in St.Gallen. Nebenbei baut er sich ein Geschäft als Heiratsvermittler auf. Er pendelt – nicht immer freiwillig – zwischen Zürich, St.Gallen und dem Toggenburg und reist nach Friedrichshafen, Stuttgart, München, Wien, Pressburg.

Umtriebig ist der junge Forster, aber auch ein Getriebener. Er bewegt sich mit einer gewissen Leichtigkeit zwischen den sozialen Schichten und macht keinen Hehl aus seiner Liebe für Männer. Darum ist er als Mieter mit meist bescheidenen Einkünften nicht überall willkommen. Vor allem, wenn er seine Liebschaften mit nach Hause bringt oder gar bei sich wohnen lässt und Geräusche macht, «wie wenn Eheleute beieinander liegen», wie 1879 ein Vermieterpaar der St.Galler Polizei zu berichten weiss. Die Denunziation führt zur ersten Verhaftung Forsters und ist Auftakt einer jahrelangen juristischen und administrativen Verfolgung des Mannes, der sich so allmählich zum behördenkritischen Schwulenaktivisten entwickelt.

Als Forster 1877 zum ersten Mal nach Friedrichshafen übersetzt, erhält er von seinem «Liebhaber Nummer 27» eine Schrift des deutschen Juristen Karl Heinrich Ulrichs, der als Vorreiter der modernen Schwulenbewegung im deutschsprachigen Raum gilt. Ulrichs begründet in diesen Jahren die sogenannte Uranismus- oder Urning-Theorie, die anhand neuer Erkenntnisse über die geschlechtliche Entwicklung von Embryonen versucht, das Phänomen mannmännlicher Liebe biologisch zu erklären und und so gesellschaftlich zu legitimieren. Es ist eine frühe akademische Entgegnung auf den juristischen und psychiatrischen Mainstream, der Homosexualität noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein kriminalisierte und pathologisierte.

Schwules St.Gallen im 19. Jahrhundert

Dass Homosexualität meist im Verborgenen gelebt wurde, machte Forster sich zunutze. Manch ein Verfahren gegen ihn wurde stillschweigend ad acta gelegt, weil er damit drohte, die ihm angeblich zu Dutzenden bekannten Namen heimlicher «Urninge» aus der Oberschicht zu veröffentlichen. Für einen verkappten Homosexuellen hielt Forster beispielsweise auch den damaligen St.Galler Staatsarchivar Otto Henne am Rhyn, der einer der ersten Rezipienten von Ulrichs’ Urning-Theorie war, später aber aus unbekannten Gründen wieder davon Abstand nahm.

Den beiden Autoren Philipp Hofstetter und René Hornung ist mit Der Urning – selbstbewusst schwul vor 1900 ein vielschichtiges Portrait über den bisher ersten bekannten Schwulenaktivisten der Schweiz gelungen. Eingebettet ist das im Wesentlichen als historische Reportage angelegte, knapp 400-seitige Werk in den sozial-, kultur- und rechtsgeschichtlichen Kontext mit besonderem Fokus auf St.Gallen.

Die Autoren haben damit auch einen ersten ausführlichen Beitrag zur St.Galler Sexualitäts- und Schwulengeschichte vorgelegt. Schliesslich sei wie in anderen urbanen Industriezentren auch hier – in der damals aufstrebenden Stickereistadt von Weltrang – so etwas wie eine schwule Subkultur denkbar gewesen. Forsters schriftliche Zeugnisse deuten zumindest darauf hin.

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