, 10. Mai 2024
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Umbenennung als Zeichen der Distanzierung

In einer Stellungnahme erneuert das Komitee, das für die Umbenennung des Raiffeisenplatzes kämpft, seine Forderung. Auch ein unabhängiger Forschungsbericht entkräftige nicht den Vorwurf, dass Bankgründer Friedrich Wilhelm Raiffeisen ein Antisemit gewesen sei.

Der Name von Friedrich Wilhelm Raiffeisen soll aus dem St.Galler Stadtbild verschwinden. Das Fordert ein Komitee. (Bild: David Gadze)

Umbenennen oder nicht? Diese Frage steht beim Raiffeisenplatz im St.Galler Bleicheli-Quartier, dem Hauptsitz von Raiffeisen Schweiz, im Raum. Die Diskussion ins Rollen gebracht hat eine Gruppe: Historiker Hans Fässler, alt SP-Ständerat Paul Rechsteiner, Künstlerin Pipilotti Rist, Batja P. Guggenheim-Ami von der Jüdischen Gemeinde St.Gallen, Historiker und Autor Stefan Keller, Theologin und Beraterin Karin Scheiber sowie Hanno Loewi, Direktor des Jüdischen Museums Hohenems.

Ihre Forderung ist unmissverständlich: Bankgründer Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818–1888) sei ein Antisemit gewesen, der «Rote Platz» dürfe deshalb nicht seinen Namen tragen. Sie schlagen vor, ihn stattdessen nach Recha Sternbuch zu benennen, einer Jüdin, die in St.Gallen lebte und während des Zweiten Weltkriegs vielen jüdischen Flüchtlingen das Leben gerettet hatte.

Auf Druck der Gruppe liess die Bank durch das Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich einen Forschungsbericht zur Raiffeisenbewegung in der Schweiz und den Fokusthemen Antisemitismus sowie Raiffeisen zur Zeit des Nationalsozialismus anfertigen.

Mitte April präsentierte sie die Ergebnisse an einer Medienkonferenz. Das Fazit: Die Untersuchung zeige, dass Friedrich Wilhelm Raiffeisen «sich zwar antisemitischer Formulierungen, Stereotype und Ausdrücke bediente und insbesondere den angeblichen ‹jüdischen Wucher› anprangerte, sich aber um 1880 vom politischen Antisemitismus deutlich distanzierte».

Aus Sicht der Raiffeisenbank gibt es keinen Grund für eine Umbenennung des Platzes. Denn das Gutachten zeige, dass Raiffeisen Schweiz nie eine antisemitische Bank gewesen sei und auch keine Nähe zum Nationalsozialismus gepflegt habe. Der Ball liegt nun jedenfalls wieder bei der Stadt St.Gallen und dem Komitee, dass die Umbenennung fordert – und an seiner Forderung weiterhin festhält. In einer nun publizierten Stellungnahme legt es die Gründe dafür dar.

Lob für die Aufarbeitung, Kritik an deren Begründung

Der Forschungsbericht «Die schweizerische Raiffeisenbewegung 1880–1950» könne durchaus als Meilenstein in der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus von Friedrich Wilhelm Raiffeisen gesehen werden, schreibt die Gruppe um Hans Fässler in ihrer Stellungnahme.

Zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum habe sich eine unabhängige Historiker:innen-Gruppe detailliert, systematisch und quellenkritisch mit den Vorwürfen befasst, die seit den 1990er-Jahren immer wieder gegenüber dem Bankenpionier und seiner Bewegung erhoben worden seien. Mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse des Berichts in der auf der Website zugänglichen Firmengeschichte sowie mit der dortigen Aufschaltung des integralen Berichts der Historiker:innen-Gruppe entspreche die Raiffeisenbank auf lobenswerte Art und Weise den Standards, wie sie heute für die Aufarbeitung von belasteten Firmengeschichten gelten.

«Bedauerlich» sei hingegen, dass Raiffeisen Schweiz in der Medienmitteilung vom 18. April den Eindruck erwecke, den Auftrag für den unabhängigen Forschungsbericht aus freien Stücken erteilt zu haben. Der Bank und ihrem damaligen Firmenhistoriker Hilmar Gernet sei nämlich seit 2018 bewusst gewesen, dass der öffentliche Druck bezüglich der Aufarbeitung der antisemitischen Wurzeln in der deutschen und der schweizerischen Raiffeisenbewegung immer stärker zugenommen habe.

Zudem habe es den Brief der Gruppe vom 2. Juni 2021 sowie deren Medienkonferenz vom 25. Mai 2023 gebraucht, um die Bank zum Handeln zu bewegen. Diese habe ursprünglich nur die Frage nach möglichen antisemitischen Wurzeln der Schweizer Raiffeisenbewegung untersuchen lassen wollen. Es habe auch hier den Druck der Unterzeichnenden gebraucht, damit auch Friedrich Wilhelm Raiffeisen selbst zum Untersuchungsgegenstand geworden sei.

Es geht um den Namensgeber, nicht um die Bank

Es sei ein das Verdienst des Forschungsberichts, die ideologischen Wurzeln der Schweizer Raiffeisenbewegung in Beziehung zur deutschen detailliert untersucht zu haben, schreibt die Gruppe weiter. Das Resultat sei eindeutig: Unter diesen Wurzeln finde sich auch ein «religiös, kulturell und ökonomisch grundierter» schweizerischer Antisemitismus, der oft zu Unrecht als harmlos empfunden werde, weil er im Kontrast zum «eliminatorischen Antisemitismus» in Deutschland betrachtet wird.

«Wenn nun Raiffeisen (offenbar erleichtert) darauf hinweist, Antisemitismus habe ‹im Bankgeschäft› der Schweizer Raiffeisenorganisationen keine Rolle gespielte, so betonen wir, dass wir diesen nie Vorwurf erhoben haben. Uns ging es immer nur um den Namensgeber des Platzes am Hauptsitz der Bank in St.Gallen», heisst es in der Stellungnahme.

«Raiffeisen war ein prononcierter Antisemit»

Dies sei der zentrale Punkt: Die Untersuchung der Person von Friedrich Wilhelm Raiffeisen belege zweifelsfrei, was die Gruppe im Zusammenhang mit unserer Umbenennungsforderung vom Juni 2021 dargelegt habe: «Der Namensgeber des Roten Platzes sei ein prononcierter Antisemit mit einem gefestigten antisemitischen Weltbild gewesen», schreibt sie. Raiffeisen habe antisemitische Stereotype («Wucher») und Verschwörungstheorien («Weltherrschaft», «Goldene Internationale») verbreitet und seinen Antisemitismus historisch bis ins Mittelalter zurückgehend («Die Juden in Spanien») begründet.

Ob Raiffeisen nun nur «antisemitische Stereotype» verbreitet und einfach «antisemitische Formulierungen» verwendet habe, ob sich bei ihm lediglich «ein antisemitisch zugespitztes Gründungsnarrativ» nachweisen lasse, ob er nun in der Terminologie der 1880er-Jahre oder in derjenigen von 2024 «Antisemit» genannt werden könne – diese Debatten könnten getrost künftigen historischen Seminaren überlassen werden. Mit der Forderung einer Umbenennung des Roten Platzes hätten sie nichts zu tun.

Zurückhaltung aus Kalkül

Der entscheidende Satz der Raiffeisen-Medienmitteilung laute: «Der Forschungsbericht zeigt, dass Friedrich Wilhelm Raiffeisen sich zwar antisemitischer Formulierungen, Stereotype und Ausdrücke bediente und insbesondere den angeblichen ‹jüdischen Wucher› anprangerte, sich aber um 1880 vom politischen Antisemitismus deutlich distanzierte.»

Dies sei jedoch eine einigermassen beschönigende Interpretation und Zusammenfassung des Forschungsberichts. Dieser «belegt ausführlich und unmissverständlich, dass Friedrich Wilhelm Raiffeisen (wie auch einige Exponenten seiner Bewegung in der Schweiz) ein prononcierter Antisemit war, und diese Einstellung nicht zuletzt für die Propagierung seiner Ideen nutzte».

Dass er sich zugleich von der militanten Judenhetze im Berliner Antisemitismusstreit distanziert habe, relativiere die Studie deutlich mit dem Hinweis auf mögliches Taktieren in der Öffentlichkeit. «Übrig bleibt das Fazit, dass Raiffeisen den Antisemitismus nutzte (und damit beförderte), wo es seinen Interessen entsprach, und sich zurückhielt, wo es ihm geschadet hätte», hält die Gruppe in ihrem Schreiben fest.

Auch die Nazis hätten gewusst, wo der «Gründer des genossenschaftlichen Bankwesens» stand. Wäre Friedrich Wilhelm Raiffeisen nämlich tatsächlich, wie es die Bank in ihrer Medienmitteilung insinuiere, einerseits ein bisschen antisemitisch gewesen und andererseits ein klarer Kritiker des politischen Antisemitismus, dann hätte NSDAP-Gauleiter Gustav Simon niemals an der Feier von 1938 in Neuwied zum 50. Todestag von Raiffeisen unter anderem erklärt: «Wir Nationalsozialisten bejahen Raiffeisen auch deshalb, weil er dem Kapitalismus des 19. Jahrhunderts einen starken Schlag versetzt hat. Er hat den jüdischen Wucherkapitalismus als erster bekämpft. Er hat das deutsche Bauerntum frei gemacht aus dem Klauen der jüdischen Zinswucherer.»

Tatbeweis für Distanzierung wäre Umbenennung des Platzes

Abschliessend halten Hans Fässler und seine Mitstreiter:innen fest, es sei erfreulich, dass sich die Raiffeisengruppe in ihrer Medienmitteilung von den antisemitischen Äusserungen ehemaliger Exponenten distanziere.

«Der Tatbeweis für diese Distanzierung wäre aber der: Dass die Bank ihren Widerstand gegen die Umbenennung des Platzes aufgibt und zusammen mit der Stadt und mit uns sich konstruktiv an einem würdigen Umbenennungsanlass beteiligt.» Und damit jene Person ehre, um die es eigentlich gehe: Recha Sternbuch (1905–1971). Ihr Narrativ sei dasjenige der Solidarität und der Menschenliebe.

2 Kommentare zu Umbenennung als Zeichen der Distanzierung

  • Christian Roellin sagt:

    Selbstverständlich soll Recha Sternbuch, welche ich als Kind kannte, mit einem würdigen Ort benannt werden.

    Raiffeisen, na ja, auch mit einer Umfirmierung kann man niemals eine Geschichte korrigieren.

  • Tek Berhe sagt:

    Man muss die Geschichte einordnen ohne zu skandalisieren. Der Gruppe sei empfohlen sich dem Projekt des Kantons (Wege) anzuschliessen. Das ist nachhaltiger.

    Der Raiffeisenplatz ist auch den Mitarbeitern und Kunden gewidmet.

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