, 21. Februar 2024
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Türkisch, die Stiefmuttersprache

«Den Schutz der Muttersprache setze ich dem Schutz der menschlichen Würde gleich. Sprachrecht ist ein Menschenrecht.» Das schreibt der kurdische Kulturwisschenschaftler Mesut Tufan in seinem Gastbeitrag zum internationalen Tag der Muttersprache heute, am 21. Februar. Er wurde als Siebenjähriger aus seiner Heimat und seiner Sprache gerissen.

Eine Schule in Dyarbakır im Südosten der Türkei. Auch hier wird nur Türkisch gesprochen, obwohl die Stadt jahrhundertelang kurdisch geprägt war. Das Bild entstand am Sonntag, 28. Mai 2023 im Rahmen des zweiten Präsidentschaftswahlgangs. (Bild: Luca Isepponi)

Ich bin vor 40 Jahren in Nordkurdistan in der Türkei in die kurdische Sprache hineingeboren worden. Wegen meines Engagements für Menschenrechte und weil ich Kurde bin, wurde ich 2012 in das schweizerische Exil verbannt. Die Heimat war verloren.

«Die Heimat verlieren heisst die Umwelt verlieren, in die man hineingeboren ist und innerhalb derer man sich einen Platz in der Welt geschaffen hat, der einem sowohl Stand wie Raum gibt.» So äusserte sich damals die jüdische Philosophin und Politikwissenschaftlerin Hannah Arendt zur Situation ihres Verlustes von Heimat und Sprache. Und an anderer Stelle: «Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren… Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle…»

Die Erinnerungen an den Verlust von Heimat und Sprache und die Sehnsucht danach waren für Arendt ein schweigender, dauernder Schmerz, der sich wie das Abschälen der Kruste einer Wunde anfühlt. Dasselbe gilt auch für mich, der ebenfalls diese leidvolle Erfahrung macht.

Sprache ist ein System von Wörtern und Zeichen, die Gefühle und Gedanken ausdrücken. In der Sprache und ihren Worten liegt die Essenz des Lebens und Erlebens von Individuen und Kollektiven. Im Kern der Sprache beginnt die Aufmerksamkeit für das ganze Leben. Was im Kern ist, ist Urbotschaft des Lebens. Es gehört zur Natur der Menschen, sich aus gestrigen und gegenwärtigen Realitäten zu entfalten, Neues zu schaffen.

Diese Bedürfnisse ziehen sich durch das ganze menschliche und historische Geschehen. Der Sprachphilosoph Wittgenstein sagte: «Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.» In diesem Verständnis von Sprache sehe ich die Biografie meiner Sprache, vor allem während meiner Kindheit, als ich den schmerzvollen Erfahrungen der Heimat- und Sprachlosigkeit ausgesetzt wurde.

Es begann mit der Jagd auf kurdische Musik

Ich bin im Dorf Erkênd, nahe der Stadt Sêrt im Südosten der Türkei zur Welt gekommen. Bis zum siebten Lebensjahr lebte ich mit meiner grossen Familie in einer geborgenen, harmonischen, wohlbehaltenen Welt. Sie brach für mich zusammen, als ich merkte, dass die türkische Armee unsere Sprache im Dorf verbot.

So begann auch die Jagd auf kurdische Musik. Die Soldaten streiften durch das Dorf, um zu kontrollieren, ob wir kurdische Musik über Kassettenrekorder hörten. Ich erinnere mich, wie Soldaten im Garten unseres Hauses die im Boden vergrabenen kurdischen Musikkassetten fanden und deshalb meinen Vater, Bruder und Grossvater folterten.

Ich fragte später meinen Vater, ob wir nun keine kurdische Musik mehr hören könnten, weil wir keine Kassetten mehr hatten. Er sagte: «Unser Mund, unser Herz, unsere Stimme sind immer noch Kurdisch. Ich erzähle dir jeden Abend ein Märchen oder singe dir ein Lied.» So konnten wir unser Herz und unseren Geist durch unsere reiche kurdische Erzählkultur weiter nähren. Ihre Erzähler:innen sind Meister:innen der Sprache. Sie beleben Worte mit der Stimme der Erinnerungen und Geschichten. Sie beseelen die Fantasie, wecken die Neugier, lassen nachdenken, entdecken und träumen. Das ist eine tiefe Verbindung zum Menschsein.

Verbannung aus Sprache und Heimat

Die Sprache war letztlich in uns beheimatet. Niemand würde sie uns wegnehmen. Aber die Heimat wurde uns weggenommen. Das war in den 1990er-Jahren, als über 4000 kurdische Dörfer von der türkischen Armee verbrannt und dem Erdboden gleichgemacht wurden. Im November 1993 wurde meine Familie in die türkische Stadt Adana vertrieben. Ich verlor die Heimat meiner Kindheit.

Dort wohnten wir, neun Menschen, lange Zeit bei meiner Tante in einem Zimmer. Im kurdischen Dorf war meine Familie reich gewesen. Wir besassen hunderte von Schafen und Ziegen, hunderte von Hektaren fruchtbarer Äcker sowie hunderte von Pistazienbäumen. Nun in Adana lebten wir in einem erbärmlichen Armutszustand.

Gleich am Anfang erfuhren wir von der Tante, dass wir ausser Haus kein Kurdisch sprechen dürfen. Türkische Nachbar:innen würden uns heimlich beobachten. Wir wurden also vorsichtig, sprachen draussen fast kein Kurdisch oder nur flüsternd. Wir konnten aber auch kaum Türkisch. Darum schauten wir Fernsehen, und die Kinder unserer Tante brachten uns etwas Türkisch bei.

Das Trauma der Heimat- und Sprachlosigkeit veranlasste meinen älteren Bruder, sich der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) anzuschliessen. Leider wurde er wenig später durch die türkische Armee ermordet. Bis heute kennen wir den Ort seines Grabes nicht.

Mit dieser seelischen Erschütterung begann ich 1994 die Primarschule in Adana. Gemäss amtlichem Ausweis war ich schon 11 Jahre alt. Gemäss meinen Eltern war ich jedoch erst im August 1986, nicht schon 1983, an einem heissen Tag auf dem Bergplateau während der Landwirtschaftssaison, geboren worden. Also begann ich die Primarschule mit vierjähriger Verspätung.

Das zeigt, wie wir Kurd:innen auch administrativ nicht ernst genommen wurden. In der Schule konnte ich mit meiner Lehrerin und mit den türkischen Schüler:innen kaum Kontakt aufnehmen. Die neue Sprache kam zwar schon schnell bei mir an, aber nicht im Herzen, weil wir Kurd:innen gezwungen wurden, in allen Bereichen des Alltags nur Türkisch zu sprechen.

Die Stiefmuttersprache

Meine bildhafte, reiche sprachliche und heimatliche Welt verstummte. Es war wie eine Art des Sterbens. Ich dachte Kurdisch, musste mich aber auf Türkisch ausdrücken. Die Antworten waren auf Türkisch, ich musste sie ins Kurdische übersetzen. Es war, als ob ich spräche und keiner mir antwortete. Das machte mich unsichtbar.

Mesut Tufan arbeitet derzeit an der Uni Zürich an seiner Dissertation zur «Situation der kurdischen Sprache in den vier Herkunftsstaaten der Kurd:innen am Beispiel von Erfahrungen kurdischer Emigrierter in der Deutschschweiz».

Die Folgen der sprachlichen Verbote gingen weiter. Wahrscheinlich hatte es mit dem kindlichen Verstand zu tun, dass ich das Sprachverbot nicht immer sehr ernst nahm. Als ich einmal in der Pause im Schulgarten mit einem kurdischen Mitschüler Kurdisch sprach, schienen sich das Gespräch und das Klingeln der Pausenglocke in meinen Ohren zu vermischen. Zu spät spürte ich den Schmerz der schweren Hand der Aufseherin auf meinem Nacken und hörte ich ihr türkisches Schimpfen. Sie hielt mich an meinem Schulhemd fest, schrie mit gerötetem Gesicht: «Wenn du in der Schule noch einmal Kurdisch sprichst, werde ich dich mit dem Ohr an die Wand drücken. Auch wenn du zu Hause diese Sprache sprichst, werde ich es hören.» Das erschreckte mich tief.

Mein Vater hatte sich immer erkundigt, was ich in der Schule lernte. An diesem Tag sprach ich nicht mit ihm. Er fragte eindringlich. Am Ende sagte ich mit leiser Stimme, wenn ich Kurdisch spreche, würde das auch die Lehrerin hören.

Diese traumatische Erfahrung begleitete mich bis zur Universität. Ich lernte und sprach Türkisch wie ein Muttersprachler, aber es war für mich wie die Stiefmuttersprache. Beim späteren Erlernen und Erleben der deutschen Sprache erinnerte ich mich an jene Bestürzung in meiner Seele. Auch beim Schreiben dieses Artikels überfällt mich manchmal diese Demütigung.

So ist es mein tiefempfundenes Anliegen, die Existenz der kurdischen Sprache zu erinnern und im Herzen zu behalten. Das staatenlose kurdische Volk bewahrt durch innere Widerstandskraft das urmenschliche Bedürfnis, sein kulturelles Erbe am Leben zu erhalten, zu entfalten und weiterzugeben.

Kurd:innen in der Diaspora fehlt die Repräsentation

Die kurdische Sprache steht auf reichen multikulturellen Traditionen und generationenlangen Alltagserfahrungen. Das Kurdentum ist durch mündliche Überlieferung gewachsen und bewahrt worden. Dank Mündlichkeit bleiben die Erinnerungen lebendig und vielfältig. In der Staatenlosigkeit der Kurd:innen wird besonders ihre Sprache von Einflüssen und Herausforderungen überlagert und verdrängt. Verwendung und Entwicklung der Sprache erfordern deshalb besonderen Schutz.

Im Exil und in der Diaspora ergreifen viele Ausgewanderte die Möglichkeiten der Freiheit, um den Weiterbestand des kurdischen Erbes zu beschützen und zu stärken. Dazu braucht es Überzeugung, politisches Bewusstsein und ökonomische Macht, das heisst auch Interessenvertretung.

Leider fehlt den staatenlosen Kurd:innen in Exil und Diaspora eine verlässliche Repräsentation ihrer Politik, Kultur und Sprache. Sie haben keine eigenen Konsulate, die politische, kulturelle und finanzielle Unterstützung geben können. Doch bilden für das Kurdentum engagierte Frauen und Männer Organisationen, Vereine und Gemeinschaften mit dem Ziel, sich systematisch und nachhaltig für das Wesen heimatlicher Sprache und Kultur einzusetzen.

Solche Programme werden in ihren Aufnahmestaaten wie der Schweiz, Deutschland, Schweden, Armenien, Frankreich und weiteren europäischen Ländern eingerichtet. Durch solche Bestrebungen und Sympathieleistungen in Ländern, wo Kurd:innen leben, wird die kurdische Gemeinschaft und Verbundenheit sichtbar. 

Auch heute hat Kurdisch keinen offiziellen Status in der Türkei

Bis heute gibt es für Kurd:innen in meinem Herkunftsstaat keinen Unterricht in der Muttersprache. Kurdisch darf in der Türkei nur als Wahlfach gelehrt werden, während zwei Stunden pro Woche. 2021/22 stellte das Bildungsministerium der Türkei 20’000 Sprachlehrer:innen ein. Davon waren nur drei für die kurdische Sprache zuständig, obwohl über 20 Millionen Kurd:innen in der Türkei leben. Hingegen wurden von staatlicher Seite für Englisch 938, für Arabisch 503 und für Russisch 25 Lehrer:innen eingestellt. Im Schuljahr 2023/24 wurden insgesamt 45’000 Lehrpersonen ernannt. Davon sind nur 50 kurdische Lehrer:innen: 35 für den Kurmancî-Dialekt und 15 für Zazakî-Dialekt.

Die Unterdrückung des Kurdischen ist bereits auf der Ebene einzelner Buchstaben sichtbar und hat gerade da weitreichende Konsequenzen: Bis heute sind die kurdischen Buchstaben q, w, x, î, ê und û nicht erlaubt. Viele Familien können ihren Kindern deshalb keine kurdischen Namen geben, die diese Buchstaben enthalten.

Mesut Tufan, 1983, ist 2012 in die Schweiz gekommen. 2018 machte er an der Uni Zürich seinen Master in Populären Kulturen mit Nebenfach Genderstudies, danach absolvierte er ein Lehrdiplom im Bereich Allgemeinbildung. Zurzeit arbeitet er an der Uni Zürich an seiner Dissertation zur «Situation der kurdischen Sprache in den vier Herkunftsstaaten der Kurd:innen am Beispiel von Erfahrungen kurdischer Emigrierter in der Deutschschweiz».

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