Trouvaillen im Tal

Beim Bau des Ateliers von Pop-Art-Künstler Jim Dine im Sittertal wurde vieles wiederverwendet. Nebst Bauteilen auch eine Idee der feministischen Schweizer Architektin Berta Rahm. Christoph Flury und Lukas Furrer haben einen friedlichen Ort zum Arbeiten geschaffen.

Das gros­se Stahl­tor ist ein Erb­stück der Land­wirt­schafts­mes­se Ol­ma, die Dusch­wan­ne war ein Schnäpp­chen auf Ri­car­do und die Kü­chen­fron­ten aus den 1960er-Jah­ren stam­men vom Zür­cher Ar­chi­tek­ten Ernst Gi­sel. Im Ate­lier des US-ame­ri­ka­ni­schen Künst­lers Jim Di­ne im St.Gal­ler Sit­ter­tal gleich ne­ben der Kunst­gies­se­rei trifft al­ler­hand Al­tes auf Neu­es. Er­rich­tet wur­de die Hal­le von den Ar­chi­tek­ten Chris­toph Flu­ry und Lu­kas Fur­rer und dem Bau­team der Kunst­gies­se­rei. Teil des Pro­jekts war auch die In­stand­set­zung des his­to­ri­schen Bad­hau­ses samt Schwimm­be­cken un­mit­tel­bar da­ne­ben. Bei­des wur­de im Som­mer 2023 fer­tig­ge­stellt. Flu­ry+Fur­rer, die «Haus­ar­chi­tek­ten» der Kunst­gies­se­rei und der Sti­fung Sit­ter­werk, ha­ben sich spe­zia­li­siert auf Sa­nie­run­gen und Re-Use, al­so das Bau­en mit wie­der­ver­wer­te­ten Tei­len. Sie ver­ste­hen das Bau­en als Kreis­lauf, wol­len sich in­spi­rie­ren und rei­ben am Be­stand. 

Das The­ma Re-Use im Bau­we­sen ist vi­ru­lent, al­ler­dings erst wie­der seit ein paar Jah­ren. Wie­der­ver­bau­en kann man fast al­les; Kü­chen, Bä­der, Fens­ter und Tü­ren, aber auch Holz­bal­ken, Fas­sa­den­ele­men­te oder gan­ze Stahl­kon­struk­tio­nen. Zen­tral da­bei sind der scho­nen­de Um­gang mit Res­sour­cen und die Er­hal­tung der grau­en En­er­gie. «Frü­her hat man uns noch be­lä­chelt für die­sen An­satz, heu­te lädt man uns zu Vor­le­sun­gen ein», sagt Lu­kas Fur­rer beim Gang durch die Hal­le. «Ich hof­fe, es ist nicht nur ein Hype.» Die Idee der Wie­der­ver­wer­tung sei ur­alt, aber im mo­der­nen Bau­we­sen sei die sys­te­ma­ti­sche Wie­der­ver­wer­tung von Ma­te­ri­al erst im Kom­men. Er selbst ist mit die­ser Hal­tung aber auf­ge­wach­sen. Sein Va­ter war Ar­chi­tekt im Wal­lis und als Bub war er oft mit auf den Bau­stel­len. «Da ha­be ich ge­lernt, mit dem zu ar­bei­ten, was da ist.»

Flu­ry+Fur­rer ha­ben Glück. Ihr klei­nes Ar­chi­tek­tur­bü­ro liegt in ei­nem Hin­ter­hof am Zür­cher Escher-Wyss-Platz, aber «Haus­ar­chi­tekt» Lu­kas Fur­rer ver­bringt seit 25 Jah­ren je­de Wo­che ei­nen Tag im Sit­ter­tal. Hier gibt es Platz und «die Of­fen­heit für das Pla­nen am Tat­ort». Über die Jah­re ha­ben sich die Ar­chi­tek­ten zu­sam­men mit der Kunst­gies­se­rei ei­nen be­trächt­li­chen Fun­dus an ge­brauch­ten Bau­ma­te­ria­li­en auf­ge­baut, die sonst in der Mul­de ge­lan­det wä­ren. An­de­re ha­ben die­sen La­ger­lu­xus nicht und müs­sen sich die «al­ten» Tei­le von Fall zu Fall be­sor­gen. Die Su­che da­nach ist bis­wei­len müh­sam, da­von kann auch Lu­kas Fur­rer ein Lied sin­gen, denn es gibt noch kei­ne Bau­teil­bör­sen im gros­sen Stil, wo man sich zum Bei­spiel mit aus­ge­bau­ten Fens­tern, Tü­ren, Heiz­kör­pern oder Fas­sa­den­ver­klei­dun­gen ein­de­cken kann. Das meis­te läuft über Netz­wer­ke, Zu­fäl­le, Busch­te­le­fo­ne. 

Fund­stü­cke von nah und fern

Im Ate­lier von Jim Di­me wur­den ein paar ech­te Trou­vail­len ver­baut. Be­son­ders stolz ist Lu­kas Fur­rer auf die vier Schwing­flü­gel­fens­ter mit den run­den Ecken an der Süd­fas­sa­de. Jah­re­lang hat er sie be­wun­dert an ei­nem Bü­ro­haus ne­ben sei­ner täg­li­chen Ve­lo­s­tre­cke in Zü­rich. Ei­nes Ta­ges stan­den sie zur Ent­sor­gung be­reit auf ei­nem Holz­pa­lett am Weg­rand. Fur­rer hat so­fort den Bau­lei­ter aus­fin­dig ge­macht und die Fens­ter ge­schenkt be­kom­men. Das war vor bald zehn Jah­ren. Heu­te ver­lei­hen sie der Hal­le ei­nen ein­zig­ar­ti­gen Cha­rak­ter. Sitzt man oben in der Ga­le­rie und blickt durch das ab­ge­run­de­te Fens­ter ins of­fe­ne Feld, fühlt man sich ein biss­chen wie in ei­nem Zug, der zu­fäl­lig ge­ra­de im Sit­ter­tal ste­cken­ge­blie­ben ist und dem­nächst wie­der in die Fer­ne dampft. 

Ganz aus der Nä­he hin­ge­gen kommt das creme­far­bi­ge La­v­abo un­ten in der Hal­le. Es war jahr­zehn­te­lang in der Ba­di Rot­mon­ten im Ein­satz. Flu­ry und Fur­rer ha­ben es 2023 im Rah­men der Sa­nie­rung des Frei­bads de­mon­tiert. Auch die Bo­den­däm­mung hat­te ei­ne kur­ze An­fahrt. Sie stammt vom Flach­dach ei­nes al­ten Werk­hal­len­dachs auf dem Fa­brik­ge­län­de. Und nicht zu­letzt das ein­gangs er­wähn­te Glas-Tor an der Stirn­sei­te der Hal­le, durch das einst hun­dert­tau­sen­de Ol­ma-Gäs­te ström­ten. Ein rich­ti­ger Glücks­fall: Es pass­te wie ei­ne Mass­an­fer­ti­gung ins Loch.

Das war al­les an­de­re als selbst­ver­ständ­lich, denn auch die Kon­struk­ti­on, wel­che das Tor um­gibt, hat­te schon ein Vor­le­ben. Mit die­sem Stahl­ske­lett aus Rot­ter­dam hat al­les an­ge­fan­gen. «Wir dach­ten, wir kau­fen ei­ne Hal­le, doch es wa­ren nur die Schie­nen und Stüt­zen ei­ner aus­ge­dien­ten Kran­an­la­ge», er­zählt Fur­rer und lacht. «Ein Ske­lett eben.» Heu­te bil­det es das Grund­ge­rüst des Ate­liers und be­stimmt des­sen Form. Sta­tisch ver­stärkt wur­den die Stahl­stüt­zen mit Trä­gern aus Brett­schicht­holz. Die­se stam­men von den ab­ge­bro­che­nen Pa­vil­lons von Be­ne­dikt Hu­ber an der ETH Höng­ger­berg. Chris­toph Flu­ry und Lu­kas Fur­rer be­stell­ten gleich meh­re­re Ca­mi­ons da­von mit vie­len wei­te­ren Bau­tei­len.

Hom­mage an Ber­ta Rahm

Ab­ge­schlos­sen wird die Ate­lier­hal­le von ei­nem Shed­dach. Es ist al­lein das Werk der bei­den Ar­chi­tek­ten und sorgt für op­ti­ma­le Ar­beits- bzw. Licht­ver­hält­nis­se, ob­wohl die Flä­che der Hal­le für ein Shed­dach ei­gent­lich eher klein ist. Die Wahl der Dach­kon­struk­ti­on hat­te vor al­lem sta­ti­sche Grün­de. Das klei­ne Fach­werk für die Fens­ter­bahn wirkt wie ein Zug­band und sorgt so für mehr Sta­bi­li­tät. Wind und Schnee kön­nen al­so kom­men. 

Nicht re­zy­kliert ist auch die Hal­len­fas­sa­de aus Alu­mi­ni­um­ble­chen. Wo­bei das nur die hal­be Wahr­heit ist, denn die Idee ist nicht neu. Er­fun­den wur­de die Fas­sa­den­ver­klei­dung in den 1950er-Jah­ren von ei­nem Herrn Fur­rer un­ter dem Na­men Fu­ral­blech. Die in St.Gal­len ge­bo­re­ne Ar­chi­tek­tin und Frau­en­recht­le­rin Ber­ta Rahm hat die­se ge­nia­le Neu­heit vir­tu­os in ei­nem ih­rer Bau­ten ein­ge­setzt: Man mon­tiert ein­fachs­te ge­zack­te Blech­strei­fen an der Lat­tung der Aus­sen­wand. Dann rollt man die auf­ge­roll­ten Alu­mi­ni­um­ble­che dar­auf ab und die schwal­ben­schwanz­för­mi­gen Wel­len müs­sen nur noch ein­kli­cken, Wel­le für Wel­le. «Ähn­lich wie ein Reiss­ver­schluss», er­klärt Lu­kas Fur­rer. «Al­les oh­ne ei­ne Schrau­be oder ei­nen Na­gel – und oh­ne ein Loch im Blech.» 

Es war ei­ne zu­fäl­li­ge Wie­der­ent­de­ckung. Das Ar­chi­tek­ten-Duo war we­gen ei­nes eben­falls im Sit­ter­tal wie­der­ver­wen­de­ten Mock­up-Pa­vil­lons von EMI Ar­chi­tek­ten an der ETH und stol­per­te dort in ei­ne Aus­stel­lung über den SAF­FA-Pa­vil­lon von Ber­ta Rahm. Die­sen hat­te sie für die Schwei­ze­ri­sche Aus­stel­lung für Frau­en­ar­beit (SAF­FA) 1958 ge­plant und er­rich­tet, und er war mit eben­die­sen Fu­ral-Alu­mi­ni­um­bän­dern ver­klei­det. Flu­ry und Fur­rer schau­ten sich das Sys­tem noch ein­mal ge­nau­er an und wa­ren be­geis­tert von des­sen Ein­fach­heit und Wie­der­ver­wend­bar­keit.

Rahm war ei­ne der ers­ten selb­stän­di­gen Schwei­zer Ar­chi­tek­tin­nen. Trotz zahl­rei­cher Aus­zeich­nun­gen er­hielt sie nie ei­nen öf­fent­li­chen Auf­trag. In den 1960er-Jah­ren zog sie sich ent­täuscht aus der männ­lich do­mi­nier­ten Bau­bran­che zu­rück und grün­de­te in Zü­rich ei­nen fe­mi­nis­ti­schen Ver­lag. Dank Chris­toph Flu­ry und Lu­kas Fur­rer lebt nun zu­min­dest ei­nes ih­rer ar­chi­tek­to­ni­schen Kon­zep­te in St.Gal­len wei­ter. Die sil­ber­nen Bah­nen schmie­gen sich um den Bau, als hät­te es nie ei­ne an­de­re Op­ti­on ge­ge­ben, nur un­ter­bro­chen von ei­nem Fens­ter­strei­fen, der den Blick auf das ge­gen­über­lie­gen­de Bad­haus frei­gibt. Das Alu­mi­ni­um spie­gelt sich im Was­ser des Schwimm­be­ckens. Ein fried­li­cher Ort. Und ein gu­ter Ort zum Ar­bei­ten, hier, wo so viel Al­tes auf Neu­es trifft. 

Gutes Bauen Ostschweiz

Die Ar­ti­kel­se­rie «Gu­tes Bau­en Ost­schweiz» möch­te die Dis­kus­si­on um ei­ne re­gio­na­le Bau­kul­tur an­re­gen. Sie be­han­delt über­grei­fen­de The­men aus den Be­rei­chen Raum­pla­nung, Städ­te­bau, Ar­chi­tek­tur und Land­schafts­ar­chi­tek­tur. Fra­gen zum Zu­stand un­se­rer Bau­kul­tur und der Zu­kunft der Pla­nung wer­den eben­so be­spro­chen wie an­de­re, et­wa wie die Kli­ma­kri­se zu be­wäl­ti­gen ist und wel­chen Bei­trag das Bau­en da­zu leis­ten kann, oder wie die Ver­dich­tung his­to­risch wert­vol­ler Dör­fer und Stadt­tei­le ge­lin­gen kann. 

Die Se­rie wur­de lan­ciert und wird be­treut durch das Ar­chi­tek­tur Fo­rum Ost­schweiz (AFO). Das AFO ver­steht al­le For­men an­ge­wand­ter Ge­stal­tung un­se­rer Um­welt als wich­ti­ge Be­stand­tei­le un­se­rer Kul­tur und möch­te die­se ei­ner brei­ten Öf­fent­lich­keit nä­her­brin­gen.

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