Together we fight, united we stand!
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St.Gallen braucht vielleicht etwas länger für gewisse Dinge, aber man kann den Aktivistinnen und Aktivisten dieser Stadt definitiv nicht vorwerfen, sich nur um eine Sache bzw. ihre eigenen Belange zu kümmern. St.Gallen goes intersektionell.
Der Frauenstreik-Sternmarsch und die Black Lives Matter-Demo hatten sich bereits im Vorfeld solidarisiert. Zwar wurden die beiden Kundgebungen aufgrund der vielen Leute nicht wie gedacht im Stadtpark zusammengeführt, aber es pendelten viele zwischen Kanti- und Stadtpark hin und her, wo die jeweiligen Demos zum Abschluss kamen.
Klar, die Situation in den USA ist nur schwer mit der Schweiz vergleichbar – dort ist man im antirassistischen Diskurs wesentlich weiter. Hier sind wir gefühlt in den 80er-Jahren steckengeblieben. Kein Witz: Wir kriegen uns ernsthaft in die Haare wegen ein paar Süssigkeiten. Allerorts Schnappatmung und die Medien sammeln mit dutzenden Artikeln dazu fleissig ihre Klicks.
Rassismus hat Tradition
Wie tief der alltägliche Rassismus verankert ist, zeigt etwa folgendes Zitat aus einem Artikel der wichtigsten Zeitung in dieser Region: «Doch ist der Name der Schlemmerei wirklich rassistisch oder hat die Bezeichnung einfach Tradition? Darüber diskutierten in der Sendung ‹TalkTäglich› Robert Dubler, langjähriger Chef der Firma Dubler Mohrenkopf in Waltenschwil, und Remo Schmid, Träger des ‹Prix Courage› und bekennender Kämpfer gegen Rassismus.»
Schon die Ausgangsfrage ist eine Beleidigung. Selbstverständlich ist die Bezeichnung rassistisch, auch wenn das die privilegierten Fans dieser heiligen helvetischen Klebrigkeit nicht wahrhaben wollen, obwohl Betroffene sie seit Jahren vom Gegenteil zu überzeugen versuchen. Es ist noch schlimmer: Rassismus hat Tradition. Und dass man jemanden als «bekennenden» Kämpfer gegen Rassismus bezeichnen muss, ist auch ziemlich kurios. Ist ja in der Verfassung verankert.
Wie weit die Schweiz hinterherhinkt, hat auch das öffentlich-rechtliche Informationsorgan SRF am Freitag wieder gezeigt: Unter dem Motto «Jetzt reden wir Schwarzen» haben die Verantwortlichen der «Arena» zwei SVP-Politikerinnen und einen republikanischen Trump-Fanboy antraben lassen. Schwarze People of Colour waren zwar auch eigeladen, aber viel zu wenige und nur vermeintlich «erfolgreiche», etwa der ziemlich unpolitische Ostschweizer Comedian Kiko.
Auch hier wurde nicht darüber diskutiert, wie man das Rassismusproblem lösen will, sondern ob das Problem überhaupt existiert. «Die ganze Sendung hat mich einfach nur wütend gemacht», sagt Yonas Gebrehiwet, ehemaliger Saiten-Kolumnist und Mit-Initiant des Eritreischen Medienbundes, am Samstag an der Black Lives Matter-Demo. «Ich verstehe nicht, wie man eine Chance so dermassen verpassen kann. Die Schwarzen hätten in der ersten Reihe stehen sollen.»
Aktivismus für die kommenden Generationen
Derweil gibt Samantha Wanjiru auf dem Bärenplatz den Ton an. «Ich kann nicht atmen, bitte, Sir, bitte!» Die Initiantin der St.Galler Black Lives Matter-Demo wiederholt George Floyds letzte Worte, die Aktivistinnen recken die Faust zur Schweigeminute.
Wanjiru bedankt sich bei den Anwesenden, die gemeinsam ein Zeichen gegen Rassismus setzen wollen und weist noch einmal auf die Corona-Schutzmassnahmen hin. Dann setzt sich die Demo in Bewegung. Via Neugasse, Vadianplatz und Spisergasse geht es Richtung Kantipark, skandierend, singend, tanzend.
Dort wendet sich Samy alias Sooperhandz an die riesige Runde. Er ist mit seinem sechsjährigen Sohn gekommen. Aufgrund seiner Hautfarbe werde er oft schräg angeschaut im Laden – er könnte ja ein Dieb sein, erklärt er. «But I’m a king, I’m black and I’m proud! Trotzdem sehe ich keine Farben, nur Menschen – und das will ich meinem Sohn beibringen.»
Rassismus zu bekämpfen sei aber nicht die Aufgabe der nächsten Generation, sondern die der jetzigen, und das gehe nur mit Aufklärung und der Hilfe aller, sagt er. Das bedeute auch, denen, die für die Zustände verantwortlich sind, die Macht zu entreissen – so wie die Frauen in aller Welt früher und heute, die für ihre Rechte kämpfen.
Gegen die Rückkehr zur «Normalität»
Passend dazu hört man von weitem die Parolen des feministischen Sternmarschs, der mittlerweile im Stadtpark angekommen ist. Auch dort gibt es Reden und ausserdem eine Performance des queer-feministischen Kollektivs «Die Leiden der jungen Bertha*».
«Am 14. Juni 2019 sind wir hier in St.Gallen zu tausenden auf die Strasse gegangen: schweizweit eine halbe Million Menschen», erinnert Jenny Heeb in ihrer Auftaktrede. «Jetzt, ein Jähr später, gibt es immer noch vieles, wofür wir weiterkämpfen müssen. Die Frauenstreik- und Black Lives Matter-Bewegung stehen heute zusammen, um einen Teil unserer Forderungen laut sichtbar zu machen.»
Zum Beispiel die Care-Arbeit. «Während der Pandemie haben wir uns kurz wieder auf das Wesentliche konzentriert», sagt Alexandra Akeret vom VPOD: «Die Pflege und Rettung von Leben.» Jetzt gehe man wieder zurück zur «Normalität» – «doch diese wollen wir nicht mehr! Wir wollen, dass die Behörden so viel Geld für die Stärkung und Entwicklung der öffentlichen Dienste in feministischer und ökologischer Perspektive zu Verfügung stellen, wie sie für die ‹Rettung der Wirtschaft› zur Verfügung gestellt haben.» Die Krise habe deutlich gemacht, dass «Frauen drei Viertel der Angestellten in den sogenannt systemrelevanten Grundversorgungsberufen darstellen.»
Oder die Gewalt an Frauen. «Nicht immer sind Männer die Täter, nicht immer sind Frauen die Opfer, aber doch in drei Vierteln aller Fälle – das muss aufhören!», fordert Sabrina Marchetti von der Frauenstreik-Kerngruppe. Gewalt sei ein enormes gesellschaftliche Problem und auch ein Gleichstellungsproblem, darum brauche es unter anderem nationale und kantonale Kampagnen, eine finanzielle Sicherung der Frauenhäuser, gendersensible Schulen und Berufsbildungen, Gewaltprävention und einen menschenwürdigen Schutz von Frauen auf der Flucht und im Asylverfahren.
Der Applaus ist gross, es prickelt in beiden Pärken. Viele freuen sich, nach den letzten, vielfach einsamen Monaten wieder einmal zusammen auf der Strasse zu sein, sich auszutauschen, gemeinsam ein Zeichen zu setzen.
Wie nötig das auch 2020 immer noch ist, zeigten auch diverse gehässige Kommentare von shoppenden Passanten in der Innenstadt. An diesem Samstag wurden sie aber gutgelaunt rechts liegengelassen – schliesslich waren die Fortschrittlichen deutlich in der Überzahl und verfügen über frisch gestärktes Gemeinschaftsgefühl.