Timon entgleitet
Es wäre alles da für ein perfektes Familienidyll; Chris arbeitet zuhause, Antonia ist bald schwanger, Timon ein hübsches, gesundes Kind. Aber Idyllen existieren nicht. Chris setzt sich ab, zuerst phasenweise, dann endgültig. Antonia fühlt sich allein gelassen, einsam, überfordert. Timon und Antonia: ein Doppelgestirn, ein Doppelplanet, durch Familienbande aneinander gekoppelt, durch wachsende Zentrifugalkraft auf Konfrontation mit all jenen Gestirnen, die sich auf ewig gleichen Bahnen befinden.
Ein Kind ausserhalb der Norm
Balg heisst der Roman der im Thurgau aufgewachsenen Autorin Tabea Steiner. Ein Schimpfwort – abgezogenes Fell, ein freches Kind. Aber wer ist schon der, der er sein könnte? Timon ist genauso das Resultat von vielem, wie seine Mutter Antonia, wie seine Grossmutter Lydia.
Tabea Steiner: Balg, Edition Bücherlese 2019, Fr. 13.90.
Lesung: Sa 1. Juni 10 Uhr, Stadttheater Solothurn
Da war ein kleines Kind, das durch Mark und Bein schrie. Ein kleiner Junge, der biss und schlug. Ein Schulbub, mit dem keine Lehrkraft klarkommen wollte oder konnte. Timon, zuerst von seiner Mutter eingesperrt, damit diese Luft bekommt, dann ausgesperrt, weil die Mutter keine Luft mehr bekommt, wird zum Kometen, der sich auf unberechenbarer Bahn mit langem Schweif seinen Weg durch ein verkorkstes Leben bahnt.
Irgendwann lernt Antonia einen neuen Mann kennen, einen, der mit ihr zusammenleben will, aber nicht mit dem unberechenbaren Balg, mit Timon, der sich allen und allem entzieht. Aber statt ihren Sohn mitzunehmen, botet Antonio, der neue Mann, ihn aus, nimmt ihm das Wenige, das Timon von seinem Vater geschenkt bekommt, den er manchmal am Wochenende sieht und der auch längst in einer neuen Familie lebt. Antonia weiss oft nicht, wie ihr geschieht, ist genauso Opfer ihrer Reflexe und Reaktionen wie ihr ausser Rand und Band geratener Sohn.
Geheimnisse um den Sonderling
Im gleichen Dorf lebt Valentin der Postbote. Vor Jahren war er der Dorflehrer, irgendwann suspendiert und im Dorf hängen geblieben, mit einem Makel. Antonia war als Schülerin die Freundin seiner einzigen Tochter, jener Tochter, die er nie mehr sah, von der er nichts weiss, seit sie ihn zusammen mit seiner Frau verliess. Antonia macht Valentin für eine Katastrophe in der Vergangenheit verantwortlich, die nicht nur ihn selbst, sondern auch sie aus der Bahn geworfen hatte, aus der Kindheit herausgerissen, entwurzelt. Und ausgerechnet mit ihm, mit Valentin, dem alt gewordenen Sonderling, den man im Dorf wie etwas Übriggebliebenes behandelt, freundet sich Timon an. Gegen den Willen seiner Mutter.
Timon entgleitet. Allen. Selbst Valentin, der ihn im Garten, bei seinen Tieren oder auch an seinem Tisch gewähren lässt, der ihm den einzigen Ort gibt, an dem er sich nicht in die Enge getrieben fühlt, ist vor den verqueren Wahrnehmungen einer Dorfgemeinschaft nicht gefeit. Einmal ins schlechte Licht getaucht – immer empfänglich, wie elektromagnetisch aufgeladenes Textil. Alle sind sie einsam. Alle irgendwie verloren, eingeschlossen, ausgeschlossen.
Ostschweiz in Solothurn
Der Auftakt gilt Beat Brechbühl: Die Solothurner Literaturtage ehren den Autor und Verleger aus Frauenfeld zum 80sten mit der Ausstellung «Das Leben ist rund wie ein Dreieck». Weitere Ostschweizer Gäste in Solothurn sind neben Brechbühl und Tabea Steiner Michèle Minelli (Der Garten der anderen), Andreas Niedermann (Blumberg), Viola Rohner (42 Grad), Monika Schnyder (Auch Götter haben Gärten) und Anna Stern (Wild wie die Wellen des Meeres). Podien beschäftigen sich mit Kulturpolitik, unter anderem mit «Machtstrukturen im Literaturbetrieb».
Eine der vielen Qualitäten des Romans ist Tabea Steiners Zurückhaltung, bei allen Krisen das Maximum nicht ausgeschöpft zu haben. Es geht der Autorin weder um die Katastrophe noch um ein Soziogramm eines vermeintlichen Dorfidylls. Tabea Steiner begleitet ihr Personal mit überzeugendem Feingefühl, erzählt die Geschichte aus mehrfacher Perspektive, stülpt das Innere ihrer Protagonisten nicht gegen Aussen. Sie alle sind Opfer ihrer Geschichte.
Unaufgeregte Erzählerin
Eine andere Qualität dieses Romans sind all die Halbschatten, die nicht ausgeleuchtet sind, das bloss Angedeutete, das dem Leser überlassen ist, das aber gleichsam mitschwingt und dem Buch, dem Erzählten Raum gibt. Und nicht zuletzt ist es die unaufgeregte, sorgfältige Art des Erzählens, einer Sprache, die nicht nur inhaltlich, sondern auch formal von bemerkenswerter Behutsamkeit ist.