Tiger-Mafia und ein Kasperli auf Acid

Trotz böser Worte in Medien, die es schon im voraus besser wissen – «Wozu Solothurn?» (Tages Anzeiger), «Farce» (Tagblatt) – gehen in Solothurn die 57. Filmtage über die Bühne. Unter den in diesem Jahr zahlreicheren Premieren als bei früheren Ausgaben finden sich auch drei höchst unterschiedliche Beiträge von Ostschweizer Filmschaffenden.
Als Werkschau des Schweizer Films ist Solothurn immer auch ein Ort, wo das Publikum Filme sehen kann, die bereits im Kino liefen. Vielleicht ist es Zufall, dass hier die zwei erfolgreichsten einheimischen Spielfilme des verganenen Kinojahres mit wesentlicher Beteiligung von Ostschweizern aufwarten: Beim Geiseldrama Und morgen seid ihr tot von Regisseur Michael Steiner schrieb ein St. Galler, Urs Bühler, das Drehbuch. Und im Politthriller Stürm – Bis wir tot sind oder frei von Oliver Rihs ist die von Joel Basmann mit perfekt antrainiertem Ostschweizer Dialekt verkörperte Hauptfigur, der «Ausbrecherkönig» Walter Stürm, ein gebürtiger Rorschacher.
Der Tiger-Mafia auf der Spur
Es fällt auf, dass, dem Zustand des Planeten entsprechend, dieses Jahr in Solothurn unter den Dokumentarfilmen eine ganze Reihe von Beiträgen mit klar aktivistischer Ausrichtung zu sehen sind. So dokumentiert etwa der Westschweizer Frédéric Choffat in Tout commence, ausgehend von seinen beiden Kindern im Teenageralter, das Wachsen der Klimabewegung in der Romandie. Und Choffats Kollege Pierre-Yves Borgeaud zeigt in Nos utopies comunautaires, was sich aus den Idealen von neuen Wohnformen der 68er bis heute hat etablieren können.
Die Solothurner Filmtage dauern bis zum 26. Januar.
Mit der Retrospektive des Werks, das der heute 85jährige Jürg Hassler geschaffen hat, ehrten die Filmtage dann einen Mann, der mit seinem ersten langen Dokumentarfilm Krawall von 1970 Massstäbe gesetzt hat. Im Gespräch mit Frédéric Choffat erwies er sich als einer, der in beeindruckender Weise immer noch offen ist für Widerstand heute.
Der 1948 in St. Gallen geborene, heute mehrheitlich in Kenya lebende Tierfotograf und Artenschutzaktivist Karl Ammann widersetzt sich auf seine Weise der Zerstörung des Planeten seit vielen Jahren. Zusammen mit dem jungen Produzenten und Dokumentarfilmer Laurin Merz deckt Ammann in The Tiger Mafia auf, wie in Myanmar, Laos, Thailand und China in Zuchtfarmen der weltweit verbotene Handel mit Tigern abläuft.
In schockierenden Bildern, oft mit versteckter Kamera gefilmt, zeigt Ammann, wie das gemäss Animal Planet meist bewunderte Tier auf dem Planeten «auf Tempo und Masse in Fabriken gezüchtet und dann für seine Einzelteile geschlachtet wird». Gedeckt von höchsten Stellen, von Regierungen, die selbstverständlich die UNO-Artenschutzabkommen unterzeichnet haben, sind kriminelle Netzwerke in einem Handel aktiv, der ein Milliardengeschäft darstellt.
Darüberhinaus zeigt Ammann in seinem Film auch anschaulich, wie durch das immer rücksichtslosere Vordringen des Menschen in die Wildnis neue Viren wie jenes von Corona geradezu kreiert werden.
Noch mehr versteckte Kameras
Etwas ganz anders Gelagertes präsentierte in Solothurn schliesslich Alexander Hahn, der 1954 in Rapperswil geborene Künstler, der seit vielen Jahren abwechselnd in Zürich und New York lebt. Indocam heisst sein – unter anderem vom Kanton St. Gallen geförderter – Dokumentarfilm. «Fragment eines Reiseberichts» nennt Hahn das, was er aus Material eines Indien-Aufenthalts, gedreht zwischen August 2012 und Januar 2013, geschaffen hat.
Als Artist in Residence lebte Hahn damals in New Dehli und Varanasi und filmte in dieser Zeit mit einer so genannten «Watchcam», einer in seine Armbanduhr integrierten Miniaturkamera. Zur Frage der Legitimität der versteckten Kamera erklärte Hahn an der Publikumsdiskussion in Solothurn, ihn habe interessiert, wie die Wirklichkeit sei, wenn sie ohne das Auge des Kameramanns aufgenommen werde.
Ohnehin sei er mehr Bildender Künstler als Filmemacher. Ausserdem habe er alle seine Aufnahmen im öffentlichen Raum gemacht, und als Künstler müsse man den Freipass dieses Berufs optimal ausnützen.
Trash mit Stoll und Oberholzer
Mit grosser Spannung wurde in Solothurn schliesslich ein Film von zwei Filmschaffenden aus der Ostschweiz erwartet, die man bestens kennt: Lara Stoll und Cyrill Oberholzer, einem Regieduo, das ebenso wie Alexander Hahn auch anderweitig künstlerisch tätig ist.
Filmisch wurden die beiden vor drei Jahren erstmals mit Das Höllentor von Zürich bekannt, einer trashigen Persiflage auf 127 hours von Dany Boyle. Dort hatte sich ein von James Franco gespielter Bergsteiger seinen in einer Felsspalte eingeklemmten Arm abtrennen müssen; bei Oberholzer und Stoll war es ein im Abfluss eingeklemmter Finger.
Alle drei erwähnten Ostschweizer Premierenfilme laufen in den nächsten Tagen noch einmal in Solothurn:
The Tiger Mafia, Mo, 24.1., 17.45h im Kino Canva
Indocam, Di, 25.1., 17.30h im Kino Canva Club
Wer hat die Konfitüre geklaut, Mi, 26.1., 15h im Kino Palace, in Anwesenheit eines «Legal adviser», der über allfällige Konsequenzen der Verwendung von Michael-Jackson-Versatzstücken für die Filmemacher:innen aufklärt, falls der Film regulär ins Kino kommen sollte.
In ihrem neuen Film Wer hat die Konfitüre geklaut, einem Mix aus Kasperlitheater, Science Fiction und «Tatort»-Parodie, muss der von Patrick Frey verkörperte Protagonist den Übeltäter finden, der die selbst gemachte Erdbeerkonfitüre aus dem Keller seiner greisen Mutter – bei der der 73-Jährige immer noch lebt – entwendet hat.
In einem wahnwitzigen Trip, der über weite Strecken wie ein Drogenrausch wirkt, absolviert Patrick Frey einen Parcours durch verschiedene Stationen in und um Zürich, wobei auch ein Ausflug auf den – öffentlich nicht zugänglichen – Fernsehturm auf den Üetliberg oder eine nächtliche Pedalofahrt auf dem Zürichsee für gerdezu touristische Schauwerte sorgen, in einem Film, der ansonsten in seiner bewusst trashigen Machart den Charme eines Homemade-Movie ausstrahlt.
Zu den verrücktesten Einfällen gehört dabei ein wiederholt auftauchendes elektrisches Stofftier, das in den unmöglichsten Momenten Fragmente von A-Capella-Michael-Jackson-Hits zum besten gibt – und das dabei, ebenso wie Protagonist Patrick Frey, im Verlauf des Films arg havariert wird.
Lara Stoll, die in Solothurn den in Quarantäne befindlichen Cyrill Oberholzer vertrat, lobte denn auch den unglaublichen Körpereinsatz von Patrick Frey so: «Er war jeweils enttäuscht, wenn wir wieder eine Szene mit ihm abgedreht hatten, bei der er keine Schrammen oder Beulen abbekommen hatte.»