, 7. Februar 2016
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Theater gegen den Ausverkauf der Alpen

Ein Kongresscenter hinter Stacheldraht für die WEFs und VIPs im Alpstein? Diese Horrorvision kann erleben, wer sich ein Ticket für das Stück «Checkpoint Säntis» im alten Schwägalp-Hotel ergattert hat. Am Freitag war Premiere.

Das Postauto von Urnäsch hält direkt vor dem schicken Betonportal. Es führt in den Hotel-Neubau, der seit kurzem in Betrieb ist, von aussen ähnlich klotzig wie die Bergstation tausend Meter höher. Der Hotel-Altbau etwas weiter bergwärts ist dem Abbruch geweiht. Auf dem Platz davor brennt ein Mahnfeuer, Aktivisten fordern per Megaphon den «Säntis für alle», ein Scheinwerfer zündet einen bleichen Mond an die gewaltige Felswand. «Dä Himmelaia vo dä Schwizz», wie ihn Peter Morger einst bedichtet hat: verkommen zum Spekulationsobjekt.

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Das Mahnfeuer gilt dem grössenwahnsinnigen Projekt der GCCS Global Congress Center Switzerland. An der Stelle des alten Hotels soll ein Kongresszentrum der Superlative entstehen, mitfinanziert durch eine Konjunkturspritze des Bundes und abgeschirmt durch einen vier Meter hohen Zaun, der von der Schwägalp bis hoch zur Säntisspitze reicht. Mehrere Checkpoints sollen den Zugang kontrollieren, einer heisst «Checkpoint Geisspeter».

saentis6Die Chefin von GCCS, Mara Stein, peitscht das Projekt gnadenlos durch, Nomen est omen. Arbeitsplätze werden versprochen, die Schweiz soll endlich nicht mehr in Winterthur aufhören, den Fortschritt aber erkauft man sich um den Preis des freien Zugangs zum Berg – alles bloss Theater, zum Glück. Aber nicht unrealistisch: Sawiri-Andermatt, der irre Turmbau von Vals oder die abgesoffenen Pläne eines Swiss Marina am See lassen gruslig grüssen.

Der 1,9-Milliarden-Fortschritt

Checkpoint Säntis ist von den drei Theatermachern Karin Bucher, Katrin Sauter und Benno Muheim ausgedacht und von insgesamt 27 Laienspielerinnen und -spielern und einer Vielzahl von Helfern entwickelt worden. Manche waren bereits beim Festspiel zum Kantonsjubiläum AR-AI 2013 in Hundwil beteiligt. Der neuste Theaterstreich des damals gegründeten Theaters Varain dauert bis Ende Februar, dann fahren die Bagger auf. Hier Eindrücke aus der Probenarbeit:

Zurück zum Mahnfeuer: Von dort weg wird das Publikum, handverlesene 80 Menschen pro Aufführung, in vier Gruppen kreuz und quer durch das alte Hotel geführt. Im ehemaligen Esssaal präsentieren CEO Mara Stein und Ständerätin Priska Krähenbühl, die Initiantin und politische Garantin des 1,9-Mia-Projekts, ihre Vision: drei 120 Meter hohe Konferenztürme, Helikopterlandeplatz, Golfplatz und um alles herum der ominöse Zaun. Die IG «Säntis für alle» stellt kritische Fragen und wird mit einem runden Tisch vertröstet. Währenddessen besetzt eine Widerstandsgruppe kurzerhand das Hotel.

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Fundis und Realos

Und schon steckt Politikerin Krähenbühl mitten im Konflikt: im Clinch mit der eigenen Familie. Schwester Gwen ist als Schwägalp-Älplerin zuvorderst bei der IG dabei, die Mutter wiederum versucht, für das Krähenbühl’sche Security-Unternehmen den Grossauftrag auf der Schwägalp zu angeln. Priskas Zusammenbruch erlebt man später oben im Gang zwischen den Hotelzimmern, in denen sich unterdessen die Besetzer eingenistet haben. Aber Ständeräte kann man ersetzen – wieder ein paar Episoden später wickelt oben im Konferenz-Säli des alten Hotels die GCCS den liebenswürdigen Historiker und IG-Protestler Matthias Fässler um den Finger und zieht ihn auf ihre Seite.

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Währenddessen nähen im früheren Massenlager die Besetzerinnen an ihrer Freiheitsfahne und nährt Revoluzzer Sigi seine Wut. Eines seiner Kinder ist beim Kampf um den Berg in einen Steinschlag geraten und seither gelähmt, Sigi wird zum kettenrasselnden Rächer. Da kann auch die händeringende italienische Mama nicht mehr helfen.

Kippfiguren wie Sigi, Priska oder Matthias sind ein Gewinn für das Stück, das sonst Bös und Gut manchmal allzu erwartbar trennt: hie die knallharten Investoren, da die idealistischen Naturschützer, Älplerinnen und Kids; hier die schlagzeilengeilen Journis von Blick und Tagblatt, dort die papierflügerlifaltenden und suppekochenden Kämpferinnen für das Gute und Wahre.

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Zwischen den Fronten steht Geologin Ingrid Kunz mit ihrem Geigerzähler und dem Strahlenforschungsprojekt am «Kraftort» Schwägalp. Und zwischen allen Zeiten und Räumen traumwandelt eine geheimnisvolle Frau durch die Gänge. Eine Wiedergängerin, sie hat hier einst gearbeitet und ist vor Jahren im Schwägalpnebel verschollen, und sie wird am Ende als letzte noch immer da sein – ein poetisches Bild für die Unauslöschbarkeit der Geschichte und der Erinnerungen.

Leidenschaftliches Ensemble

Die Truppe spielt mit Leidenschaft und Können, der Parcours durchs Hotel ist minutiös organisiert, ein dramaturgisches Meisterstück bei den labyrinthischen Verhältnissen und den unzähligen Auf- und Abgängen. Das Stück hat, bei allen Klischees, eine gute Prise Witz und Selbstironie und Sinn fürs pikante Detail – so steht im Zimmer des jungen Besetzers Ramon ein Exemplar von H.D. Thoreaus Buch Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat.

Einen besonders listigen Humor haben die Installationen in Zimmern, Fensternischen, Eckräumen: Matratzenstapel hier, eine Bettenskulptur, ein Kissenberg dort, Handlauf-Skulpturen, Arrangements von Hotelzubehör, als hätte Kunst-Aufräumer Ursus Wehrli auf der Schwägalp Hand angelegt. Das Hotel als Gesamtkunstwerk, Schnee inklusive…

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In der Schlussszene flackern im ehemaligen Speisesaal ein paar trübe Hoffnungslichter. Köchin Heidi schwört, zu bleiben, bis man sie hinausträgt. Gwen hat für ihr Permakulturprojekt eine neue Alp (halt im Toggenburg) gefunden. Das Hotel wird weichen müssen, aber der Dokfilm über die Besetzung gewinnt den Prix de Soleure. Und die Besetzer schaffen es: Ihre Fahne hängt an der Fassade.

Das Ende bleibt offen, die Geschichte um Macht und Ohnmacht, Geld und Geist könnte für einmal, gegen alle Erwartungen, zugunsten der Machtlosen ausgehen. Denn auf ihrer Seite ist nicht nur das Publikum, sondern auch die Natur. «Die Wölfe», ruft Sigi, «si chömed – e ganzes Rudel». Ihr Heulen kommt näher, in den rauschenden Schlussapplaus hinein. Draussen wartet das Postauto, das die Besucher zurück nach Urnäsch bringt.

Ensemble: Rahel Stieger van Dam, Cornelia Seiferth, Alexandra Breu, Yvonne Blattner, Trudy Rüdlinger, Christina Stark, Franziska Hess, Andreas Rohner, Elfride Verbruggen, Verena Bossart, Cilgia Kobelt, Samuel Neff, Rita Breu, Andrin und Lars Neff, Siri Löffel, Andreas Giger, Marion Beéry, Andrea Pfister, Andrea Vieritz, Anna Oertle, Manuela Stieger, Ursula Tanner-Zellweger, Olivia Clerici, Hilda Mathis, Marianne Neff-Gugger, Jonathan Frick.

Bilder: checkpoint-saentis.ch

Alle Aufführungen ausverkauft. Führungen im Hotel: Sonntag 14. Februar, Infos: checkpoint-saentis.ch

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