, 10. Juli 2023
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«The world looks perfect – it is not»

Die britische Künstlerin Alice Channer präsentiert ihre Werke in Appenzell. «Heavy Metals / Silk Cuts» zeigt ihren spielerischen Umgang mit unterschiedlichsten Materialien, vom bedruckten Seidenstoff bis zum zweckentfremdeten Meer aus Plastikpellets. Immer im Bewusstsein um die Fragilität der Ökologie. von Larisa Baumann

Metall und Seide: Alice Channer kombiniert die Materialien spielerisch. (Bild: pd)

Alice Channer, 1977 in Oxford geboren, war 2021 bereits an der Liverpool Biennale, 2013 an der 55. Biennale von Venedig und 2010 an der Glasgow International mit Werken vertreten. Die Künstlerin, die in London lebt und mit Skulpturen arbeitet, wirkte neben mehreren Einzelpräsentationen auch in zahlreichen Gruppenausstellungen, unter anderem in Hamburg, Montpellier, Beirut und New York, mit.

«Heavy Metals / Silk Cut»: Solopräsentation von Alice Channer, bis 8. Oktober, Kunstmuseum und Kunsthalle Appenzell

kunstmuseum-kunsthalle.ch

Auf die Einladung von Stefanie Gschwend, Direktorin und Kuratorin von Kunstmuseum und Kunsthalle Appenzell, gleich beide Häuser zu bespielen, entstand die Solopräsentation «Heavy Metals / Silk Cut». Die Ausstellung hat Anfang Juli ihre Tore geöffnet. Sie überrascht mit neuen Werken, darunter einer architektonischen Intervention, und gibt einen Überblick über Channers Schaffen des letzten Jahrzehnts. Begleitet wird sie von einem informativen Booklet. Es darf als kleiner Vorgeschmack auf den umfassenden monografischen Katalog gelten, der anlässlich der Ausstellung im September erscheinen wird.

Spiel mit Materialien

Der Titel «Heavy Metals / Silk Cut» verrät bereits viel über Alice Channers Arbeitsweise. Abgesehen davon, dass beide Wortpaare als Werktitel wiederzufinden sind, werden sich zwei sehr unterschiedliche Materialien gegenübergestellt: das harte, starre und kalte Schwermetall sowie die weiche, geschmeidige und leichte Seide.

Materialien spielen in Channers Skulpturen und Installationen eine Hauptrolle. Meist vereint sie Gegensätzliches wie Stabiles und Fragiles, Neues und Vergangenes, Horizontales und Vertikales, Künstliches und Organisches oder Handgemachtes und industriell Gefertigtes in einem Werk und löst dabei nicht nur sichtbare, sondern auch emotionale Ambivalenzen aus.

«Silk Cut» ist auch der Name einer britischen Zigarettenmarke und als Verweis auf eine Werbekampagne der Agentur Saatchi & Saatchi aus den 1980er-Jahre zu verstehen. Statt des zu bewerbenden Produkts zeigte das grossformatige Plakat lediglich einen glamourösen, in Falten liegenden, violetten Satinstoff, der einen Schnitt aufweist. Alice Channer sah dieses Plakat als Kind in London und es hinterliess bei ihr – Material und Aktion zeigend, verführerisch und zerstörerisch zugleich – einen prägenden Eindruck.

Nicht zuletzt referiert der Titel auch auf die beiden Ausstellungsorte: «Heavy Metal» im Kunstmuseum, einem Betonbau mit einer Fassade aus sich schuppenähnlich überlagernden Chromstahlblechen und «Silk Cut» in der Kunsthalle, einem – zumindest von aussen – leichteren Holzbau.

Alice Channer will mit ihrer Kunst Erwartungen widerlegen. Megaflora (2021) beispielsweise ist eine monumentale, aus Aluminium sandgegossene Brombeerranke. Beim Umrunden der Arbeit, die in der Kunstgiesserei St.Gallen entstand, zeigt sich, dass sie innen hohl ist.

In ihren Werken rückt die Künstlerin Prozesse und Beziehungen in den Vordergrund, die uns in der industriellen und konsumorientierten Welt absichtlich verborgen bleiben. An ihren Objekten, die sie häufig in Industriebetrieben bearbeitet, die mit der Produktion von Kunst nichts zu tun haben, lässt Channer die Spuren der Maschinen und Handwerker:innen stehen. Diskret und doch präzise führt sie uns Auswirkungen unseres Handelns und unseres Umgangs mit Rohstoffen und der Umwelt im Allgemeinen vor Augen.

Ein Meer aus Plastikpellets

Besonders eindrücklich zeigt sich das in der begehbaren Skulptur Birthing Pool (2019). Es ist ein Raum, der gefüllt ist mit schwarzen Pellets aus recyceltem HDPE; einem omnipräsenten Rohstoff für unterschiedlichste Produkte. Die hier verwendeten Pellets kommen aus einer Autofabrik in Polen, wo sie Reste oder sogenanntes «Material im Prozess» waren. In der Mitte des Raums befindet sich eine mit Stahl umrahmte Form, die geschichtete und gefaltete Textilien enthält: zum Beispiel Damenleggins, die Channer über Ebay gekauft hat.

Es fühlt sich überraschend angenehm an durch den Raum zu stapfen und sich in die Plastikmasse zu setzen. Doch beim Hinausgehen kommt das eine oder andere Pellet mit und es entsteht gewissermassen eine Verschmutzung des Nebenraums durch Makroplastik. Der ästhetische Reiz der Skulptur steht dem Wissen gegenüber, dass wir durch Kunststoffprodukte, Kosmetik oder synthetische Kleidung Mikroplastik in die Natur tragen.

Eine ähnliche Zwiespältigkeit ruft Rockpool (2023) hervor. Eine Art Pool, der nicht mit Wasser, sondern mit Salz gefüllt ist. Die raumübergreifende Skulptur verweist einerseits auf die Steinsalzgewinnung in den (Schweizer) Bergen, andererseits auf ausgetrocknete Gewässer. Die Form ist derjenigen einer Ölpestlache im Golf von Mexiko nachempfunden. Die Referenz zur Ölkatastrophe von 2010 steht in einem starken Kontrast zum reinen, weissen Salz – übrigens Streusalz, das im Winter wieder seine ursprüngliche Funktion erfüllen und auf die Strassen von Appenzell gestreut wird.

Mit Pangolin (2023) schafft Alice Channer eine ortsspezifische Intervention an den Stoffstoren des Kunstmuseums. Dazu inspiriert hat sie ein Besuch im Naturmuseum St.Gallen, wo sie ein Schuppentier sah und vom Fund eines Fossils einer neuen Pangolin-Art erfuhr, die vor circa 2 Millionen Jahren in Europa lebte. Bei diesem Werk handelt sich um den Druck einer Fotografie einer Skulptur aus gefalteter Seide, auf die zuvor bereits eine digital bearbeitete Fotografie appliziert wurde. Das Muster erinnert an die Schuppen des Pangolins, nimmt die Fassadenstruktur des Kunstmuseums auf und bildet mit Soft Sediment Deformation (Iron Bodies) (2023) in der Kunsthalle einen schönen Übergang der beiden Ausstellungsorte. Und ja, es gibt auch eine Schattenseite. Schuppentiere gehören zu den am meisten gewilderten Tiere weltweit.

Verweise auf die Fragilität der Ökologie ziehen sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung und so hallen die Worte der Künstlerin auch nach dem Museumsbesuch noch nach. Im Plastikkügelchen-Meer von Birthing Pool sitzend weist Alice Channer zum Fenster hinaus auf die idyllisch anmutende Appenzeller Landschaft und meint: «Even if the world looks perfect – it is not! Art can help us to see that.»

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