Der erste Eindruck von Majd Abdel Hamids Ausstellung «Resonances» ist überraschend nüchtern: eine klassische Hängung entlang der Wände, in der Mitte des Raumes eine Tischinstallation, die die Genese der sich dort repetierenden Motivik nachvollziehbar macht. Doch von diesem scheinbar geordneten Ausgangspunkt entfaltet sich ein zunehmender Abstrahierungsprozess über die Wände hinweg. Im Zentrum dieser Entwicklung steht die geometrische Struktur der Ewigblätter – eine dickblättrige Pflanze, die lange ohne Wasser überleben kann.
Dieser Prozess begleitet Hamid schon lange: Die Pflanze begegnete ihm oft in seinem Alltag zwischen Paris und Beirut. In seinem Werk wird die Pflanze zum Ausgangspunkt einer Metamorphose: Mit der Technik des Stickens unterwandert er die Materialität des Originals und überführt das pflanzliche Motiv in abstrakte Miniaturen – mal auf Stoff, mal auf Plastikraster oder Papier. Besonders in ihren monochromen Schichtungen erinnern seine Arbeiten an den abstrakten Expressionismus.
Textile Kunst als Gegenentwurf
Akribisch dokumentiert Hamid die Entstehung seiner Motive anhand des Pflanzenwachstums. Die Materialität seiner Arbeiten setzt sich in Stickereien auf verschiedenen Textilien fort, wie etwa Taschentüchern, Tischdecken oder zerschnittenen Flugzeugservietten aus aller Welt. Die Zartheit seines Handwerks, das die palästinensische Kreuzstichtradition widerspiegelt, steht sinnbildlich für den bewussten Arbeitsprozess, den Hamid propagiert.
Die Arbeit mit dem Faden bildet einen bewussten Kontrast zur beschleunigten Welt und verweist zugleich auf deren Fragilität. Wie diese feinen Fäden sind auch kollektive Erinnerungen in Diasporagesellschaften instabil. In diesem Kontext bieten Hamids Fadenassemblagen eine treffendere Metapher für das, was im Deutschen oft mit dem Begriff Heimat bezeichnet wird: eine Heimat, die vielschichtig und transnational sein kann – nicht ortsgebunden, sondern in Symbolen verankert, wie etwa in einer Pflanze, die Hamid an seine eigenen Wurzeln erinnert.

Das Experimentieren mit der Beschaffenheit der verwendeten Objekte und Materialien ist ein wiederkehrendes Element in beiden derzeit in der Kunsthalle gezeigten Ausstellungen. (Bild: Lilli Kim Schreiber)
Der Bezug zur textilindustriellen Geschichte St.Gallens, den der Ausstellungstext hervorhebt, mag auf den ersten Blick naheliegend erscheinen. Doch in Hamids detailverliebtem Schaffen ergeben sich spannende neue Resonanzen: Ein von ihm bemaltes, in Beirut gefundenes Stück Ätzspitze findet sich in der Postkarten-Serie wieder. Das Verfahren der Ätzspitze, im Fachterminus Guipure genannt, wurde ursprünglich aus Japan in die Schweiz importiert. Hamid, der selbst während eines Besuchs im Textilmuseum St. Gallen Stoffe für sein Schaffen erworben hat, dürfte diese transnationale Verflechtung sicherlich aufgefallen sein.
Von müden Stahlträgerinnen
Beim Betreten der zweiten Ausstellung «Imagínate vivir en Suiza y perderte esto» von Sofía Salazar Rosales fällt zunächst ein deutlicher Kontrast auf. Eine industrielle Aura, verstärkt durch mehrere Skulpturen, empfängt den Betrachtenden. Es glitzert – und doch wirkt alles unglaublich schwer und müde. Die Skulpturen, die Rosales alle als weibliche Figuren versteht, sind aus einem breiten Materialspektrum gefertigt, darunter Glasfaser, Harz, Vinyl und Beton. Äusserlich erinnern sie an ausrangierte Autoreifen, Stahlträger und Palmenblätter, die alle die Erscheinung müder Wanderer vereinen. Diese desillusionierte Perspektive auf das ständige Unterwegssein und die damit verbundene Rastlosigkeit bildet eine weitere Parallele zu Fragen rund um Zeit sowie die transformativen Potentiale der verwendeten Materialien und dargestellten Symbole.
Der Titel der Ausstellung, auf Deutsch etwa Stell dir vor, du lebst in der Schweiz und verpasst das hier, verweist auf ein in vielen lateinamerikanischen Staaten bekanntes Meme sowie einen TikTok-Trend, der stereotype, teils chaotisch-absurde Alltagsgegebenheiten in Lateinamerika auf überspitzte Weise dem scheinbar geordneten Alltag in der Schweiz gegenüberstellt. Rosales, deren Werke erstmals in einer Schweizer Institution zu sehen sind, fand den Trend so passend, dass sie ihn als Ausstellungstitel wählte – auch wenn die Verbindung zu den gezeigten Werken nicht unmittelbar ersichtlich ist.
Überwältigung als Strategie
Mit gerade einmal 25 Jahren überzeugt Rosales, die in Ecuador geboren wurde, mit einer Fülle an Werken, die bewusst einen überwältigenden Effekt auf die Besucher:innen auslösen sollen. Für die Ausstellung in der Kunsthalle hat sie gezielt mehr Werke geschaffen als ursprünglich vorgesehen. Damit setzt sie ein inszenatorisches Statement gegen den Purismus moderner westlicher Kunstinstitutionen. Zudem verweist sie auf Bolívar Echeverrías Theorie des barocken Ethos, die auf Improvisation, Opulenz und symbolischer Umdeutung basiert und sich in Lateinamerika als Gegenmodell zum kapitalistischen Erbe der ehemaligen Kolonisatoren behauptet.

Das Holzperlennetz mit Bananenreplikaten steht sinnbildlich für die gewaltvolle Umsiedlung im Zuge der unfreiwilligen Internationalisierung des Bananenexports. Die aus Eisen und Fasern angedeuteten Palmblätter im Hintergrund greifen die gegenwärtige Debatte über das Verbot der «invasiven» Tessiner-Palme auf. (Bild: Lilli Kim Schreiber)
Auch über die Inszenierung hinaus beschäftigt sich Rosales’ Werk mit den hybriden Strukturen lateinamerikanischer Gesellschaften. So stellt sie gekrümmte Figuren nach dem Vorbild ehemaliger Kolonialfrachtsäcke aus, deren Last förmlich spürbar ist. Ein Netz voller gefrorener Bananennachbildungen hängt mahnend im Raum und verweist auf koloniale Handelsstrukturen, die südamerikanische Länder nicht nur stark ausbeuteten, sondern auch politisch und ökonomisch nachhaltig destabilisierten – eine Realität, die sich bis heute im despektierlichen Begriff der «Bananenrepubliken» widerspiegelt. Diese Strukturen bestehen fort, etwa unter dem Label Chiquita, dem heutigen Nachfolger der United Fruit Company.
Auch darauf verweist Rosales mit ihrer Arbeit und lässt zugleich anklingen, wie ermüdend der fortwährende Kreislauf kolonialer Kontinuitäten und die ewige Wiederkehr des immer Gleichen auch für sie selbst ist.
Majd Abdel Hamid «Resonances» und Sofía Salazar Rosales «Imagínate vivir en Suiza y perderte esto»: bis 18. Mai, Kunsthalle St.Gallen.