Teures Pflaster

Wo das Kapital regiert: Der kritische London-Reiseführer des St.Galler Journalisten Peter Stäuber. von Richard Butz
Von  Gastbeitrag

Wer London mit Riesenrad («London Eye»), Shopping, schicken Pubs, Tate Modern, Big Ben, Horse Guards Parade und ähnlichen «Attraktionen» gleichsetzt, kann mit dem Anliegen von Peter Stäubers Buch London – Unterwegs in einer umkämpften Metropole vielleicht wenig anfangen. Kritischen Leserinnen und Lesern vermittelt es einen erhellenden Einblick in zum Teil verstörende Aspekte der Wirklichkeit der britischen Metropole.

Peter Stäuber, 1982 in St.Gallen geboren, hat Anglistik und Geschichte in Zürich, Wien und Aberdeen studiert. Seit 2010 lebt er, dem Journalisten-Netzwerk «Weltreporter» angehörend, in London. Er arbeitet als Übersetzer und schreibt für Zeitungen, so regelmässig für die «Woz», und Zeitschriften über britische Politik, Wirtschaft und Kultur. Stäuber ist kein Sessel-Journalist, er bewegt sich für die Recherchen seines etwas anderen Reiseführers in Londons Strassen und Quartieren, er spricht mit Protagonistinnen und Betroffenen, er beobachtet wach und kritisch.

«Das Kapital hat Vorrecht vor den Bürgern»

Jedes der sechs Kapitel in Stäubers Rundgang befasst sich mit einer Gegend, «in der», so der Autor, «ein bestimmtes Phänomen exemplarisch dargestellt werden kann – obwohl sich viele Entwicklungen in allen Stadtteilen abspielen». Am Anfang steht die traditions- und geschichtsreiche City of London. Ihre Ansammlung von lukrativen Finanzinstitutionen aller Art macht rund zehn Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung Grossbritannien aus.

In der Finanzkrise musste das gesamte Bankwesen vom Staat mit einer Garantie von über tausend Milliarden Pfund (ca. 1250 Milliarden Schweizer Franken) gerettet werden. Ein grosser Teil davon ist zurückbezahlt oder nicht abgerufen worden, aber unter den Folgen leidet das Land immer noch. Stäubers Fazit: «Viele der Entwicklungen (…) – steigende Mieten, Obdachlosigkeit, Ungleichheit, Vertreibung – sind mindestens teilweise auf diese Tatsache zurückzuführen: London ist ein Magnet für Kapital, und das Kapital hat Vorrecht vor den Bürgern.»

Peter Stäuber: London. Unterwegs in einer umkämpften Metropole. Promedia Verlag, Wien, 2016. Fr. 21.90.

Wie die englische und internationale Plutokratie lebt und wirkt, zeigt der Autor anhand des Nobelviertels Mayfair. Er weist beispielsweise nach, dass dem griechischen Staat durch die in London gelisteten 400 griechischen Immobilienbesitzer bis zu 30 Milliarden Pfund an Steuern verloren gegangen sind. Eine Folge des rasanten und weitgehend unbeschränkten Wachstums des Immobilienmarkts ist der stetige Preisanstieg von Immobilien.

Der Traum vom eigenen, wenn auch bescheidenen Reihenhäuschen ist für die meisten Londoner längst verflogen. Im Januar 2016 wurde ein Haus in der Stadt im Durchschnitt jeden Tag 500 Pfund teurer. Wer eins kaufen will, muss jährlich mindestens 77’000 Pfund verdienen, was selbst für Angehörige der Mittelklasse nur schwer erreichbar ist. Der einzig mögliche Ausweg, eine Mietwohnung, funktioniert ebenfalls nicht: Seit 2011 steigen die Mieten in London jährlich um 15 Prozent. Mietverhältnisse, die nach 1989 abgeschlossen werden, unterliegen keiner Kontrolle; ein Erbe der Regierungszeit von Margaret Thatcher.

Die Gurkenstadt

Viele Besucherinnen der Themsestadt zeigen sich fasziniert von den überall in den Himmel schiessenden Türmen, im Volksmund mit fast schon liebevollen Spitznamen wie «Gherkin» (Essiggurke) oder «Shard» (Scherbe, Splitter) versehen. Stäuber zitiert, bezogen auf den letzteren, den Journalisten Aditya Chakraborty, der in ihm die perfekte Metapher für London sieht: «Unerschwinglich für die meisten Anwohner, abhängig vom Fluchtkapital – ein Gebäude für das eine Prozent.»

Lesung, Gespräch und Diskussion mit Peter Stäuber: 9. März, 20 Uhr, Buchhandlung Comedia, St.Gallen.

Über den Kampf der kleinen Leute gegen Vertreibung als Folge der vom Neoliberalismus ausgelösten Gentrifizierung berichtet der Autor faktenreich im Kapitel über das East End, während er im letzten Beitrag die Verödung von Stadtteilen durch die Privatisierung von öffentlichen Räumen beklagt, die von einem oft brutalen Vorgehen gegen Obdachlose begleitet ist.

Im Epilog stellt Stäuber die Frage, was nach dem Brexit kommt. London hat mehrheitlich dagegen gestimmt, aber was er genau für die Stadt bedeutet, muss im jetzigen Moment offen bleiben.

Dieser Beitrag erschien im Märzheft von Saiten.