«Systemerhalt ist keine Option»

Die Wände sind in einem matten Grün gekachelt, der Boden marmoriert, die Platten etwas grösser. Da und dort Lücken, in denen Betonputz hervorbröckelt. Gleich beim Eingang steht ein abgerundeter, silberner Bartresen mit Steinarbeitsplatte, daneben sind kleine Sitzbänke samt Schirmständer in die Wand eingelassen. Dieser Raum ist offensichtlich gemacht, um sauber zu bleiben: Es ist eine ehemalige Metzgerei. Früher gingen hier täglich Leute aus dem St.Fiden-Quartier ein und aus. Später wurde ein Solarium daraus, dann kam die Leere.
Heute ist es eine U-Bahn-Station. Auch das ein kachliger Ort, der ständig geputzt werden muss und wo reger Verkehr herrscht. Philipp Bürkler, der gleich darüber wohnt, hatte sich auf den ersten Blick in den leerstehenden Raum verguckt – und auf gut Glück bei der Vermieterin angefragt, ob er zu haben wäre für ein temporäres Kunstprojekt. Die U-Bahn-Assoziation lag nahe, nicht zuletzt, weil die Kacheln ihn an die Ästhetik der Subway in New York erinnerten, wo er drei Jahre gelebt und gearbeitet hat. Und an Berlin, wo er zuletzt stationiert war, bevor er Anfang 2020 wieder zurück nach St.Gallen kam.
Retro Style…
Im Sommer konnte Bürkler mit zwei Freunden den Raum übernehmen und neugestalten, Wände streichen, Deko und Möbel organisieren. Heute ist die neue Station «U6 Silberturm» überaus einladend: Sie verfügt über eine gutsortierte Bar, angenehmes Licht, eine Musikanlage, und statt auf anonymen Wartebänklis sitzen die Passagier:innen nun auf bequemen 70er-Jahre-Stühlen in RGB-Farben. Wer will, kann in einem Buch oder einem Magazin schmökern. Grossstadt-Flavour, definitiv.
Auch der Name der geplanten Veranstaltungsreihe an der Lindenstrasse – Station to Station – ist eine Reminiszenz an die 70er. «From Station to Station back to Dusseldorf City. Meet Iggy Pop und David Bowie», heisst es in Trans Europe Express (1977) von Kraftwerk.
Die Düsseldorfer Musikpioniere verweisen darin nicht nur musikalisch auf Bowies 1976 erschienenes Album Station to Station, sie setzten auch ihrer gemeinsamen Zeit ein Denkmal: Im selben Jahr trafen sie sich mit Bowie, der seinerseits fasziniert von ihrer Musik war, in Düsseldorf auf seiner Europa-Tournee. «He was travelling by Mercedes, listening to nothing but Autobahn all the time», sagten Kraftwerk einmal über diese Begegnung und ihren gegenseitigen Crush.
…aber Future Thinking
Eröffnet wurde die Silberturm-Station bereits Ende Juli, bisher aber noch mit reduziertem Betreib. Ab dieser Woche finden in der Reihe Station to Station öffentliche Talks zu verschiedenen Nachhaltigkeits- und Kulturthemen statt, die auch als Podcast nachzuhören sind. Den Start am 21. Oktober macht Elmar Grosse Ruse, Umweltpsychologe und Klimaforscher beim WWF, zur Frage «Letzte Chance Klimakonferenz Glasgow?». Am 28. Oktober ist Sozialökonomin Carla Dossenbach zu Gast, dann folgen Heidi Moser vom Botanischen Garten (4.11.) und Carmen Lama, Expertin für Fair Fashion (11.11.).
Lindenstrasse 65, 9000 St.Gallen
Eine weitere Talkreihe im Rahmen des RESET-Forums mit mehreren Fachleuten sowie Kulturschaffenden ist angedacht. Das RESET-Forum wurde ebenfalls von Philipp Bürkler gegründet, eine Art Thinktank für Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft, um Fragen der sozial-ökologischen Transformation zu diskutieren. Seit Frühling 2020 gibt es auch eine Online-Publikation dazu: resetter.org.
Zurücklehnen? Langweilig.
Der Reset – nicht der verschwörungsmythische Great Reset, sondern als kollektiver Neustart zu verstehen – ist Bürklers Herzensthema. «Es muss endlich etwas passieren», sagt der im Thurgau aufgewachsene Journalist und Künstler. «Die Medien dümpeln vor sich hin, politisch läuft nichts und die Klimakrise wird vielerorts immer noch zu marginal oder als blosse Jugendbewegung behandelt. Dabei geht es um viel mehr als nur um die Klimakrise. Wir erleben eine globale sozial-ökologische Krise, nein: hunderte. Es brennt an allen Ecken und Enden.»
Systemerhalt sei keine Option, sagt er, die Zeit laufe ab. «Was wir heute tun, hat Konsequenzen über Jahrhunderte, wenn nicht noch länger. Nehmen wir den Atommüll: Keine vorangegangene Zivilisation hat es so verkackt wie unsere heutige. Wir müssen endlich Verantwortung übernehmen, ökologisch und auch sozial. Das ist eine riesige Herausforderung.»
Zurücklehnen und die eignen Privilegien geniessen angesichts der düsteren Aussichten kommt für Bürkler nicht in Frage, das wäre ihm zu langweilig. Zum Ausgleich fährt er Velo und veranstaltet einmal im Monat am Freitag eine Party in der Station. Und vielleicht zieht es den Weltläufigen bald wieder ins Ausland. Aber sicher nicht in den nächsten zwölf Monaten, bis mindestens Herbst 2022 läuft nämlich der Mietvertrag für die Station, die weitere Zukunft ist ungewiss. Bis dahin ist sie hoffentlich nicht nur Transit- und Verhandlungsort für interessierte Passagier:innen, sondern auch für viele zukunftsträchtige Ideen.