Syrien – und was hier zu tun ist
Die Ereignisse dieser Woche hätten einmal mehr «mit brutaler Deutlichkeit den Kriegswahnsinn in Syrien und die Hilflosigkeit der internationalen Gemeinschaft» gezeigt. So bilanziert Walter Brehm, Auslandredaktor beim St.Galler Tagblatt, die jüngste Eskalation – dass der Giftgasangriff aus dem Lager des syrischen Präsidenten Assad kam, darauf deuteten manche Indizien hin; ob hinter dem Bomben-Entscheid von US-Präsident Trump eine Strategie stehe, sei noch so wenig abzuschätzen wie die russische Reaktion, die vorläufig zumindest nur rhetorisch ausgefallen sei.
Jenseits von Gut und Böse
«Sechs Jahre Gewalt und Leiden – ohne erkennbare Friedensperspektive»: So ist der Vortrag betitelt, der mit den Ereignissen der Woche noch einmal eine traurige Aktualität bekommen hat. Walter Brehm analysiert umsichtig und kenntnisreich, wie man es von seinen Texten im Tagblatt kennt. Dort ist er nach seiner kürzlichen Pensionierung noch mit einem Teilpensum tätig; die Auslandseite des Tagblatts wird heute in Luzern gemacht.
Mit dabei am Belluna-Abend: die Bauingenieurin Abir Awad aus Homs und der junge Said Sleman aus der kurdisch-syrischen Stadt al-Hasaka. Sie geben nach dem Referat Auskunft über ihre Flucht und ihre Erfahrungen in der Schweiz. Im Publikum viele Landsleute; sie werden im zweiten Teil des Abends engagiert und zum Teil heftig über ihr Land diskutieren. Und bestätigen, was Walter Brehm als charakteristisch für diesen Krieg beschreibt: Es gibt kein «Gut» und «Böse», das sich klar trennen liesse; längst sind die Konfliktlinien so verwickelt wie die Schuldzuweisungen.
Abir Awad sagt am Ende schlicht: Es gibt niemanden, der nicht unter diesem Krieg leidet. Ende März 2017, nach sechs Jahren Bürgerkrieg, sind mehr als 5 Millionen Syrerinnen und Syrer auf der Flucht. Eine halbe Million Menschen sind getötet worden. Gerade wieder ist ein Anlauf für Friedensgespräche, inzwischen in der fünften Runde, gescheitert. Und gerade wieder wurden 6,7 Milliarden Euro für den Wiederaufbau versprochen – eine Zahl, die Brehm für wenig realistisch hält, sondern vielmehr als Ausdruck des schlechten Gewissens deutet.
Spätfolgen des Golfkriegs
Dass es überhaupt zum Krieg kam, begründet er mit der «panischen Reaktion» von Präsident Assad 2011 auf das damals moderate Aufbäumen der Opposition. Eine besonnene Reaktion und massvolle Reformen wären denkbar gewesen; Assad reagiert unter dem Eindruck des Schicksals der anderen Despoten im Arabischen Frühling, in Ägypten, Tunesien oder Libyen, jedoch brutal, lässt auf unbewaffnete Demonstranten schiessen, fährt Panzer gegen Bürger auf.
Mit dem Aufbau des Islamischen Staats IS bekommt der regionale Konflikt eine religiöse Aufladung. Hintergrund war, so Brehm, nicht zuletzt das Potential von gut ausgebildeten, nach dem Golfkrieg arbeitslos gewordenen irakischen Militärs, zusammen mit von Assad freigelassenen Dschihadisten-Kämpfern – der IS-Staat sei damit nicht zuletzt eine «bitterböse Folge der US-Politik». Professionell organisiert, wurde er zum (zumindest in den Anfängen) «elektrisierenden» Ideal für im Westen lebende junge Islamisten.
Heute sei der Syrienkrieg ein Konflikt um die regionale Vormacht mit zahlreichen, je ihre Interessen verfolgenden Beteiligten, darunter die Armee von Diktator Baschar al-Assad, die Terrormiliz Islamischer Staat, die Freie syrische Armee, der Al-Nusra-Ableger des Terrornetzes Al Kaida, islamistische Milizen und die syrischen Kurden, die für mehr Autonomie kämpfen. Im Hintergrund: die Türkei, Saudi-Arabien und die Golfemirate, Russland und die USA mit ihren je strategischen und wirtschaftlichen Interessen. Und europäische Rüstungskonzerne, auch aus der Schweiz, als Profiteure.
Wie widersprüchlich die Situation ist, zeigt sich an der Person des Diktators Assad. Die Einschätzungen der Syrer gehen an dem Abend heftig auseinander; Walter Brehm zeichnet seinerseits ein zwiespältiges Bild Assads: einerseits säkularer Machthaber ohne religiösen Fanatismus, andrerseits brutaler Diktator, der Krieg gegen seine eigene Bevölkerung führt.
«Raum der Hoffnung»
Brehm kritisiert zugleich das im arabischen Raum vorherrschende Schwarz-Weiss-Denken, das weitgehende Fehlen einer politischen Kultur, die auch gegenteilige politische Ansichten gelten lasse. Das Gegenbild habe er hier erlebt, am Mittagstisch im Solihaus, wo Menschen unterschiedlichster Herkunft und Haltung miteinander im Gespräch seien und sich respektierten. «Das ist für mich ein Raum der Hoffnung.»
Je mehr Konfliktparteien, je unversöhnlicher die Positionen, umso geringer die Friedenschancen. Mit dem syrischen Autor Rafik Schami betont Walter Brehm aber eindringlich: «Wir können uns den Luxus der Hoffnungslosigkeit nicht leisten.»
Arbeit bedeutet Zukunft
Und das gelte nicht nur für die Menschen in Syrien, sondern ganz konkret auch hier: Said, vor drei Jahren mit 17 vor dem drohenden Militärdienst geflohen und über die Türkei und Frankreich nach St.Gallen gekommen, hofft auf Frieden in seinem Land und auf einen Ausbildungsplatz als Elektriker in der Schweiz – um dereinst in sein Land zurückkehren zu können. Bauingenieurin Abir Awad, seit dreieinhalb Jahren in der Schweiz und blendend Deutsch sprechend, ist ihrerseits auf Arbeitssuche.
Am Belluna-Abend war man sich einig: Der Beitrag der Schweiz könne und müsse es sein, den Menschen aus Syrien hier Ausbildung und Arbeit zu bieten, um im Land später zum Wiederaufbau beizutragen.
Zu diesem Thema – «Auf der Suche nach Arbeit» – organisiert das Solihaus seinen nächsten Belluna-Abend im Mai und eine Porträt-Ausstellung.