Strom und Schlacke – Der Bodenseehandel floriert

Superlative der Wasserkraft in Vorarlberg, Spitzenlast- und Wasserbedarf in Baden-Württemberg und internationaler Abwasser- und Abfallhandel: Mit dem Töff auf Ressourcen-Reportage rund um den Bodensee.
Von  Roman Hertler
Seit 1930 am Netz: das Vermuntwerk im Montafon. (Bilder: hrt)

Mitte Mai geht das Leben im Montafon den geruhsamen Gang der Nebensaison. Es herrscht kaum Verkehr. Ein Lastwagen transportiert Traktoren, ein Traktor transportiert Dachbalken und ein Feuerwehrmann fährt im frisch revidierten Löschfahrzeug Frau und Kind spazieren.

Die geplante Passfahrt endet kurz hinter Partenen an der geschlossenen Mautstelle zur Silvretta-Hochalpenstrasse. Auf der Bielerhöhe auf über 2000 Metern herrscht Winter. Ein Blick auf den Silvretta-Stausee hätte veranschaulicht, warum in aller Welt eine thematische Bodenseerundreise im Montafon beginnt. Das Motorrad ist aber rasch gewendet und als alternativer Zwischenstopp bietet sich das nahegelegene Vermuntwerk an.

Im Silvretta-Gebiet betreibt die Illwerke VKW AG, fast vollständig im Besitz des Landes Vorarlberg, ihre leistungsstärksten Wasserkraft- und Pumpspeicherwerke. Ein weitverzweigtes System aus Stauseen, Schächten und Kanälen liefert das ganze Jahr über Wasserkraft und vor allem auch Spitzenlasten für Vorarlberg und ins baden-württembergische Starkstromnetz.

Die Ressourcen-Tour rund um den Bodensee beginnt im Montafon.

 

Die alten, in Steinmauern gefassten Masten der 1929 erbauten Rheinlandleitung, die vom Vorarlberg bis ins Ruhrgebiet reicht, sind heute noch in Betrieb. Das Vermuntwerk bei Partenen war bei der Inbetriebnahme 1930 das grösste Wasserkraftwerk Österreichs und schon damals im Verbund mit deutschen Wärmekraftwerken verantwortlich für die Netzstabilität.

Batterie für den ganzen Raum Bodensee

Jetzt kündigen die Illwerke wieder einen Superlativ an: Mit dem Lünerseewerk II ist das grösste Pumpspeicherwerk Österreichs geplant. Mit seinen 1000 Megawatt Leistung kommt es zwar nicht ganz an Linth-Limmern, sein Schweizer Pendant im Glarnerland, heran, aber es hat laut den Verantwortlichen das Potenzial, der ganzen Metropolitanregion Bodensee mit ihren vier Millionen Einwohnern als «Batterie» zu dienen. 2038 soll es ans Netz.

«Mit dem Lünerseewerk II zündet Vorarlberg den Turbo für die Energiewende»: Christoph Metzler, Grünen-Abgeordneter im Vorarlberger Landtag

Dem Zwei-Milliarden-Projekt applaudiert sogar die Grünen-Fraktion im Vorarlberger Landtag. Wir treffen den Abgeordneten Christoph Metzler zum Kaffee in Lustenau. «Mit dem Lünerseewerk II zündet Vorarlberg den Turbo für die Energiewende», sagt er. «Windkraft und Photovoltaik werden immer wichtiger, aber wie speichern? Das Gefälle beim Lünersee beträgt über tausend Meter, ein enormes Energiepotenzial.» Und aus Naturschutzsicht besonders erfreulich: Das neue Kraftwerk kann grösstenteils auf bereits bestehende Anlagen zurückgreifen. Es braucht keinen weiteren Stausee im Brandnertal und kaum zusätzliche bauliche Eingriffe in die Natur.

Trotz der alpinen Landschaft mit Gebirgsbächen und Flüssen bleibt Vorarlberg vorerst ein Nettostromimporteur. Das Bundesland hält aber an seinen ehrgeizigen Zielen fest: Bis 2030 soll der Anteil erneuerbarer Energieträger am Gesamtenergieverbrauch gegenüber 2005 um 50 Prozent gesteigert, die Treibhausgase um 50 Prozent reduziert und der Stromverbrauch zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien gedeckt werden – aus Wasser, Sonnenlicht und Biogas. Der Landtag hat das entsprechende Strategiepapier «Energieautonomie+ 2030» im Mai 2021 gutgeheissen. Einstimmig. Das bereits im Jahr 2009 erklärte Fernziel: vollständige und saubere Energieautonomie bis 2050. Solch visionären Ehrgeiz wünschte man sich auch von den hiesigen Kantonsparlamenten…

Trinkwasserspeicher für Millionen von Menschen

Wir schwingen uns wieder aufs Motorrad. Um Bregenz nimmt der Verkehr deutlich zu. Wir verlassen die A14 auf deutscher Seite bei nächster Gelegenheit. Die gemütliche Fahrt führt über sanfte Hügelzüge, linkerhand der Bodensee, durch frühsommerliche Obstplantagen und Rebberge, schmucke Dörfer, Nonnenhorn, Kressbronn, vorbei an Friedrichshafen und über Meersburg ins pittoreske Überlingen.

Wenige Kilometer weiter erreichen wir über ein kurviges Waldsträsschen den Sipplinger Berg. Auch hier endet die Fahrt am Schlagbaum eines Pförtnerhäuschens. Kurz nach 18 Uhr kommt man unangemeldet natürlich nicht in die grösste Trinkwasseraufbereitungsanlage am Bodensee. Schon der Blick von aussen lässt einen die Ausmasse der umzäunten Anlage erahnen. Abgeschieden im Naturschutzgebiet gelegen gäbe sie eine hervorragende Kulisse für das geheime Hauptquartier eines Bond-Bösewichts ab.

«Kritische Infrastruktur»: Die Zufahrt zur Trinkwasser-Aufberreitungsanlage auf dem Sipplinger Berg ist abgesperrt.

Gerne hätte man im Innern den imposanten Quelltopf mit 14 Metern Durchmesser sprudeln sehen, wo pro Sekunde mehrere tausend Liter Bodenseewasser erstmals nach der Entnahme wieder an die Oberfläche gelangen. Hier, etwa einen Kilometer vom Ufer entfernt und 310 Meter über dem Seespiegel, wird das Wasser aufbereitet und danach über zwei Hauptleitungen bis weit über Stuttgart hinaus verteilt.

Der Zweckverband Bodensee-Wasserversorgung wurde 1954 von 13 Gemeinden gegründet, um den Grossraum Stuttgart und die wasserarme Schwäbische Alb mit Wasser zu versorgen. Heute deckt der Verband den Wasserbedarf von über vier der insgesamt 11 Millionen Einwohner:innen in Baden-Württemberg.

Alles läuft über die Aufbereitungsanlage auf dem Sipplinger Berg, was sie zu einer Kritischen Infrastruktur macht. 2005 wurden nach einer brieflichen Terrorwarnung bei der Wasserentnahmestelle rund 300 Meter vom Ufer entfernt auf dem Seegrund drei Kanister und ein geöffneter Granulat-Sack mit Atrazin und anderen Pflanzenschutzmitteln geborgen. Eine Gefahr für die Trinkwasserentnahme hat aufgrund der kleinen Mengen nie bestanden. Ein Giftanschlag auf dem Sipplinger Berg könnte allerdings verheerend sein.

Beim Abendessen in der Gartenbeiz mit Kollege Surber, der auf seinem Bodensee-Trip ebenfalls in Überlingen Halt macht, sprechen wir darüber und auch über den Umstand, dass es für ein deutsches Restaurant auf den üblichen Marktwegen offenbar kaum noch möglich ist, an Fisch aus dem Bodensee zu gelangen. Unsere Egli-Filets kommen aus Norditalien. Eine Frau am Nachbarstisch vermutet, dass auch auf Schweizer Seite wohl mehr Bodensee-Fisch verkauft als tatsächlich gefischt wird.

Nicht einfach das dreckige Ende der Stadt

Am nächsten Morgen nieselt es, aber die Regenhose bleibt in der Sacoche. Es geht mit der Fähre von Meersburg nach Konstanz. Thema heute: grenzüberschreitender Abfall- und Abwasserhandel. Und wiederum: Norditalien. Aber der Reihe nach.

Die Fahrt führt einmal quer durch Konstanz ans Ende des Industrie- und Gewerbegebiets im Westen. Vom Gärturm aus blickt man über die ganze Abwasserreinigungsanlage und neben den Klärbecken auf das Bürogebäude der städtischen Entsorgungsbetriebe. Der 1997 eröffnete Glasbau fällt zum Eingang hin über die ganze Höhe schräg ab und ist mit Solarpanels ausgerüstet. Zur Anmeldung schreitet man über einen Gittersteg, der über einen hübschen Fischteich mit Schilf führt.

Nicht einfach das schmutzige Ende der Stadt: Bürogebäude der Entsorgungsbetriebe Stadt Konstanz.

Ulrike Hertig, Leiterin der Konstanzer Entsorgungsbetriebe

Ulrike Hertig, Leiterin der Entsorgungsbetriebe Stadt Konstanz (EBK), sitzt in ihrem hellen Büro am Sitzungstisch. Sie erklärt das Selbstverständnis der Entsorgungsbetriebe anhand der ausgefallenen Gebäudearchitektur: «Beim Bau und der Zentralisierung der zuvor in der Stadt verstreuten Betriebe war klar: Die Entsorgung soll nicht einfach das dreckige Ende der Stadt sein. Wir sind ein Umweltbetrieb, ressourcenschonend und transparent.» Ständig wird der Betrieb optimiert. Rund zwei Drittel ihres Energiebedarfs produzieren die Entsorgungsbetriebe vor Ort, etwa über das Klärgas-Heizblockkraftwerk oder die PV-Anlagen.

Dass der Bodensee heute so sauber ist – die Fischerei würde sagen: zu sauber –, ist vor allem den Kläranlagen zu verdanken, die ab den 1960er-Jahren rund um den Bodensee installiert wurden. Ab der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre war der Nährstoffgehalt im Bodensee explodiert. Verantwortlich dafür waren nebst der Landwirtschaft vor allem der zunehmende Phosphorgehalt in Waschmitteln und anderen Alltagsprodukten, die übers Abwasser direkt in den See gelangten. Die Wende gelang, nicht zuletzt dank der IBK, erst Mitte der 1970er-Jahre. Heute hat der See wieder eine Phosphatkonzentration wie vor 70 oder 80 Jahren. Die Fischerei hat also noch andere Probleme als die «Sauberkeit» des Sees.

Die Kläranlage in Konstanz nahm den Betrieb 1966 auf. Von Anfang an vertraglich eingebunden war die Thurgauer Schwesterstadt Kreuzlingen, und seit 2017 sind es auch die Nachbargemeinden Tägerwilen und Gottlieben. Der Klärschlamm wird von den Partnern der Klärschlamm-Interessengemeinschaft Ostschweiz – das sind: Abwasserverband Altenrhein, Zweckverband Abfallverwertung Bazenheid und die Landi-Obstverwertung in Oberaach – getrocknet und grösstenteils zu Dünger verarbeitet oder verbrannt.

Nebst Klärschlamm liefert Konstanz seit 2006 auch rund die Hälfte seines nicht verwertbaren Restmülls in die Schweiz. Dieser gelangt in orangen Containern per Bahn nach Weinfelden, rund 38’000 Tonnen pro Jahr oder rund ein Viertel dessen, was in Weinfelden verbrannt wird. «Da haben alle etwas davon», erklärt Peter Steiner, Geschäftsleiter des Verbands KVA Thurgau, am Telefon. «Konstanz muss den Abfall nicht in weitentfernte deutsche Anlagen transportieren, und wir können unsere Kapazitäten besser ausnutzen.»

Solche «Marktabfälle» gelangen auch in andere Anlagen in der Ostschweiz. In Bazenheid zum Beispiel werden Gewerbeabfälle aus der Region Lustenau verbrannt. Die Transporte folgten dem «Prinzip der Nähe», schreibt die Geschäftsleitung auf Anfrage. Es kommen aber auch Abfälle aus Norditalien. Hierbei handle es sich um Gegentransporte zum Altglas und Altmetall aus der Region Bazenheid, das in Norditalien verwertet wird. Winterthur verbrennt kleinere Mengen aus dem Schwarzwald. Und in Buchs werden pro Jahr rund 40’000 Tonnen Vorarlberger Kehricht verbrannt. Die übrigbleibende Schlacke geht dann wieder zurück nach Österreich.

Bei dieser pan-bodenseeischen und sogar pan-alpinen Abfallschieberei könnte einem schwindlig werden, auch wenn das «Näheprinzip» und die Ausnutzung der Kapazitäten einleuchten. Darüber weiter nachzudenken hilft allerdings wenig bei der Streckenfindung zurück nach St.Gallen abseits der direkten Seeroute. Trotz ordentlich ausgebildetem Orientierungssinn spickt es einen im Thurgau immer wieder gerne eine Ausfahrt zu früh oder zu spät aus den Kreiseln. Und so haben wir am Schluss ungewollt noch das Vergnügen, den Rauch der KVA in Weinfelden aus der Nähe zu sehen. Jetzt wissen wir: drei Viertel Schweizabfallrauch und ein Viertel Deutschmüllqualm.