, 18. Juni 2024
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Strassen als Lebensräume

Während in der Stadt St.Gallen Begegnungszonen aus dem Boden spriessen, wird Tempo 30 auf nationaler Ebene zum Feindbild. Die Debatte droht sich auf das Tempo und damit auf die Verkehrsfrage zu verkürzen. Dabei sind Strassen vor allem auch ein zentraler Lebensraum. Ein Essay von Niklaus Reichle

Performance Das Zebra streifen von Gerhard Lang in Kassel, 1993 (Bild: Helmut Aebischer)

Heute wird auf Strassen vor allem gefahren oder gegangen. Dafür werden sie asphaltiert, mit Trottoirs versehen, markiert und mit weissen oder blauen Rechtecken geschmückt. Gelbe Streifen und Ampeln regeln das Überqueren. Es ist ein Raum, der leicht, ja bisweilen fast schon leichtfertig gefüllt wird. Zack, ist die Fläche asphaltiert. Der Verkehr rollt und die Autos parken. Die Regeln sind klar.

Ähnliches gilt für Brachen: Im Zweifelsfall, um spontane Aneignung oder Entwicklungen von unten zu erschweren, werden sie provisorisch zu Parkplätzen. Das geht zügig, erspart lästige Diskussionen und bringt Geld ein. Nur werden aus den Provisorien allzu leicht Providurien. Das hat einen Grund: Die einfachen Bedürfnisse von Autos sind leichter zu verstehen und zu befriedigen als die komplexen Bedürfnisse von Städten, wie es die US-amerikanische Stadtforscherin und Aktivistin Jane Jacobs schon 1961 treffend formulierte.

«Städtebau beginnt an der Strasse»

Dies ist kein Text gegen Autos. Dies ist ein Plädoyer für die Strasse und dafür, sie mit anderen Augen zu sehen. Es wäre viel zu schade, sie allein unter dem Gesichtspunkt der Mobilität zu betrachten. Zu gross sind die Flächen, die Strassen in innerstädtischen Gebieten einnehmen. Zu stark ist ihre Prägekraft für die Gestalt unserer Städte. Nein, Strassen sind weit mehr als Verkehrsinfrastruktur. Zusammen mit Gehwegen sind sie – wie Jane Jacobs in ihrem Klassiker Death and Life of Great American Cities ausführte – «die wichtigsten öffentlichen Plätze einer Stadt» und «ihre wichtigsten Organe».

Niklaus Reichle, 1986, ist Soziologe und Kulturschaffender. Er forscht und lehrt an der Universität St.Gallen und der Fachhochschule Ost. Mit seiner Familie lebt er seit Sommer 2018 im St.Galler Museumsquartier.

Nicht die Strassen selbst sind also das Problem. Es ist ihre fast ausschliessliche Definition als Verkehrsachsen, die Schwierigkeiten bereitet. Auf ihnen fährt nicht nur die Vergangenheit, in ihnen ist auch in entscheidender Weise die Zukunft der Städte angelegt. Damit diese zarten Pflänzchen gedeihen können, gilt es anders zu denken. Eine solche Blickrichtung schlagen auch die ZHAW-Forschenden Regula Iseli, Peter Jenni und Andreas Jud in ihrem soeben erschienen Buch Städtebau beginnt an der Strasse vor: «Nachdem Strassen in den letzten Jahrzehnten für den motorisierten Individualverkehr ausgebaut wurden und sich dadurch zu unwirtlichen Räumen verändert haben, sollen sie ihre Bestimmung als öffentliche Räume zurückgewinnen.»

Dies realisiert man langsam, aber sicher auch in St.Gallen. Ein Blick in die Freiraumstrategie der Stadt zeigt, dass für die Versorgung mit Freiräumen zunehmend auch «aufenthaltsfreundlicher Strassenraum» in den Fokus gerät. Das gängigste Mittel, um solchen zu schaffen, ist die Errichtung von Begegnungszonen. Damit diese funktionieren, sind Strassen jedoch nicht einfach nur umzugestalten, sondern immer auch wachzuküssen. Und das beginnt bei der Art und Weise, wie sie wahrgenommen und genutzt werden.

Von der Fussgängerdomäne zum Gefahrenort

Immer wieder haben Kunstschaffende, Landschaftsarchitekt:innen und Wissenschaftler:innen auf die dominante Lesart von Strassenräumen hingewiesen und diese in Frage gestellt. Wie wir Räume verwenden, hängt besonders mit unserer Sozialisierung und vorgeprägten Wahrnehmungsmustern zusammen. Wenn wir Teil einer Gesellschaft werden, lernen wir Räume zu lesen. Und wir verbinden sie automatisch mit spezifischen Nutzungen. Landschaft – und damit auch Strassenraum –, sagt der Soziologe Lucius Burckhardt, sei deshalb vor allem im Kopf der Betrachterin zu suchen und nicht in erster Linie in den Erscheinungen der Umwelt.

Stadtkinder werden so zu Stadtmenschen. Dreht sich der Alltag zunächst um die Wohnung, so eröffnet sich ihnen Stück für Stück die Welt. Doch gleich nach der Haustüre beginnen die Mahnrufe und Warnungen. Draussen lauert eine gefährliche Welt. Die Aneignung des städtischen Raums hört da auf, wo der Verkehr beginnt – spätestens an der Grenze von Trottoir und Strasse. Der Strassenraum prägt das Aufwachsen in der Stadt. Die Sozialisierung im Stadtraum ist umrahmt und stets begleitet vom Verkehr. Sich kleinräumig frei darin zu bewegen, bleibt den meisten Kindern verwehrt. Trotz technologischem und gesellschaftlichem Wandel halten sich diese Rahmenbedingungen und die dadurch begründeten Wahrnehmungsmuster hartnäckig.

Drehen wir das Rad der Zeit 100 Jahre zurück, sind wir mit einem gänzlich anderen Strassenraum konfrontiert – einem, der noch primär durch Fussgänger:innen, Fahrradverkehr und Fuhrwerke geprägt ist. Eindrücklich zeigt dies ein Entscheid des Aargauer Obergerichts aus dem Jahr 1922. Darin heisst es, «dass ein Fussgänger auf der Strasse vollständig frei ist, wo er gehen will, dass ferner nicht nur normalhörige, sondern auch schwerhörige Personen, ja sogar Taubstumme und Leute mit sehr schweren Holzschuhen die Strasse betreten dürfen. Denn sie gefährden andere nicht; das Gefahrenmoment aber schafft das Automobil, das mit bedeutend grösserer Schnelligkeit als der Fussgänger sich fortbewegt.»

Innert weniger Jahrzehnte wird die Strasse von der Fussgängerdomäne und vom primären Spielraum zum Gefahrenort. Dies beschreibt die Historikerin Erika Flückiger Strebel in ihrer 2014 erschienenen Geschichte des Fuss- und Langsamverkehrs in der Schweiz. Mit viel Aufwand und wirksam wird ein neues Wahrnehmungsmuster des Strassenraums befördert: «Sowohl im realen Strassenverkehr wie auch im gesellschaftlichen Diskurs wurde der Fussverkehr (…) in der Zwischenkriegszeit mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt.» Ihre «radikale Verdrängung aus dem Strassenraum» erfuhren die Fussgänger:innen «mit der Massenmotorisierung nach dem Zweiten Weltkrieg».

Gleichzeitig wurden Kinder mit Spielplätzen immer mehr von der Strasse weggeholt. Auf freie Entfaltung folgte kontrolliertes Spielen unter Aufsicht. Die Strassenplaner richteten ihren Fokus auf die Bedürfnisse des zunehmenden und sich beschleunigenden Strassenverkehrs und begannen mit der Trennung des Geh- und Fahrverkehrs. Mit der Zeit veränderte sich auch das Bauen. Neue Häuser und ihre Balkone richteten sich nicht mehr auf die Strasse aus, sondern wandten sich mehr und mehr von ihr ab. Sie wurden zum Schutzwall, der Emissionen und Gefahren auf Distanz hält. So bildete sich langsam, aber sicher das Bild der Strasse heraus, das wir heute kennen.

Die autogerechte Stadt der Nachkriegszeit erforderte vor dem Hintergrund vieler Unfälle vor allem eine neue Nutzungskultur des Strassenraums. Sie ist, wie der Architekt und Stadtplaner Hans Bernoulli 1954 erklärt, «zu einem lebensfeindlichen Element geworden, zu einer Gefahr nicht nur für den Besuch vom Land und für die Kinder – auch für uns erwachsene Städter». Zu einem Ort, wo Fussgängermarkierungen, Geländer und Rettungsinseln eingebaut werden.

Die Strasse, so scheint es, durfte nicht mehr als Lebensraum erscheinen. Ein neues gesellschaftlich geteiltes Bild wurde kultiviert, dies erforderte pädagogische Mittel. Lange beschäftigten sich die Strassenfachleute fast ausschliesslich unter dem Aspekt der Verkehrssicherheit mit dem Fussverkehr und leiteten daraus primär erzieherische statt verkehrsplanerische Massnahmen ab.

Die Notwendigkeit neuer Bilder

Das Auto ist zunächst nicht schlecht oder gut. Es ist schlichtweg da und prägt unser Bild von der Strasse. Die Frage ist, wie wir zu neuen Bildern gelangen. Bildern, in denen nebst dem Verkehr nicht nur Bäume (wie es die Stadtklima-Initiativen vorsehen), sondern eben auch Menschen und gelebter Alltag ihren Platz finden.

Immer wieder versuchen Aktivist:innen, darauf hinzuarbeiten. 1970 legt die Landschaftsarchitektin und Künstlerin Bonnie Ora Sherk in San Francisco dutzende Bahnen Rollrasen aus und verwandelt Strassenräume in «portable parks». Unter einer grossen Autobahnkreuzung in San Francisco startet Sherk mit Mitstreiter:innen auf dem Gelände eines ehemaligen Milchvieh-betriebs eine Art Gemeinschafts-Bauernhof, ein Potpourri aus Kunst, Urban Gardening, Aktivismus und Theater. Mit solchen Projekten thematisierte sie Strassenräume und das Wechselspiel zwischen Natur und Stadt. Vor allem aber zeigt sie, dass an derselben Stelle ganz andere Orte denkbar sind. Palmen in Töpfen und Bänke zieren die vorübergehende Wiese.

Portable Park 2, initiiert von Bonnie Ora Sherk, San Francisco, 1970

Mit ihren Projekten nahm Sherk Initiativen wie die sogenannten «Parklets» vorweg. 2005 bezahlte die Kunst- und Designgruppe Rebar in San Francisco ein Parkticket, um – ähnlich wie Sherk – mit Rasen, einem Topfbaum und einer Bank den Raum zu verändern. Nachdem das Parkticket abgelaufen war, räumten sie auf und gingen nach Hause. So flüchtig die Aktion war, so nachhaltig äusserte sich der angestossene Reflexionsraum: An ganz verschiedenen Orten auf dem Globus wird die Aktion bis heute imitiert.

Andere Aktionen thematisieren das Problem der Strassenquerung und die Rolle der Strasse als geplantes Hindernis für Fussgänger:innen. 1993 führt der Künstler Gerhard Lang in Kassel die Performance Das Zebra streifen durch. Mit einem ausrollbaren Zebrastreifen ermöglicht er den Fussgänger:innen eine Strasse dort zu überqueren, wo es ihnen sinnvoll erscheint und nicht nach den Vorgaben der Verkehrsplanung.

Strassen als Freiraumreserven

Die beschriebenen Aktionen stellen das vorherrschende Bild der Strasse als Verkehrsinfrastruktur in Frage. Wir alle haben automatisch Bilder im Kopf, wenn wir das Wort Strasse hören. Und wir alle bewegen uns oft schlafwandlerisch und ohne grosse Denkanstrengung durch das System von Regeln, Markierungen und Asphalt, das die Strasse konstituiert. Die eingeschliffenen Routinen sind behäbig und unterfüttert mit der Angst vor Unfällen.

Crossroads Community (The Farm), initiiert von Bonnie Ora Sherk, 1974-1980

Dieses System kann kaum so fortbestehen: Während der Strassenraum tendenziell gleich gross bleibt – etwa 30 Prozent der Siedlungsfläche –, wird die verfügbare Fläche für innerstädtische Entwicklung immer knapper. Es verschwinden vor allem ungestaltete Bereiche und funktionsoffene Räume, die vielfältige Aneignung und sich überlagernde Nutzungen zulassen. Gleichzeitig nimmt der Druck auf den Strassenraum zu. Ein Verteilkampf zwischen Autofahrer:innen, ÖV, Fahrradverkehr und Fussgänger:innen ist im Gang. Dazwischen grätschen E-Trottis und elektrifizierte Mini-Motorräder. Es wird gestritten, wer wie und mit welchem Fahrzeug am Verkehr teilnehmen darf und wie dabei Sicherheit gewährleistet werden kann.

Leider bleibt der Blick dabei meist auf Verkehrsfragen verengt. Die Schlüsselfrage wäre aber, wie und wo die unterschiedlichen Bedürfnisse nach Mobilität befriedigt werden können, ohne dabei die vielfältigen und konzentrierten Nutzungen zu behindern, die im weiteren Kontext des Strassenraums Platz finden könnten. Denn genau diese machen urbane Qualitäten aus, konstituieren Nachbarschaft und Gemeinschaft, lassen sich aber kaum vom Reissbrett oder Pult aus planen.

Weiterlesen:

Hans Bernoulli (Josuah Fensterriegel): Nach Rothenburg zurück? in Das Werk, 1926.

Lucius Burckhardt: Warum ist Landschaft schön. Die Spaziergangswissenschaft. Martin Schmitz Verlag, Berlin 2006.

Lucius Burkhardt, Markus Kutter: Wir selber bauen unsere Stadt: Ein Hinweis auf die Möglichkeiten staatlicher Baupolitik. Verlag Felix Handschin, Basel 1953.

Sven Eggimann: Expanding urban green space with superblocks. Land Use Policy 117, 2022.

Erika Flückiger Strebel: Geschichte des Langsamverkehrs in der Schweiz des 19. und 20. Jahrhunderts: eine Übersicht über das Wissen und die Forschungslücken. Via Storia, Bern 2014.

Regula Iseli, Peter Jenni und Andreas Jud: Städtebau beginnt an der Strasse. Park Books, Zürich 2024.

Jane Jacobs: Death and Life of Great American Cities. Random House, New York City 1961.

Im Kontext von Innenverdichtung und Siedlungsdruck ist der Raum zwischen Häusern eine der grössten Freiraumreserven der Stadt und nicht allein Mobilitäts- und Abstellfläche. Dieses Bewusstsein ist im Grundsatz auch bei der Stadt St.Gallen vorhanden. Momentan wird der Strassenraum in St.Gallen, angeschubst durch die Stadtklima-Initiative und befördert durch die Studie «Grünes Gallustal», eifrig mit Bäumen versehen und zu Begegnungszonen umgewandelt. Verwaltungsabteilungen, die sonst jeweils zum Verharren in Denksilos tendieren, sind angehalten, zusammen zu arbeiten. So plant das Tiefbauamt mittlerweile nicht mehr nur vorwiegend das Verlegen von Asphalt, sondern ist auch immer mehr damit beschäftigt, Bäume pflanzen zu lassen durch die Dienststelle Stadtgrün. Gegenwärtig sind 28 neue Begegnungszonen geplant. Noch dieses Jahr sollen 15 davon realisiert werden. Gleichzeitig sieht das Stadttempo-Konzept vor, dass auf einer grossen Zahl von Strassen in St.Gallen künftig Tempo 30 gelten soll. Das klingt gut.

Während man in St.Gallen vorwärtsmachen will, dreht in Bundesbern der Wind. Im Februar fordert FDP-Nationalrat Peter Schilliger, dass künftig per Gesetz auf Hauptstrassen innerorts Tempo 50 gelten soll. Anfang März folgen National- und Ständerat seiner Motion. Und auch der Kanton bremst die Stadt St.Gallen aus. Letzten Sommer hat er beschlossen, die zentrale Ost-West-Achse vom Stadttempokonzept auszunehmen und auf die Einführung von Tempo 30 auf der Hauptverkehrsachse zwischen Zürcher- und Rorschacher Strasse zu verzichten.

Die Strassenfrage droht im Hick-Hack der Interessen zur Tempofrage zu verkümmern. Dabei bergen die geplanten Umgestaltungen unbestrittene Potenziale für die Verbesserung sowohl der Grünraumversorgung als auch der Aufenthaltsqualität im Strassenraum. Die Strassen sollen grüner und langsamer werden. Doch wie steht es um die Freiraumqualität? Und wie beginnen Menschen, die Strasse anders zu sehen und zu nutzen?

Begegnung als Zusammentreffen von Verkehrsteilnehmer:innen

Ein genauer Blick auf die Begegnungszonen-Welle der Stadt St.Gallen ernüchtert. Der Teufel steckt dabei im Detail oder aber in der Sprache: Das Ziel der angestrebten Aufwertung ist nicht nur, «den Strassenraum zu gestalten», sondern vor allem auch «den Bedürfnissen aller Verkehrsteilnehmenden anzupassen», wie es beispielsweise im Mitwirkungsbericht zur Umgestaltung der Schwalben-, Flora- und Konkordiastrasse im Linsebühl heisst. Im Vordergrund stehen weiterhin weder Freiräume noch die Menschen, die sich begegnen sollen oder in der Stadt leben, sondern vor allem jene Personen, die am Verkehr teilnehmen.

Die grosse Anzahl der Begegnungszonen und die rasche Umsetzung sind erfreulich. Bei genauerer Betrachtung wächst aber der Verdacht, dass vor allem ein gewisser Wow-Effekt im Vordergrund steht und eigentliche Knacknüsse wie die Anzahl Parkplätze und der Durchgangsverkehr nur halbherzig angegangen werden. Genau diese bestimmen aber den Charakter einer Strasse massgeblich. In mehreren der gegenwärtig geplanten Begegnungszonen wird sich gemäss den Planunterlagen der Stadt die Zahl der Parkplätze nur geringfügig verändern und die durchgängige Befahrbarkeit der Strassen für den motorisierten Verkehr sichergestellt bleiben.

In der neu umgesetzten Begegnungszone an der Rotachstrasse beispielsweise ist von 28 Parkplätzen lediglich einer weggefallen, Einbahnstrassen oder Sackgassen wurden nicht eingeführt. Was sich vor allem verändert, ist das Tempo, die Markierungen und einige Hochbeete, die aufgestellt werden. Im Museumsquartier wird es sich, trotz grosszügigem Angebot an gebührenpflichtigen Parkplätzen auf dem Spelteriniplatz und in der Parkgarage Brühltor, ähnlich verhalten. Zwar werden in anderen geplanten Begegnungszonen deutlich mehr Parkplätze wegfallen, jedoch bleibt die Durchfahrbarkeit für alle Verkehrsteilnehmenden auch dort implizit ein zentrales Planungsziel.

Bedingt durch die vielen Parkplätze besteht der Suchverkehr fort – und damit ein zentrales Hindernis für echte Begegnung. Zudem verdecken die parkierten Autos die Sicht auf schwächere Verkehrsteilnehmer:innen und sind damit gerade für Kleinkinder ein Unfallrisiko. Begegnung meint in diesen Strassen also weiterhin vor allem die Begegnung von verschiedenen Verkehrsteilnehmenden. Diese sollen weiterhin überall durchkommen.

Wie kann unter solchen Bedingungen «echte» Begegnung in einer Strasse gelingen? Man kann schlecht alle erdenklichen Nutzungen gleichzeitig in den Strassenraum packen. Ähnliche Fragen stellen sich bei der Realisierung der Veloschnellroute durch St.Gallen, die in entscheidenden Teilen auch durch Begegnungszonen führt (etwa in der Altstadt oder beim Vadianplatz). Dabei widersprechen sich «schnelles Tempo» und Begegnung grundsätzlich. Dass die geplanten Massnahmen vornehmlich von einer Verkehrsperspektive aus erdacht worden sind, spiegelt sich auch in der Zuständigkeit für die Beurteilung der Eignung von vorgeschlagenen Strassen als Begegnungszonen wider. Diese liegt bei der städtischen Verkehrsplanung sowie der Stadtpolizei – und nicht etwa bei der Stadtplanung.

Letztlich zeugt die Stossrichtung der Massnahmen in St.Gallen vom Versuch, «den Bedürfnissen aller Verkehrsteilnehmenden gerecht zu werden», wodurch letztlich – ob gewollt oder nicht – der Verkehr weiterhin König bleibt. Viel wichtiger wäre jedoch die grundlegende Frage, in welche Richtung wir den Strassenraum entwickeln möchten.

Progressive Beispiele in anderen Städten

Progressive Beispiele zum Umgang mit Strassenraum und Parkplätzen finden sich im In- und Ausland. In Zürich erprobte das Tiefbauamt im Rahmen des Pilotprojekts «Brings uf d Strass» Möglichkeiten, zusätzliche Räume für Quartiernutzungen im nahen Wohnumfeld zu schaffen. Dafür wurden Strassenräume temporär umgestaltet und dem Quartier zur freien Nutzung überlassen. Aus ausgewählten Strassen wurden während mehrerer Wochen neue Aufenthaltsräume.

Mit dem Projekt wollte die Stadt Zürich erfahren, «was in Strassenräumen eigentlich noch möglich ist, ausser nur Autos darin abzustellen». Dabei zeigten die Testnutzungen, dass Quartierstrassen, die eigentlich nur eine Erschliessungsfunktion haben, ein grosses Potenzial für andere Nutzungen bergen. Das Pilotprojekt ging nicht ohne Widerstand über die Bühne. Verschiedene Quartiervereine wehrten sich und beklagten mangelnden Einbezug.

Dezentraler organisiert und stärker durch die Bevölkerung vorangetrieben wird die Umnutzung des Strassenraums in Wien. Seit 2015 ist es in der österreichischen Hauptstadt möglich, als Anwohner:in Parkplätze temporär in sogenannte Parklets umzuwandeln. Ein Parklet ist ein kleiner, auf Parkplätzen eingerichteter Park- oder Sitzbereich. Unterstützt werden die Vorhaben auch finanziell. Ursprünglich stammt die Idee aus San Francisco, wo die Stadt ab 2013 ein «Parklet Manual» und später ein «Shared Spaces Manual» herausgab. Die Stossrichtung ist in beiden Fällen klar: Die Initiative zur Belebung und zum Wandel soll innerhalb eines definierten Regelwerks aus der Bevölkerung kommen. Die Stadtbewohner:innen selbst sollen gestaltend tätig werden.

Eine andere Transformationsstrategie stammt aus Barcelona und wird mittlerweile in mehreren Städten Europas erprobt. Im Konzept des Superblocks werden für mehrere Strassenzüge (in der Regel eine Fläche von drei mal drei Häuserblocks) andere Verkehrsregeln definiert. Die wichtigste: Die Einfahrt ist nur für Anwohner:innen, Servicedienste, Rettungs- und Lieferdienste erlaubt. Der Durchgangsverkehr wird aus den Superblocks herausgehalten. Damit das auch funktioniert, werden Einbahnstrassen, Sackgassen und Diagonalsperren an Kreuzungen eingerichtet. Zudem werden Parkplätze entfernt. Auf den Strassen des Superblocks haben Fussgänger:innen und Velos Vortritt. Autos dürfen maximal 10 km/h fahren. So wird Raum gewonnen, was wiederum Begrünung und Aneignung ermöglicht. Als städtebauliches Konzept zeigt die Idee des Superblocks einfache Wege auf, um den städtischen Raum zu verändern, grüner zu gestalten und mehr Raum für Begegnungen zu schaffen.

Superblocks in St.Gallen?

In einer 2022 erschienenen Studie zeigt der Geograf Sven Eggimann das Superblock-Potenzial in Schweizer Städten auf, darunter auch St.Gallen. Im Fokus sind innerstädtische Gebiete mit einer hohen Bevölkerungsdichte. Eggimann glich unter anderem die Strassengeometrie der ausgewählten Städte mit jener der Superblocks in Barcleona ab. In der Gallusstadt erscheinen verschiedene Gebiete als geeignet. Besonders in den Quartieren St.Otmar, Lachen, Südost, dem Museumsquartier und dem Quartier St. Fiden-Neudorf wären Superblocks grundsätzlich denkbar. Möglichkeiten für abgespeckte Versionen, sogenannte Miniblocks, finden sich zwischen der Oberstrasse und der Teufener-Strasse, der Treuackerstrasse bis Höhe Vonwilstrasse, im Quartier Tschudiwies-Centrum, der nördlichen Altstadt und im Quartier Nordost zwischen der Langgasse und der Kolosseumstrasse.

Bislang hat die Stadt St.Gallen die Ergebnisse von Eggimanns Studie bei der Umsetzung von Begegnungszonen nicht berücksichtigt. Dabei könnten gerade Projekte wie jenes im Museumsquartier oder dem Linsebühl potenziell von einer solchen Betrachtungsweise profitieren. Der Planungsperimeter für die Begegnungszone Schwalben-, Konkordia-, Flora- und Rorschacher Strasse würde sich besonders für die Schaffung eines Superblocks eignen.

Möglicher Superblock in St. Gallen: Schwalben-, Konkordia-, Flora- und Rorschacher Strasse.

Die erwähnten Beispiele erfordern nicht Unmengen an finanziellen Mitteln, sondern liessen sich, von den materiellen Eingriffen her betrachtet, relativ leicht umsetzen. Sie zielen allesamt auf das Regelwerk der Strasse ab: Indem man die Regeln ändert, ändert man den Raum. Letztlich sind viele der Massnahmen alles andere als neu. Auch hierzulande sind interessante Vorschläge längst bekannt. 1926 empfahl beispielsweise der bereits erwähnte Schweizer Architekt und Städteplaner Hans Bernoulli unter dem Pseudonym Josuah Fensterriegel die Sackgasse als ideale, ja «einzig richtige Wohnstrasse». Dabei soll sie nicht nur eine Erschliessungszone sein und der Verkehrsruhe dienen, sondern auch einen gemeinschaftlichen Raum darstellen.

Letztlich lässt sich ein neues Bild der Strasse nicht allein über die Planung herstellen. Und auch Gemeinschaft und Nachbarschaft lassen sich nicht von oben herab verordnen. Gefragt sind auch die Stadbewohner:innen und Nutzer:innen des Strassenraums. Begegnung und Aneignung geschehen im stark regulierten gesellschaftlichen Alltag nicht einfach von selbst. Dies gilt ganz besonders für den Raum der Strasse. Doch wie gelangt man da hin?

Wir selber bauen unsere Stadt

Anknüpfend an das Credo «wir selber bauen unsere Stadt» der gleichnamigen programmatischen Denkschrift von Lucius Burkhardt und Markus Kutter aus dem Jahr 1953 liessen sich im kleinen Massstab andersartige Erfahrungen des Lebens und Erlebens im städtischen Kontext ermöglichen. Man müsste beispielsweise den Stadtbewohner:innen in der Ausgestaltung des Strassenraumes mehr Gewicht geben. Denn damit sich der Mensch Raum nimmt, braucht es Platz. Räumlich und auch in Bezug auf die möglichen Rollen, die der Mensch an einem bestimmten Ort einnehmen kann, und die Art und Weise, wie er mit seiner Umwelt in Beziehung tritt. Im städtischen Alltag begegnen wir Infrastruktur, Gebäuden und Plätzen mehrheitlich in der Rolle der Anspruchnehmenden, die Services nutzen, Atmosphären konsumieren und als Nutzer:innen keine dauerhaften Spuren hinterlassen. Unsere Beziehung zur Umwelt ist damit distanziert und ein Stück weit entfremdet.

Kaum je erlebt sich der Stadtmensch im Verhältnis zur gewohnten Umgebung als gestaltendes Individuum. Im Alltag ist er mit einer weitgehend fertig geplanten, gebauten und gestalteten Umwelt konfrontiert, die nicht verändert werden soll. Selten empfinden Stadtbewohnende Verantwortung im Sinne, dass ihr Mittun erwünscht wäre. Kaum je erleben sie sich als Gestalter:innen, die Einfluss auf den Raum ausserhalb ihrer vier Wände nehmen können. Als gewöhnlicher Bewohner kommt man meist erst auf den Platz, wenn die Dinge bereits stehen und die Regeln gesetzt sind. Verändert man Dinge, so bricht man Regeln, übertritt Grenzen oder stört.

Der Strassenraum böte grundsätzlich Möglichkeiten, andersartige Erfahrungen zu machen. Die Bereitstellung von bepflanzbaren Kisten durch die Stadt St.Gallen in den Begegnungszonen ist hierfür ein vielversprechender Anfang. Die Umgestaltung von Strassen in Begegnungszonen könnte darüber hinaus jedoch als Möglichkeitsfenster für gelebte Teilhabe fungieren, Bürgersinn befördern und damit das Selbstverständnis von Stadtbewohner:innen verändern. Partizipation wäre dazu nicht allein vorgelagert zu denken (im Sinne des Anhörens von Betroffenen), sondern im Sinne des Einbezugs von Menschen in den Prozess der effektiven Umgestaltung. Dies nicht nur debattierend und theoretisierend, sondern auch über das körperliche Tätigwerden und Mittun.

Teile der Arbeiten liessen sich unter Einbezug von Anwohner:innen vornehmen. Die Umgestaltung könnte zum identitätsstiftenden Erlebnis und zur Initialzündung für Folgeentwicklungen im Quartier werden. Die Anwohner:innen könnten, begleitet von Fachpersonen, Sträucher und Bäume pflanzen, in Workshops bewegliches Mobiliar für die Strassennutzung (wie z.B. kleine Hocker) erstellen und neue Möglichkeiten der Nutzung des Strassenraums erkunden. So würden sie von tendenziell passiven Servicenehmer:innen und Zuschauer:innen zu aktiven Mitgestalter:innen, die Verantwortung übernehmen.

Dies liesse auch das Aufwachsen im Stadtraum nicht unberührt. In der Stadt werden kleine Menschen zu Erwachsenen. Hier lernen und erfahren sie ihr Verhältnis zur Welt. All dies braucht einen Raum – nicht den geschützten Rahmen des Spielplatzes, der selbst bei fünf Gehminuten ausserhalb des eigenständig bewältigbaren Radius eines Kleinkindes liegt. Spielplätze schaffen kaum Abhilfe, vielmehr beschränken sie die kindliche Welt auf eine kleine Fläche legitimen Tuns. Hier sind sie nicht alleine, sondern meist mit den Eltern.

Der Raum, den wir für die Sozialisierung von Stadtmenschen brauchen, ist einer, der Autonomie und Selbsterfahrung in einer vertrauten Umgebung ermöglicht – dem Strassenzug, der Nachbarschaft, dem Quartier. Es ist ein Raum, in dem andere Kinder, Erwachsene und auch Jugendliche zu Bezugspersonen werden können. Ein Raum, in dem das Leben auf die Strasse kommt – und nicht nur der Verkehr.

 

2 Kommentare zu Strassen als Lebensräume

  • Jost Auf der Maur sagt:

    Wegen solcher Beiträge lese ich (in Chur) diese Saiten aus St. Gallen so gerne – und immer mit viel Respekt vor der journalistischen Sorgfalt!

  • smirt sagt:

    Sehr ausführlich, sehr überzeugend und schön. Kann man diesen Menschen wählen? 😉
    Ja ab und zu gegen Regeln verstossen könnte helfen, leider wird man dabei im besten Fall nur blöd angeschaut. Die subversive Kraft wird nicht erkannt. Menschen denken leider nicht mehr oft frei und in Möglichkeiten. Der Horizont ist immer öfter auf ein paar Zoll beschränkt, was Begegnungen, nebst Geschwindigkeit (egal ob highspeed internet oder schnelle Gefährte) und Abkappselung, weiter erschwert.
    Natürlich auch eine Ei-Huhn Frage, aber zumindest möchte ich als weitere Möglichkeit auch auf das Konzept der Resonanz, wie es Hartmut Rosa beschreibt verweisen. Bspw hier sehr schön zum mithören: https://soziopod.de/2020/04/soziopod-055-hartmut-rosa-resonanz/

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