, 11. September 2019
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Statt die Armut hat man die Armen bekämpft

«Der Staat hat fundamentale Grundrechte missachtet.» Das sagt Regierungsrat Martin Klöti mit Blick auf die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, denen im 20. Jahrhundert Tausende in der Schweiz zum Opfer fielen. Am 21. September lädt der Kanton zum Gedenkanlass.

Legitimierte Willkür: Einer der insgesamt 29 kantonalen Erlasse zur administrativen Versorgung.

Erst 1981 wurde das entsprechende Gesetz aufgehoben, ab 2014 wurde die Geschichte der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen systematisch aufgearbeitet. Fünf Jahre später liegen die Ergebnisse der Unabhängigen Expertenkommission vor, die Berichte dazu hier und hier. Auch das Theater St.Gallen hat das Thema aufgegriffen, Wiederaufnahme von Verminte Seelen ist im November.

Die Geschichte der «administrativen Versorgung» sei, so Klöti am Mittwoch vor den Medien, eine «tiefe Wunde» und ein düsteres Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte. Er nennt als Beispiel Antonio Ligabue, den Maler, den das St.Galler Museum im Lagerhaus gerade als «Schweizer Van Gogh» gefeiert hat: Er wurde als Kind adoptiert, umherbugsiert und schliesslich nach Italien, die Heimat seiner Eltern abgeschoben. Biografien wie diese seien typisch für eine Gesellschaft, die jene abstrafte, die die rigiden Familiennormen oder Moralvorstellungen nicht erfüllten.

Männer, die als «arbeitsscheu» oder Frauen, die als «liederlich» eingestuft wurden, Mütter, die ein Kind unehelich zur Welt brachten, Fahrende oder Kinder und Erwachsene, die sonst aus Sicht der Gesellschaft «vom Karren gefallen» waren, konnten, ohne dass sie straffällig wurden, ihrer Freiheit beraubt werden. Das System des fürsorgerischen Freiheitsentzugs lasse sich bis auf die im 19. Jahrhundert gebräuchliche Unterscheidung von «würdigen» und «unwürdigen» Armen zurückführen, ergänzte Regula Zürcher vom Staatsarchiv. Ersteren gestand man zu, an ihrer Situation nicht selber schuld zu sein, die andern wurden sanktioniert.

St.Gallen hatte einen Spitzenplatz

St.Gallen gilt dabei als eigentlicher Heim- und Anstaltskanton mit überdurchschnittlich vielen Betroffenen. Insbesondere in den ländlichen Gebieten gab es eine Vielzahl von meist privaten Heimen; teils wurden sie von ausserkantonalen Institutionen geführt, teils wurden Personen bewusst aus ihren regionalen Zusammenhängen gerissen. Die Heime trugen sprechende Namen: Arbeitserziehungsanstalt, Besserungsanstalt, Heim «Zum Guten Hirten»…

Heime und Anstalten im Kanton St.Gallen. (Bild: Staatsarchiv)

Viele dieser Anstalten existieren nicht mehr, ebenso wenig ihre Akten; entsprechend fehlen genaue oder auch nur ungefähre Zahlen über das Ausmass. 2014 bis 2018 hat das Staatsarchiv über 350 Personen beraten und bei der Aktensuche unterstützt – vermutlich nur die «Spitze des Eisbergs», sagt Zürcher. Die meisten Anfragen kamen von Personen, die als Kind fürsorgerisch fremdplatziert worden waren und sich als Erwachsene ihre eigene Lebensgeschichte rückerobern wollten.

Die Opferhilfe St.Gallen hat ihrerseits über 480 Betroffene zu Gesprächen getroffen und beraten. Nach heutigem Stand wurden 450 Personen dabei unterstützt, ein Gesuch für den Beitrag zur Wiedergutmachung zu stellen, den der Bund 2014 festgelegt hatte. Die 25000 Franken seien nicht viel, aber als symbolischer Beitrag wichtig, hiess es an der Medienkonferenz. Die Unabhängige Expertenkommission UEK hat in ihrem Schlussbericht allerdings angeregt, eine Rente für die Betroffenen zu prüfen und den (bereits abgelaufenen) Schlusstermin für die Einreichung von Gesuchen zu verlängern.

Dokumente der Stigmatisierung

Eine Verlängerung wäre wichtig – denn sich als Betroffene zu melden, brauche Mut und manchmal auch Zeit, sagt Brigitte Huber, Geschäftsführerin der Stiftung Opferhilfe. Die Menschen litten unter teils lebenslangen Traumatisierungen; es sei eine grosse Herausforderung, sich mit der eigenen leidvollen Geschichte zu konfrontieren, die Scham zu überwinden oder das von früh auf eingeimpfte Gefühl, selber schuld zu sein.

Die Akten seien Dokumente einer Stigmatisierung, die oft ganze Familien betraf und Kindern von Beginn weg kaum eine Chance liess – die Mutter wird als «liederlich» abqualifiziert, ihre Tochter auch schon früh als «sittlich verwahrlost» abgestempelt. Oder: Ein Kind gibt gemäss den Anstaltsakten «keinen Anlass zu Klagen» – aber das eigene Gedächtnis und Körpergefühl weiss von Misshandlungen und Angst. Oft herrsche eine grosse Diskrepanz zwischen den Erinnerungen und dem, was in den Akten vermerkt sei.

Hinter all den Einzelschicksalen stehe ein Staat, den das Kindswohl nicht interessierte und der es – anders als heute – für richtig ansah, Kinder aus einem angeblich «verderblichen Milieu» wegzunehmen und fremdzuplatzieren. Und dahinter wiederum stand eine Gesellschaft, die es akzeptierte, sozial Schwächere auszuschliessen und wegzusperren: für Brigitte Huber eine «Armutsbekämpfung, die nicht die Armut, sondern die Armen selber bekämpfte.»

Den Betroffenen die Stimme zurückgeben

Das seelische und körperliche Leid habe die Betroffenen zum Teil ein Leben lang geprägt und auch Leben zerstört, sagte Martin Klöti. Jetzt entschuldigt sich der Staat zumindest für das begangene Unrecht. Und dies auf mehreren Ebenen.

Zum einen finanziell: An den heutigen Fonds des Bundes richtet der Kanton während dreier Jahre (bis 2020) je 300 000 Franken aus, also insgesamt 900 000 Franken – aus dem ordentlichen Staatshaushalt, wie Klöti betonte. Bereits im Sommer 2014 waren gut 300’000 Franken aus dem Lotteriefonds gesprochen worden, die es erlaubten, Opfern von Zwangsmassnahmen, die sich in prekären finanziellen Situationen befinden, rasch finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen.

Zum zweiten sollen die Betroffenen ihre Stimme zurückbekommen. Über die Gespräche mit der Opferhilfe und über die Akteneinsicht hinaus können sie in den Akten im Staatsarchiv ihre eigene Sicht der Dinge darstellen und damit die offiziellen Dokumente ergänzen. Einzelne Betroffene hätten von dieser Möglichkeit ausführlich Gebrauch gemacht, sagt Regula Zürcher.

Gedenkanlass: Samstag 21. September 14 Uhr Lokremise St.Gallen

Und schliesslich findet am 21. September ein Gedenkanlass in der Lokremise statt, getragen von Stadt und Kanton und vom Gemeindeverband VSGP. Aus der Sicht der Betroffenen spricht Werner Fürer, ausserdem kommen Historiker Jakob Tanner und Lukas Gschwend, Professor für Rechtsgeschichte und Mitglied der UEK, zu Wort. Regierungsrat Klöti wird für den Kanton St.Gallen sprechen. Im Anschluss an die Reden wird auf der Kreuzbleiche ein Erinnerungszeichen eingeweiht.

Die Geschichte sei mit diesen Aktivitäten aber noch nicht abgeschlossen, sagt Klöti. Die historische Forschung müsse weitergehen – für Regula Zürcher gibt es über den UEK-Bericht hinaus noch viele blinde Flecken in der Geschichte. Und schliesslich, betonte Brigitte Huber, seien Armut und Stigmatisierung auch in der heutigen Zeit Themen, vor denen man die Augen nicht verschliessen dürfe.

Mehr zum Thema:
Sybille Knecht: Zwangsversorgungen. Administrative Anstaltsanweisungen im Kanton St.Gallen 1872-1971, St.Gallen 2015
Lisbeth Herger: Lebenslänglich. Briefwechsel zweier Heimkinder, Verlag Hier&Jetzt 2018
Max Baumann: Versorgt im Thurhof. Alltagsleben und Führungsstil in einer Rettungsanstalt für verwahrloste Knaben 1920-1940, St.Galler Kultur und Geschichte Bd. 41.

 

 

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