, 14. Januar 2021
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Ständig auf Pikett

Stefan Reutimann ist selbständiger Tontechniker und bis jetzt glimpflich durch die Pandemie gekommen. Seinen VW-Bus hat er trotzdem verkauft, «um flüssig zu bleiben».

Bild: Hannes Thalmann

Die Discokugeln im Salzhaus Winterthur drehen sich nicht mehr. Vor der Bühne, wo sonst getanzt, geschwitzt und geknutscht wird, sind jetzt Polstersessel im Kreis aufgestellt. Daneben hat jemand zwei grosse Fensterläden aufgebahrt für einen neuen Anstrich. Im hinteren Teil, wo sich die Bar befindet, steht ein Handwagen mit Bier- und Matekisten einsam im Dunkeln. «Alle versuchen das Beste draus zu machen», sagt Stefan Reutimann, als wir durch den Hintereingang in den leeren Club kommen. «Im Salzhaus nutzt man die Zeit, um etwas aufzumöbeln und ein paar Sachen zu reparieren.»

Stefan Reutimann, 31, ist in Romanshorn aufgewachsen und lebt in Zürich. Er hat in Arbon eine Lehre als Konstrukteur gemacht, sich dann zum Tontechniker weitergebildet und arbeitet heute überwiegend als Selbständiger in der Musikbranche; an Festivals, für Clubs, etwa im Palace St.Gallen oder beim Royal Baden, oder für einzelne Bands, darunter Tobias Jensen und One Sentence.Supervisor. Seit August 2020 hat er zudem ein 30-Prozent-Pensum im Salzhaus – «zum Glück», wie er sagt. «Viel ist es zwar nicht, aber die Kurzarbeitsentschädigung aus dieser Anstellung hat mir im Herbst sehr geholfen, sonst wäre mein Kontostand ins Minus gerutscht.»

2020: Sound Of Silence

Es ist Donnerstag, halb sieben. Normalerweise läuft der Salzhaus-Betrieb am «kleinen Freitag» auf Hochtouren. Normalerweise hätte hier heute vermutlich ein Konzert stattgefunden. Reutimann hätte bereits vor Wochen das Equipment für diesen Abend abgeklärt und organisiert, wäre schon seit dem späten Nachmittag im Club, hätte alles aufgebaut und mit der Band den Soundcheck gemacht, hätte nochmal alle Batterien und Geräte kontrolliert, dann vielleicht was Kleines gegessen und würde sich bald einmal bereitmachen für das Konzert. Danach würde er kurz im Backstage vorbeischauen, auf der Bühne alles abbauen, das Material im Auto verstauen und gegen zwei Uhr morgens erledigt ins Bett fallen.

Stefan Reutimann im leeren Salzhaus.

Hätte. Würde. Am Tag, als die Schweiz dichtgemacht wurde, war Reutimann gerade auf dem Weg zu einem Konzert in der Luzerner «Schüür». Im Autoradio hörte er die Meldung vom Lockdown und konnte gleich wieder umdrehen. Seither ist alles anders. Anfangs hoffte er noch auf die Festivals im Sommer und auf einige Herbst-Tourneen, aber auch die serbelten Stück für Stück weg. Im März, April und Mai hat er keinen Franken verdient, dann kamen wieder einige wenige Aufträge, und seit November läuft bei Reutimann wieder fast nur der Sound Of Silence.

Als der Lockdown kam, hat er ein Studium angefangen – «weil einfach nichts lief», wie er lachend erzählt. Maschinenbau. Das sei zwar sehr interessant, trotzdem frage er sich manchmal, warum er das mache. Und ob er es weiter durchziehen kann, wenn im Sommer und im Herbst 2021 hoffentlich wieder Festivals und Tourneen stattfinden, auch wenn er nur Teilzeit studiert.

Gute Kontakte sind das A und O

Das Fernstudium zum Tontechniker hat Reutimann 2012 abgeschlossen. Währenddessen hat er sein Geld als Praktikant bei einer TV-Firma in Gossau verdient – «viel Fussballübertragungen und Kabel löten». Danach hiess es entweder bei einer grossen Firma anheuern oder es selbständig versuchen. Da er selber Musik macht, war für ihn klar, dass es als Selbstständiger in die Musikbranche gehen soll. «Dafür gibt es keinen klassischen Werdegang», erklärt er. «Man muss seine Nische finden und vor allem gute Kontakte haben. Das meiste läuft über Vitamin B. Du kannst einen noch so krassen Abschluss haben, das hilft dir nichts, wenn du nicht die entsprechenden Leute kennst.»

Einer seiner Türöffner war Edis Kahrimanovic. Dank ihm kam er an Aufträge für Festivals, zum Beispiel ans «One of a Million» in Baden, wo er mit grösseren und kleineren Bands in Kontakt kam, die ihn dann wiederum für eigene Touren und Auftritte buchten. In Baden traf er auch Fabian Mösch, seit zwei Jahren Co-Programmverantwortlicher vom Palace, wo Reutimann seit 2015 mehr oder weniger regelmässig als Tontechniker arbeitet.

«Nach etwa drei Jahren ist es mit der Selbständigkeit einigermassen rundgelaufen», sagt er. «Davon leben konnte ich zwar auch vorher schon, aber ich musste alle Aufträge nehmen, die reingekommen sind.» Ab 2015 war es anders, Reutimann konnte das Musikjahr so verbringen, wie er es am liebsten tut: Im Sommer Festivals, im Frühling und im Herbst Auftritte mit Bands und im Winter ein bisschen Ferien oder kleine Jobs fürs Fernsehen. Das TV-Standbein hat er nämlich nie ganz abgesägt – ein weiser Entscheid, wie sich in der Pandemie herausstellte.

Chronisch unterbezahlt

In guten Jahren kam er so auf etwa 65ʼ000 Franken brutto im Jahr. «Dafür musste ich aber weit mehr als 100 Prozent arbeiten», erklärt er. «Da die ganze Branche chronisch unterbezahlt ist, musst du recht viele Jobs machen, um auf einen anständigen Monatslohn zu kommen.» Als Techniker gebe es oft nur 250 bis 350 Franken brutto pro Abend, manchmal vielleicht 500 Franken. Abgerechnet werde pauschal, für Versicherungen, Auto, Ferien und andere Aufwände müsse man selber aufkommen. Zudem sei man teilweise über zwölf Stunden unterwegs oder müsse vor Ort übernachten – «da kommt man schnell auf 60 Stunden pro Woche».

Reutimann stört sich an Leuten, die meinen: «Ist doch geil, mit diesen vielen Bands herumzureisen und bekannte Musiker zu treffen! Du machst es doch gerne und nicht wegen dem Geld.» – «Natürlich mache ich es auch wegen dem Geld, ich muss ja davon leben können!», sagt er und verwirft die Hände. «Diese Einstellung ist genau das Problem. Wenn ich es auf die Stunde herunterrechne, ist es einfach zu wenig für einen Selbständigen. Da hilft es auch nicht, wenn ich ‹eine gute Zeit› bei der Arbeit habe. Das ist doch kein Argument.»

Viel (schöne) Arbeit für wenig Geld also. Ausserdem leidet das Sozialleben. «Du hast zwar Freunde im Job, was sehr schön ist, aber ausserhalb der Szene ist es schwierig», sagt Reutimann. «Wenn ein Kumpel fragt, was ich am Freitag mache, muss ich meistens passen. Wenn ich ihn frage, was er am Montag oder Dienstag macht, weil ich dann frei habe, muss er dafür arbeiten.»

Thurgau speditiver als andere Kantone

«Die ersten Coronazahlungen vom Staat kamen Anfang Mai», sagt er. «Man wurde eingestuft aufgrund des durchschnittlichen Nettolohns der letzten 360 Tage. Ich bekam knapp 2000 Franken netto. Hinzu kamen kleine TV-Jobs und ab Mitte September die Kurzarbeit beim Salzhaus. Damit kam ich gerade so über die Runden.»

Er sei glimpflich davongekommen. Andere hätten massiv grössere Probleme gehabt und weniger Ausfallentschädigungen erhalten, sagt Reutimann. Er hatte sein Tonstudio bis Ende März 2020 noch im Thurgau und war somit als Selbständiger dort gemeldet. «Das war mein Glück, denn das Geld vom Thurgau kam wesentlich schneller und unkomplizierter als in anderen Kantonen. Ich habe von Leuten in Zürich gehört, die seit 25 Jahren Musik machen und mit einem Tagessatz von acht Franken auskommen mussten, weil sie im letzten Jahr verhältnismässig wenig verdient hatten.»

Sein Budget 2021 ist gemacht, «irgendwie wird es aufgehen», sagt Reutimann. Zum Glück habe er weder Haus noch Kinder noch pflegebedürftige Familienmitglieder. Trotzdem hat er kürzlich seinen VW-Bus verkauft, mit dem er jeweils im Sommer an die Festivals gefahren ist. «Um flüssig zu blieben». Er blickt mit gemischten Gefühlen in die Zukunft. «Bis jetzt gab es Ausfallentschädigungen. Diese fallen jetzt meistens weg, da kaum mehr etwas angesagt wird – zumindest für uns Selbständige.»

Das grösste Problem ist die Planungsunsicherheit, seit Monaten jagen sich Absagen und Zusagen. Reutimann ist ständig auf Pikett. «Wenn eine Anfrage von einer Band kommt, ist sie immer unter Vorbehalt, je nachdem, was der entsprechende Kanton gerade entscheidet. Ich weiss teilweise erst am Abend davor, ob ich am anderen Tag arbeiten kann. Das macht es auch schwer, meinen Kalender für allfällige TV-Jobs frei zu halten. Eigentlich bin ich flexibel und dachte, ich kann gut damit leben. Aber es nagt schon an mir.»

Die armen Teenager

Reutimann bedauert nicht nur aus beruflichen Gründen, dass das Nachtleben stillsteht. «Es ist auch ein Klebstoff der Gesellschaft. Man erzählt sich ja abends im Club nicht, wie cool es bei der Arbeit war, sondern bei der Arbeit, wie cool es im Ausgang war.» Das sei das Schöne an seinem Job: Er arbeite dort, wo die Leute sich treffen und zusammen eine gute Zeit haben. Wenn nicht grad Pandemie ist.

Von Streamingalternativen hält Reutimann wenig, da sie das Liveerlebnis nicht ersetzen können und eher als Notlösung funktionieren. Er hofft, dass das Nachtleben irgendwann wieder lebendig wird. Auch für die Jugendlichen von heute, die wegen Corona nicht dieselben Austob-Möglichkeiten haben wie er und seine Freunde früher. «Gerade in diesem Alter gehört es doch dazu, dass man auch Fehler und Scheiss machen darf», sagt er. «Das wird ihnen jetzt weggenommen. Dieser Teil der Erziehung fehlt im Moment.»

Wir sitzen in den Polsterstühlen und stellen fest: Es geht nicht nur den Jugendlichen so. Auch wir vermissen das Feiern und das Zusammensein. Und wenn wir unseren Umfeldern glauben dürfen, geht es vielen ähnlich, unabhängig vom Alter. Fast sind wir versucht, die Anlage im leeren Salzhaus aufzudrehen und einen Bierkasten vom Rollwagen neben der Bar in die Mitte zu stellen. Bisschen tanzen und in den Leopardenlichtern der Discokugel versinken. Aber eben … Zumindest ist damit unsere Frage, ob das Abend- und Nachtleben jemals wieder richtig stattfinden wird, beantwortet: Klar! Denn wir wollens ja alle.

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