Stadtratswahlen: Überraschungen sind möglich

Die Ausgangslage für die St.Galler Stadtratswahlen im September ist ungewöhnlich. Obwohl die fünf Bisherigen wieder antreten, finden Kampfwahlen statt. Die Mitte, die 2017 aus der Stadtregierung geflogen ist, will es wissen: Sie schickt Stadtparlamentarier Patrik Angehrn ins Rennen. Weiter treten für die Juso Robin Eichmann und als Einzelkämpfer der Inklusionsfachmann Cem Kirmizitoprak an.
Auf den ersten Blick scheint die Sache klar, die Wiederwahl der Bisherigen ist ungefährdet. Eine vertiefte Betrachtung zeigt aber, dass Überraschungen nicht -unmöglich sind. Die Chance, dass sich die Ereignisse der Stadtratswahlen 2016 wiederholen, scheint zwar ziemlich klein, ist aber gegeben: Damals wurde die amtierende Baudirektorin Patrizia Adam im zweiten Wahlgang abgewählt, die CVP (heute Die Mitte) verlor ihren ersten von damals noch zwei Stadtratssitzen.
Wie vergleichbar ist 2024 mit 2016?
Dass ein Stadtratsmitglied abgewählt wird, hat in der St.Galler Stadtgeschichte seit 1918 Seltenheitswert. Dass es vor acht Jahren dazu kam, hatte nachvollziehbare Gründe. CVP-Frau Patrizia Adam war in der Öffentlichkeit schon im Wahlkampf 2012 und noch stärker nach Amtsantritt 2013 als nicht optimale Amtsinhaberin wahrgenommen worden. Zum Verhängnis wurde ihr dann, dass sie 2016 von Teilen der eigenen Partei sowie vom Rest der Bürgerlichen im Stich gelassen wurde. Ob es 2024 bei jetzigen Bisherigen ähnlich laufen könnte, ist schwer vorhersehbar. Die Mitte und ihr Kampfkandidat hoffen aber offensichtlich darauf.
Diese Hoffnung scheint nicht ganz unbegründet. So steht der St.Galler Stadtrat seit einiger Zeit stärker in der öffentlichen Kritik als auch schon. Unter anderem wegen Problemen bei Grossprojekten. Der Regierung fehlt zudem ganz offensichtlich ein Mitglied mit Instinkt für das politisch Machbare und Nötige. Sichtbar wird das immer dann, wenn das Gesamtgremium oder einzelne Mitglieder wieder einmal in einen Fettnapf trampeln. Der Auftritt und die Kommunikation der Stadtregierung werden ebenfalls breiter als früher kritisiert. Viele vermissen «eine starke Hand» an der Spitze.
Vor allem der letzte Punkt überrascht etwas. Dass sie anpacken kann, hat die seit 2021 amtierende Stadtpräsidentin Maria Pappa (SP) bei den Osterkrawallen 2021 und bei den Aufräumarbeiten bei der Spitex 2022 bewiesen. Der öffentlichen Wahrnehmung der Stadtregierung täte es gut, wenn man diesen Elan an der Spitze wieder mehr spüren würde. Auch wenn die Führung eines Kollegialgremiums, wie es der Stadtrat ist, viel Fingerspitzengefühl verlangt, wäre dies sicher im Sinn des Ganzen und müsste damit auch im Interesse der anderen vier Ratsmitglieder sein.
Stadtrat geniesst viel Vertrauen in der Bevölkerung
Neu oder auch tragisch ist die öffentliche Dauerkritik am Stadtrat nicht. Die Frage ist, ob und wie stark sich die so generierte Missstimmung aufs Wahlresultat auswirkt. Dies insbesondere, weil sich zu berechtigten Kritikpunkten auch parteipolitische Wortmeldungen und Frustkritik aus der Bevölkerung gesellen. So fällt etwa auf, dass seit dem Linksrutsch im Parlament von 2016 der Standort St.Gallen von Wirtschaftskreisen routinemässig schlechter geredet wird, als er ist. Ähnlich ist es beim Verkehr: Bürgerliche, die in Abstimmungen zu verkehrspolitischen Grundsätzen seit den 2000er-Jahren mehrfach unterlegen sind, werden nicht müde, gegen Einzelfragen wie Tempo 30, Aufhebung oberirdischer Parkplätze, Strassenumbauten und ähnliches zu wettern.
Diese Kritik scheint bei der Mehrheit der Bevölkerung nicht zu verfangen. Das Vertrauen der Stimmberechtigten in ihre Stadtregierung bei Sachgeschäften ist ungebrochen. Das zeigen die letzten kommunalen Abstimmungsresultate: Die Umzonungsinitiative für den Schulsportplatz im Boppartshof wurde im Frühsommer mit knapp 60 Prozent klar abgelehnt. Dies, obwohl die Befürworter:innen beim sensiblen Thema emotional und intensiv fürs Ja gekämpft hatten. Der Ausbau des Fernwärmenetzes für immerhin gut 150 Millionen Franken kam Ende 2023 gar auf 86,6 Prozent Ja-Stimmen. Misstrauen gegenüber der Regierung sieht anders aus.
Für eine Abwahl muss vieles zusammenspielen
Damit ein Stadtratsmitglied abgewählt wird, müssen viele Faktoren zusammenspielen. Neben der allgemeinen Stimmung braucht es dafür immer auch eine Magistratsperson, die offensichtlich eine Fehlbesetzung ist und viele Bürger:innen auf die Palme treibt. Bei Maria Pappa und Peter Jans (beide SP) ist das nicht der Fall: Sie ficht zwar als Stadtpräsidentin einen Dauerkampf mit dem Loch in der Stadtkasse aus, und er kommt als Chef der Technischen Betriebe mit der VBSG-Elektrifizierung gerade nicht vom Fleck, aber beides ist nicht aussergewöhnlich für die Bereiche, denen die beiden vorstehen.
Ungefährdet scheint auch Bildungsdirektor Mathias Gabathuler (FDP). Er muss sich seiner ersten Wiederwahl stellen, was ihn und seine Partei, kombiniert mit dem bürgerlichen Kampfkandidaten Angehrn, wohl etwas nervös macht. Entsprechend gut gefüllt ist die Wahlkampfkasse. Gabathuler hat den Ruf, etwas abgehoben zu sein. Aktuelle Schulprobleme, von denen es nicht wenige gibt, gehen er und sein Schulamt aber proaktiv und dezidiert an. Auch ist die Direktion Schule und Freizeit unter ihm zur Ruhe gekommen: Die jahrelangen öffentlichen Grabenkämpfe zwischen Schulamt und Lehrer:innen-Verband gehören der Vergangenheit an. Dies aufgrund personeller Wechsel auf beiden Seiten.
Spitex-Affäre wirkt immer noch nach
Heftiger öffentlicher Kritik ausgesetzt war in der Amtszeit 2021 bis 2024 Sozial- und Sicherheitsdirektorin Sonja Lüthi (GLP). Die Art und Weise der Spitex-Fusion und des Managements daraus resultierender Probleme überzeugte nicht. Nach einer äusserst turbulenten Gründungs- und Konsolidierungsphase scheinen die Probleme hier mit einem neuen Verwaltungsrat jetzt im Griff zu sein. Sonja Lüthi ist keine typische Exekutivpolitikerin. Manchmal wirkt sie sogar seltsam desinteressiert an ihrem Amt. Könnte es sein, dass die Vereinbarung eines solchen Kaderjobs mit mütterlichen Pflichten vielleicht doch herausfordernder ist als ursprünglich gedacht? Zumindest die Frage muss erlaubt sein.
Die Spitex-Affäre dürfte Sonja Lüthi am 22. September mit Sicherheit die eine oder andere Stimme kosten. Ihre Wiederwahl im ersten Wahlgang scheint aber grundsätzlich nicht gefährdet. Vielen linksgrünen Wähler:innen steht die Grünliberale nicht nur weltanschaulich, sondern auch als erfolgreiche Frau und Mutter näher als Mitte-Kampfkandidat Patrik Angehrn. Dessen Wahlkampf richtet sich thematisch auch nicht in erster Linie gegen Lüthi. Angehrn und seine Partei nehmen in letzter Zeit nämlich auffällig intensiv Themen aus dem Bauwesen aufs Korn.
Der Baudirektor steht oft im Schaufenster
Dass die Person, welche die städtische Baudirektion führt, oft das am heftigsten umstrittene Stadtratsmitglied ist, hat in St.Gallen von Erich Ziltener (CVP) über Elisabeth Beéry (SP) bis hin zu Patrizia Adam (CVP) Tradition. Und es ist auch kein Zufall. Kaum ein Verwaltungszweig fällt so viele für weite Teile der Öffentlichkeit augenfällige und oft kontroverse Entscheide wie die Direktion Planung und Bau. Paradebeispiel dafür sind Neugestaltungen von Strassen, bei denen man es sowieso nie allen recht machen kann. In kaum einer anderen Direktion sind Veränderungen der vergangenen Jahre so stark zu spüren wie im Bau. Das hängt nicht nur mit der neuen Mitte-Links-Mehrheit, sondern auch mit Kurswechseln in der nationalen Politik zusammen, etwa in der Raumplanung.
Bei Baudirektor Markus Buschor kommt hinzu, dass er mit seiner Art der Kommunikation und Amtsführung immer wieder Kritiker:innen verprellt. Zudem hat sich die städtische Bauverwaltung in den vergangenen vier Jahren tatsächlich mehr als einen Bock geleistet, wobei etliche davon Wurzeln in der Amtszeit der Vorgängerinnen haben, also nicht einfach dem derzeitigen parteilosen Amtsinhaber angelastet werden können. Von Fehlleistungen Betroffene nervt, dass die Ursachen dafür von Amtsstellen oft beschönigt werden und aus Fehlern nur sehr, sehr langsam gelernt wird.
Schon ein zweiter Wahlgang wäre eine Riesenüberraschung
Ist Markus Buschor damit der Bisherige, der am
22. September in einen zweiten Wahlgang gezwungen und am 24. November abgewählt wird? Unmöglich ist das natürlich nicht, doch es scheint im Moment unwahrscheinlich. Ein Bisheriger, gegen den gleich mehrere Aspekte sprechen, kann immer einmal abgewählt werden. Wahrscheinlich ist für Ende September aber doch die Wiederwahl von Markus Buschor schon im ersten Wahlgang – allenfalls mit etwas weniger Stimmen als auch schon.
Für die Kampfkandidaturen Patrik Angehrn (Mitte), Robin Eichmann (Juso) und Cem Kirmizitoprak (parteilos) wäre das Erzwingen eines zweiten Wahlgangs bereits ein Riesenerfolg. Die beiden Letzteren gehen sowieso nur mit Aussenseiterchancen ins Rennen. Sie werden den Wahlkampf aber wirkungsvoll nutzen, um ihre politischen Ideen unters Volk zu bringen. Robin Eichmann könnte sich damit auch noch zusätzlichen Schub für die Wahl auf der Juso-Liste ins Stadtparlament holen. Eichmann bezeichnet sich als non-binär und kämpft unter anderem für einen kostenlosen öV, fair organisierte Carearbeit und eine City-Card für Sans-Papiers. Cem Kirmizitoprak alias «Cems Bond», ehemaliger SPler und «Inklusionsagent» im Rollstuhl, setzt sich ein für Familien, eine autofreie Stadt und die Kulturstadt St.Gallen.
Die Überraschung eines zweiten Wahlgangs wäre möglich, wenn die beiden jungen Kandidierenden ungewöhnlich viele Stimmen holen und Patrik Angehrn mit Support aller Bürgerlichen und enttäuschter Linksgrüner ein ausgezeichnetes Resultat erzielen könnte. Schneiden gleichzeitig auch noch Bisherige schwächer ab als üblich, reicht es vielleicht dem einen oder anderen nicht fürs absolute Mehr und die Wiederwahl im ersten Wahlgang. Aber eben: Das wäre eine grosse Überraschung …