St.Gallen und die Nazizeit: Wissen wir genug?
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Louis Agassiz: Seit gut vier Jahren ist er und die von ihm handelnde Ausstellung des St.Galler Historikers Hans Fässler ein Reizwort für einige kulturell einflussreiche sowie mitte rechts politisierende St.Galler Persönlichkeiten. Inzwischen ist die Ausstellung über den Gletscherforscher und Rassis ten in Grindelwald, im GrimselHospiz, auf dem Eggishorn und vor kurzem auch im Zeughaus Teufen ohne Berüh rungsängste gezeigt worden. In St.Gallen aber will sich keine kulturelle Institution dieser Ausstellung annehmen. Vor nehm heisst es, man wolle sich nicht in die Angelegenheiten anderer Gemeinden, zum Beispiel von Grindelwald, ein mischen.
Von Schädelvermessern und aktiven Nazis
Was hat Agassiz mit St.Gallen zu tun? Abgesehen davon, dass er hierzustadt als Vortragender aufgetreten ist, sind seine rassistischen Vorstellungen in St.Gallen auf sehr frucht baren Boden gefallen. Mindestens drei Namen sind damit unrühmlich verbunden:
Zum ersten Ernst Rüdin, 1874 in St.Gallen geboren und 1952, vorher vom Bundesrat ausgebürgert, in München verstorben, Arzt, Psychiater, Rassenhygieniker und Eugeniker, aktiver Nazi, von Hitler hoch geehrt, Inspirator des Roma Vernichters Robert Ritter, verschwägert mit dem einflussrei chen deutschen Rassenhygieniker Alfred Ploetz.
Zum zweiten Emil Abderhalden, 1877 in Oberuzwil geboren und 1950 in Zürich gestorben, Physiologe, vor wiegend in Halle tätig, Mitglieder der hoch angesehenen «Leopoldina», verstrickt in rassenbiologische Forschungen, Erfüllungsgehilfe nationalsozialistischer Hochschulpolitik, von den Amerikanern aus der SowjetZone «gerettet», 1961 vom gut meinenden sozialdemokratischen St.Galler Hobby historiker und Lehrer Jakob Gabathuler mit einem Buch unkritisch als Wohltäter ziemlich reingewaschen.
Und zum dritten der sogenannte «Schädelvermes ser» Otto Schlaginhaufen, 1897 in St.Gallen geboren und 1973 in Kilchberg ZH verstorben, Anthropologe, Ethnologe und Rassenhygieniker, 1921 Mitbegründer und bis 1968 Präsident der «JuliusKlausStiftung für Vererbungsforschung, Sozialanthropologie und Rassenhygienik», Leiter eines eugenischen Grossprojekts mit dem Ziel, eine Rassentypologie der Schweiz zu erstellen.
Viele unerforschte Schicksale
Dies wären zumindest drei Ansatzpunkte, um Hans Fässlers Ausstellung st.gallisch zu erweitern. Und das müsste noch nicht alles sein, eine solche Ausstellung könnte zu einer um fassenden Besichtigung der Ostschweiz während der Nazi zeit, und dies mit allen Schatten und Lichtseiten (sie gibt es sicher auch), werden. Hier einige Anstösse:
Der Spanische Bürgerkrieg: Wie ging die hiesige Justiz mit Spanien-Freiwilligen um, und gab es keine Hilfe für den in St.Gallen geborenen deutschen Spanienkämpfer Louis Übrig, der in Konstanz in die Fänge der Gestapo geriet und 1939 bei einem Fluchtversuch aus dem KZ Dachau erschossen wurde?
Kommunistinnen: Warum nicht die Lebensgeschich ten des 1883 in Tablat geborenen flamboyanten Revolutio närs und Utopisten Fritz Platten und der mit St.Gallen verbun denen Publizistin Agnes Reitermeister aufarbeiten? An der Zeit wäre es auch, der wechselvollen Biografie der 1905 in St.Gallen geborenen und 2002 in Frankreich verstorbenen antifaschistischen Tänzerin Julia MarcusTardy nachzu spüren und eine Strasse nach ihr zu benennen.
Flüchtlinge und Schicksale: Wissen wir genug, auch in der GrüningerFrage? Wieso musste beispielsweise der Zukunftsforscher Robert Jungk als Internierter in der Straf anstalt St.Jakob Tüten kleben? Und wie konnte es pas sieren, dass der in St.Gallen geborene Jude Isidor Selczer, gerade erst 21, in Paris verhaftet und in Auschwitz um gebracht wurde? Was für andere EmigrationsSpuren führen nach St.Gallen?
Die St.Galler Presse: Wie informierte sie über die Geschehnisse während der Nazizeit?
Die Kulturpolitik: Wie «braun» war das St.Galler Stadttheater, wie stellte sich das Museum zur sogenannten «entarteten Kunst»?
Diese Liste liesse sich problemlos erweitern. Fässlers Ausstellung böte St.Gallens Kulturverantwortlichen also eine Chance, mutig zu sein und einen aufklärenden Beitrag zur hiesigen Geschichtsforschung – lokale Fachleute und Vorarbeiten sind vorhanden – zu leisten.