St.Gallen ist links-grün

Das Resultat der Ersatzwahl in den St.Galler Stadtrat hat die Qualität eines Paukenschlags. Nicht unbedingt, weil Sonja Lüthi gewonnen und die CVP ihren noch einzigen Sitz verloren hat, sondern weil der Sieg so deutlich ausgefallen ist. Ein Kommentar.
Von  Andreas Kneubühler
Im Scheinwerferlicht: Sonja Lüthi nach der Bekanntgabe des Wahlsiegs im Waaghaussaal.

Dies war das Resultat, verkündet am Sonntagnachmittag um halb drei Uhr im Waaghaus: Gewählt ist Sonja Lüthi (GLP) mit 10’096 Stimmen. Boris Tschirky (CVP) erreicht 6966 Stimmen.

Der Unterschied beträgt 3130 Stimmen.

Dafür gibt es zwei Erklärungen. Zuerst sollte man aber nochmals zurückblenden.

Als die CVP vor den Sommerferien die Kandidatur von Boris Tschirky bekanntgab, schrieb das «Tagblatt» von einem «Coup», der da gelungen sei.

Aus der CVP, Gemeindepräsident, Kantonsrat, ehemaliger Tourismusdirektor – früher hätte man mit solchen Attributen eine Wahl auf sicher gehabt. Heute nicht mehr. Das zeigte bereits das Resultat des ersten Wahlgangs, in dem Tschirky das absolute Mehr klar verfehlte.

Der falsche Tenor…

Im «Tagblatt» war der Kandidat aus Gaiserwald auch danach noch «der Tenor», der im Chor des St. Galler Stadtrats fehlt.

Da hatte sich allerdings bereits abgezeichnet, dass die CVP wohl auf den falschen Kandidaten gesetzt hatte.

Sie liess ausser Acht, dass es in einer Stadt wie St. Gallen ein anderes Profil braucht, um gewählt zu werden, als in einer Landgemeinde. Die zwingende Voraussetzung lässt sich vielleicht am besten mit dem schwer fassbaren und politisch unklaren Begriff «Urbanität» zusammenfassen.

Das bedeutet nicht zwangsläufig links, auch wenn fortschrittliche Ansichten in der Verkehrs- der Energie- und der Sozialpolitik dazugehören.

Es heisst aber sicher nicht die Kandidatur eines mittel-konservativen Gewerbevertreters aus dem CVP-Karrierepool.

… und die richtige Gegenstimme

Es war vielleicht auch Pech für Boris Tschirky, dass gegen ihn eine vielfach engagierte Frau antrat, die sich beruflich mit erneuerbaren Energien beschäftigt, zu Interviewterminen mit dem Elektrovelo radelt und sich zutraut, Amt und junge Familie unter einen Hut zu bringen.

Sonja Lüthi, neue St.Galler Stadträtin. Und künftige Sozialministerin? Am Donnerstag gibt der Stadtrat die Departementsverteilung bekannt. (Bild: Ladina Bischof)

Sie war für das urbane St. Gallen schlicht die bessere Kandidatin.

Es gibt noch eine andere Erklärung für die 3130 Stimmen Unterschied.

Am Sonntag setzte sich eine Entwicklung fort, die vor einem Jahr mit der Wahl von Maria Pappa (SP) in den Stadtrat einen ersten Höhepunkt erlebt hatte.

St. Gallen ist eine links-grün regierte Stadt geworden.

Dies bedeutet einen eklatanten Machtverlust der Gewerbekreise und ihrer Vertreterinnen und Vertreter in den bürgerlichen Parteien, die die Stadt lange dominiert hatten.

Mit der neuen Zusammensetzung des Stadtrats mit zwei Mitgliedern der SP, einem Parteilosen, einer Grünliberalen sowie dem Stadtpräsidenten von der FDP müssten nun unter anderem die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen über die Ausrichtung der Verkehrspolitik beendet sein – auch wenn noch die Abstimmung über die Mobilitätsinitiative ansteht. Und die Probleme natürlich geblieben sind.

Die endlosen Diskussionen um Tiefgaragen und Parkplätze mit all ihren Auswüchsen haben den politischen Diskurs in St. Gallen auf geradezu absurde Weise dominiert.

Dabei gibt es ganz andere Herausforderungen.

Die neuen Mehrheiten müssen nun zeigen, welche Konzepte sie für eine Stadt haben, in der sich das wirtschaftliche Zentrum immer mehr von den Fussgängerzonen mit ihren Markenshops zu den Klubs und Gastrobetrieben in der Nacht verlagert.

In der es weiterhin an Ausbildungsangeboten fehlt, die die kreativen Köpfe an der Abwanderung nach Zürich und Co. hindern können.

Die nach einer kurzen Aufschwungsphase in den letzten zwei, drei Jahren wieder viel an Kraft verloren hat und in der als sichtbares Zeichen die Bevölkerung im Gegensatz zu vergleichbaren Zentren nicht mehr wächst.

Einer Stadt auch, der ein grosses, alle verbindendes Projekt fehlt, wie es das Geothermie-Kraftwerk eines war.