Spüren, wie Paul sich fühlt

Die mittelalterlichen Tragezeichen zu diesem Beitrag stammen aus der Datenbank kunera.nl und wurden von Romea Enzler zusammengestellt.

Mit dem Stück Paul* werden queere Themen in Theaterform in die Schulen gebracht. Es fordert nicht nur die Klasse, sondern auch den Schauspieler heraus.

Mit ei­ner gros­sen Ta­sche vol­ler Klei­der un­ter dem Arm kommt Chris durch die Schul­zim­mer­tür. Er blickt ner­vös um­her und ver­sucht, sich im Zim­mer ein­zu­rich­ten. Er er­klärt, dass er ei­ne Wet­te mit ei­nem Fuss­ball­ka­me­ra­den am Lau­fen hat. Er müs­se nun vor der gan­zen Klas­se Frau­en­klei­dung tra­gen.

Im­mer wie­der er­zählt er von Pau­la, sei­nem Schwarm seit der Kind­heit. Nach und nach stellt sich her­aus, dass die bei­den in­zwi­schen ver­hei­ra­tet sind und Zwil­lin­ge ha­ben. Und: dass Pau­la nicht mehr Pau­la ist, son­dern Paul. Er sei ge­ra­de in der Tran­si­ti­on zu ei­nem trans Mann. Das Ou­ting ist noch nicht lan­ge her und nicht ver­ar­bei­tet.

Das Klas­sen­zim­mer­stück, das der­zeit in Ost­schwei­zer Schu­len ge­zeigt wird, stammt von Eva Rott­mann. Sie hat es für das Thea­ter Kan­ton Zü­rich ge­schrie­ben. Kon­zert und Thea­ter St.Gal­len hat es un­ter der Lei­tung von Chris­ti­an Hett­kamp in­sze­niert, mit Se­bas­ti­an Juen in der Dra­ma­tur­gie. Jo­na­than Fink aus dem Schau­spiel­ensem­ble spielt Chris. Rott­mann hat die Ge­schich­te ge­mein­sam mit trans Per­so­nen ent­wi­ckelt.

Kei­ne ver­lo­re­ne Wet­te

Im Schul­zim­mer be­rich­tet Chris von der trans­pho­ben Be­lei­di­gung, die neu­lich sein Fuss­ball­freund über die Stras­se rief. Chris schwieg, Paul war von die­sem Schwei­gen ent­täuscht. Es war der Wen­de­punkt in ih­rer Be­zie­hung. Nach ei­nem hef­ti­gen Streit ver­schwand Paul mit den Kin­dern. Chris weiss, dass er ihn und die Kin­der liebt und zu­rück­ha­ben will. «Wenn du ei­ne Per­son liebst, willst du doch, dass es ihr gut geht, oder?», fragt er. Er ver­sucht mit der Klas­se sei­nem Pro­blem auf den Grund zu ge­hen. Die an­geb­li­che Wet­te ent­puppt sich als Lie­bes­be­weis.

Das Stück wird oh­ne An­kün­di­gung ge­zeigt, ver­steck­tes Thea­ter ge­nannt. Die Klas­se soll glau­ben, dass Chris echt ist. Durch ein au­then­ti­sches Spiel soll Nä­he her­ge­stellt und Em­pa­thie ge­för­dert wer­den. Wie Jo­na­than Fink be­rich­tet, scheint es zu funk­tio­nie­ren. Bei ei­nem Pro­be­durch­lauf, bei dem die Klas­se vor­in­for­miert war, mein­ten im Nach­gang ei­ni­ge, dass sie sich zwi­schen­zeit­lich nicht mehr si­cher wa­ren, ob al­les echt oder ge­spielt war.

Auf­merk­sam­keit ge­win­nen

Chris er­klärt der Klas­se, er wol­le mit der Ak­ti­on ein «klit­ze­klei­nes biss­chen spü­ren, wie Paul sich fühlt.» Die Klas­se kann wäh­rend­des­sen sehr na­he mit­er­le­ben, wie Chris sich fühlt. Im­mer wie­der tritt er in In­ter­ak­ti­on, holt sich Tipps, gibt ih­nen klei­ne Auf­trä­ge oder stellt Fra­gen.

Fink hat so auch Klas­sen­clowns und Takt­ge­ber:in­nen im Griff. «Der lau­tes­ten Per­son ge­be ich am An­fang ein Sta­tiv und ein Han­dy mit dem Auf­trag, die Ak­ti­on zu fil­men.» Auch wenn das The­ma für vie­le in­ter­es­san­ter als Ma­the oder Fran­zö­sisch ist, ist die Auf­merk­sam­keit der von Tik­Tok kon­di­tio­nier­ten Ge­ne­ra­ti­on ei­ne Her­aus­for­de­rung. «Ich muss die gan­ze Zeit sen­den, da­mit ich ih­re Auf­merk­sam­keit ha­be.»

«In der letz­ten Klas­se gab es ei­nen klei­nen Sher­lock Hol­mes. Der ver­such­te al­les, um mich aus dem Kon­zept zu brin­gen.» So fand er Na­gel­lack­über­res­te an den Fin­ger­nä­geln von der letz­ten Auf­füh­rung oder be­merk­te die ein­heit­li­che Klei­dungs­be­schrif­tung der Kos­tüm­ab­tei­lung mit «Fink». Auch die Er­zäh­lun­gen über die Zwil­lin­ge mach­ten ihn skep­tisch und er frag­te nach Fo­tos. «In sol­chen Si­tua­tio­nen muss ich krea­tiv sein. Ich zeig­te ihm ein Bild von den Zwil­lin­gen mei­ner Schwes­ter.» Nur han­delt es sich dort um zwei Mäd­chen, als Chris hat er da­vor von ei­nem Jun­gen und ei­nem Mäd­chen er­zählt. Der klei­ne Sher­lock be­merk­te es und frag­te nach. «Nee nee, er sieht nur aus wie ein Mäd­chen», muss­te er dann im­pro­vi­sie­ren.

Fink sel­ber hat vor acht Jah­ren sei­ne Schul­zeit be­en­det. Wie­der dort zu sein, sei wie ein Flash­back, sagt er. «Auch wenn die al­le um die 14 sind, sind sie teil­wei­se ei­nen Kopf grös­ser als ich und se­hen aus wie 18.» Oh­ne den kla­ren Ich-spie­le-ja-nur-ei­ne-Rol­le-Schutz da­zu­ste­hen und Frau­en­klei­dung zu tra­gen, fällt Fink nicht leicht. Es ist ei­ne Ge­fühl­sof­fen­ba­rung, als Chris lässt er wort­wört­lich die Ho­sen run­ter.

Klas­sen­zim­mer sind vol­ler Mei­nun­gen

Nach den 45 Mi­nu­ten Spiel wird es auf­ge­löst und zu­sam­men mit ei­nem Thea­ter­päd­ago­gen nach­be­spro­chen. Da kom­men dann die un­ter­schied­lichs­ten Bil­der, Ste­reo­ty­pen und Mei­nun­gen zum Vor­schein. Teil­wei­se auch viel Wis­sen, manch­mal Halb­wis­sen. «Ich war scho­ckiert, wie weit das aus­ein­an­der geht», sagt Fink. «Von ‹Geht gar nicht› über ‹Ist mir egal› bis ‹Ich finds wich­tig› ist al­les da­bei.» Ei­ne Schü­le­rin hät­te bei­spiels­wei­se ge­meint, dass trans Men­schen halt ei­ne Min­der­heit sei­en und des­we­gen auch mit Be­lei­di­gun­gen rech­nen müss­ten. Wich­tig sei oft die Mei­nung der El­tern. Die Schü­ler:in­nen wüss­ten meis­tens, ob Trans­sein zu­hau­se ak­zep­tiert sei.

Paul* ist ein Thea­ter­stück für ei­ne Ziel­grup­pe, die sel­ten ins Thea­ter geht. Fink blick­te zu Be­ginn der Spiel­sai­son mit gros­sem Re­spekt auf die­se Pro­duk­ti­on, hat jetzt aber viel Spass da­bei, wie er sagt. Er spielt ei­ne Fi­gur, die na­he bei je­nen ist, die Mü­he mit quee­ren The­men ha­ben. Die Über­for­de­rung ist nach­voll­zieh­bar. Und auch Fink selbst sagt, dass ihn die The­ma­tik her­aus­for­dert. «Ge­schlechts­iden­ti­tä­ten, Se­xua­li­tä­ten, Gen­dern, manch­mal ist bei mir im Kopf al­les ein Brei.» Als Chris zeigt er vor­bild­lich, wie da­mit um­ge­gan­gen wer­den kann. «Im bes­ten Fall be­rührt dich das. Dann kannst du es ver­ste­hen. Und wenn du et­was ver­stehst, kannst du auch dei­ne Hal­tung und letzt­lich dein Han­deln än­dern.»