Als ich darüber nachdachte, welches Ereignis für mich in diesem Jahr das bedeutsamste war, fiel mir mein Auftritt am ersten Sommertag auf der Bühne der Stadtbibliothek Katharinen ein. Wir trugen Gedichte vor.
Eine Schweizer Lyrikerin hatte ein wunderbares Gedicht in freier Versform geschrieben und ich hatte es übersetzt. Wir lasen es im Duett. Es war unglaublich.
Ich liebe es übrigens, Poesie zu übersetzen, sogar unter Einbeziehung dreier Sprachen (Ukrainisch, Deutsch, Englisch). Das hatte ich zuletzt wahrscheinlich im zweiten Studienjahr gemacht, als ich und meine Journalistik-Mitstudierenden unsere eigenen Gedichte schrieben, sie auf einer Website veröffentlichten und dann poetische Abende und Festivals in der ganzen Westukraine organisierten.
Vorher hatten wir eine Probe. Wir versuchten, alles im Hof zu St.Katharinen nachzustellen. Aber ich merkte, dass es irgendwie nicht funktionierte. Lärm, Handwerker, die nebenan arbeiteten. Und plötzlich verstand ich: Ich muss die Menschen sehen. Ich muss wissen, für wen ich lese.
Später wiederholten wir die Probe, ein Chor kam dazu, alle bereits festlich gekleidet. Zu meinem Glück begann der berühmte St.Galler Regen, und wir gingen vom Hof in den eleganten Saal rüber. Das war schon eine ganz andere Sache.
Ich machte mir Sorgen, ob überhaupt jemand kommen würde. Trotzdem hatte ich meinen Freund:innen gesagt, sie sollten nicht kommen, weil ich dann noch nervöser sein würde (dumm, oder?). Und dann merkte ich, dass irgendwie doch ganz viele Leute zu unserem Abend kamen.
Ich sass in der ersten Reihe und drehte mich nicht um, bis ich auf die Bühne musste. Dann kam mein Moment. Ich stand auf, ging auf die Bühne ... und sah einen vollen Saal vor mir, alle Plätze besetzt, manche Leute standen sogar. Eine dramatische Pause setzte ein.
Ich betrachtete sie alle: Den älteren Herrn in der zweiten Reihe mit den freundlichen Augen, die festlich gekleideten Frauen, die Mütter mit ihren Kindern, die Jugendlichen ... Und ich begann zu sprechen. Ich legte mein ganzes Herz in jedes Wort. Sehr leise und deutlich. Ich erlebte dieses Gefühl und übertrug es auf sie. Und mit jedem Vers wurde der Saal immer stiller.
Es wurde so still, dass man nur das Atmen hören konnte. Ich sah ihre Augen, sprach jeden Einzelnen an und spürte, dass sie mich hörten. Ohne Mikrofone. Aufrichtig.
Applaus brach aus. Ein Schriftsteller kam später auf mich zu und sagte: «Sie stehen nicht zum ersten Mal auf der Bühne.» Ich nickte, es war nicht das erste Mal. Eine Frau kam zu mir und bedankte sich auf Deutsch einfach dafür, die Sprachmelodie hören zu dürfen. Viele Menschen kamen; manche sagten, sie haben ein Wort auf Ukrainisch verstanden, weil sie es zuvor irgendwo gehört hatten. Es war wie nach einem Konzert in einer Philharmonie. So schön. Ich hatte das Gefühl, ihre Herzen hatten verstanden, wovon ich sprach. St.Gallen war an diesem Sommertag so warm. Und ich fühlte mich lebendig.
«Sprich, und man wird dich hören.» Das schrieb ich, als ich etwa 20 war. Jetzt füge ich hinzu: «Sprich von ganzem Herzen. Selbst wenn es zwei Jahre braucht, um wieder zu sprechen.»Liliia Matviiv, 1988, stammt aus Lviv in der Ukraine. Die Journalistin, Essayistin und Sozialaktivistin ist im Frühling 2022 in die Schweiz gekommen und lebt derzeit in St.Gallen. Ol’ha Gneupel übersetzt ihre Texte.
Liliia Matviiv, 1988, stammt aus Lviv in der Ukraine. Die Journalistin, Essayistin und Sozialaktivistin ist im Frühling 2022 in die Schweiz gekommen und lebt derzeit in St.Gallen. Ol’ha Gneupel übersetzt ihre Texte.