Spiegel der fragmentierten Welt
Mit einer Lanze für die Printmedien eröffnet Matthias Haupt den Abend – nachdem der Souverän recht unsouverän am 13. Februar das Mediengesetz bachab geschickt hat. Der Verleger des Haupt-Verlags in der dritten Generation preist das Buch als corona-resistentes Medium, als relevanten Informationsträger gerade auch in dieser Zeit.
So kommt er auf einen Longseller zu sprechen, auf das Uni-Taschenbuch utb 1127, das 1983, vor fast 40 Jahren also, in der ersten Auflage erschienen ist: Mario Andreottis Struktur der modernen Literatur. Der Band sei soeben in die stark erweiterte sechste Auflage gegangen. Das ist für ein wissenschaftliches Werk eine Erfolgsgeschichte, zweifellos. Und allein schon dieser Umstand beweise, meint Matthias Haupt, dass Andreottis Buch zu Recht eine breite Brauchbarkeit nachgesagt werde.
Montage und Fragment
Autor Mario Andreotti zitiert eingangs, auf die hohe Zahl der Gäste anspielend, Goethes Faust: «Denn freilich mag ich gern die Menge sehen, / Wenn sich der Strom nach unsrer Bude drängt, / Und mit gewaltig wiederholten Wehen / Sich durch die enge Gnadenpforte zwängt.»
Er nimmt den Faden zu seinem Lehrbuch auf, zur Struktur der modernen Literatur, indem er auf die Frage eingeht: «Warum schreiben moderne Autoren anders?» Diese Frage zielt direkt auf das Herz von Andreottis Theorie, auf die Unterschiede zwischen traditioneller und moderner Literatur.
Als ein wesentliches Merkmal der letzteren weist der Literaturwissenschaftler die Montage nach: das nicht lineare, das achronologische Erzählen, das fraktale Lavieren zwischen verschiedenen Zuständen und Realitätsebenen, mit Verwerfungen, Schnitten, Brüchen in den Dimensionen von Raum und Zeit. In der Montage widerspiegelt sich die Diskontinuität des modernen menschlichen Bewusstseins.
Andreotti fokussiert im Folgenden auf die Anonymisierung des Individuums in der Massengesellschaft, auf die Übermacht der Bürokratien und Diktaturen, die das atomisierte Subjekt knechten. Diese Übermacht komme beispiellos in Franz Kafkas Romanfragment Der Prozess zum Ausdruck: «Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.»
Kafkas Figur K. könne – wie übrigens auch Alfred Döblins Franz Biberkopf aus dem Bewusstseinsstrom-Roman Berlin Alexanderplatz – als signifikanter Anti-Held gelesen werden, der den klassischen Helden in der modernen Literatur ablöse.
Mario Andreotti: Die Struktur der modernen Literatur – Neue Formen und Techniken des Schreibens: Erzählprosa und Lyrik. 6. Auflage, Haupt Verlag, Bern 2022, Fr. 28.-
Dann wirft Andreotti einen Blick auf die Rolle, welche die Erzählperspektive spielt, auf den Wandel vom auktorialen zum personalen, vom allwissenden zum fragmentierenden Erzählen; das erstere stehe für ein kosmisches, das zweite für ein offenes Weltbild.
Literatur könne keine Therapien ersetzen, aber sie könne dem Menschen helfen, feinfühliger, hellhöriger, kritischer zu werden: Mit diesem Hinweis schliesst Andreotti seinen fulminanten Vortrag.
Neuste Quellen bis zu Anna Stern
Anschliessend erläutert Germanistin Christiane Matter, die in ihren Gymnasialklassen seit den 1990er Jahren mit dem neu aufgelegten Lehrbuch arbeitet, was in der sechsten Auflage der Struktur der modernen Literatur Neues dazugekommen ist. Darunter finden sich zahlreiche Textbeispiele, etwa der jüngste Roman von Anna Stern, das alles hier, jetzt (2020), sowie Tabellen, Überblickstafeln, auch weitere Übungen zur Vertiefung des Verständnisses.
Zum Schluss blendet Christiane Matter ein Zitat aus einer E-Mail von Mario Andreotti ein: «Fahr wohl, Schiff, segle dahin mit freundlichen Winden. Fahr wohl, Schiff, mit der alten und der neuen Fracht – hin zu unseren Leserinnen und Lesern, denen allen ich eine ertragreiche Lektüre wünsche.» Umrahmt wurde der Abend vom Kammerorchester Rondino Wittenbach unter der Leitung von Erich Schneuwly.