Soundtracks vom Polentone d’Oro

Carlo Lorenzi ist Drummer mit Leib und Seele. Improvisation – egal ob im Jazz oder in der Elektronik – ist ein entscheidendes Element in seinem Spiel. Für sein Schaffen, das weit über die Rheintaler Musikszene hinaus inspiriert, erhält er jetzt den Kulturpreis «Goldiga Törgga».
Von  Roman Hertler

Treffen im Kafi K in Diepoldsau. Wir setzen uns mit Blick auf die künftige Piazza vors Café. Neben Espresso und Wasser liegt ein Päcklein Camel Filters Soft parat, das während des Gesprächs immer leerer wird. In Carlo Lorenzis Wohngemeinde herrscht Bauboom: Zentrumsgestaltung. Ein gefundenes Fressen für den Musiker, der sein Schlagzeug an allen möglichen und unmöglichen Orten aufstellt. In der Lockdown-Dürre waren das etwa eine geschlossene Zollstation, ein Fussballtor, eine Bäckerei, eine Schule.

Jeweils am ersten Mittwoch des Monats bespielt er mit wechselndem Gast die verschiedenen Baugruben im Dorfzentrum. Der Baggerführer und der Bauleiter sind nette Kerle, die die gewünschten Stellen vor den Konzerten bereitwillig mitgestalten. Die Gemeinde unterstützt das Projekt namens «Zentaurum Drum». «Bald wird auch die Tiefgarage dort hinten vergrössert. Dort gibt es eine viel tiefere Grube.» Die Augen des 58-Jährigen leuchten spitzbübisch.

Diepoldsau als Heimat- wie Durchfahrtsort. Hier verlassen sonnenhungrige Urlauber:innen aus dem Norden die deutschen und österreichischen Autobahnen, um über die A13 in den Süden zu gelangen. Auch Lorenzi fährt die Strecke oft, entweder um seine Mutter zu besuchen, die nach der Pensionierung mit dem Vater ins Friaul zurückgekehrt ist, oder um Ferien im apulischen Süden zu machen.

Ein Ton reicht

Der Vater kam Anfang der 1960er-Jahre ins Rheintal, war als Polsterer und Tapezierer ein gefragter Mann. Wenig später holte er seine Frau mit der Vespa zu sich. Carlo Lorenzi und die beiden jüngeren Brüder kamen in der Schweiz zur Welt. Sie wuchsen in einer multikulturellen Siedlung in Rebstein auf. Der türkische Pop aus dem Langwellenempfänger der Halmaspieler vor dem Haus ist eine frühe musikalische Erinnerung. Mit italienischen, spanischen, türkischen und griechischen Kindern wurde getschuttet. Lorenzi vergleicht Fussball mit Musik. «Wenn du den Ball hast, darfst du nicht lange rumtändeln, sondern musst entschlossen abziehen, sonst gibts kein Goal.»

Lorenzi wäre gern Fussballer geworden. In der fünften oder sechsten Klasse nahmen ihn seine Freunde mit ins Training. Weil die Mannschaft am Wochenende zuvor nach Ansicht des Trainers versagt hatte, liess er sie mehrere Kilometer durchs Ried laufen. Kein einziger Ball wurde gekickt. Es war Lorenzis erstes und letztes Training. Die Liebe zum Sport ist geblieben. «Da ist nur ein Ball, ganz simpel. Und dann muss das Team damit aus der Situation heraus etwas anfangen, blitzschnell reagieren, improvisieren. Mit den Tönen ist es genau gleich: Man kanns vergeigen, oder aber auch ein unvergessliches Juwel von einem Match abliefern.»

Lorenzi bezeichnet sich als Geräuschfetischist. Mit dem Löffel kratzt er leicht übers Untertässchen. «Hörst du? Das ist ein Ton.» Früher in der Messe habe er jeweils Gänsehaut gehabt, wenn er sich nach empfangener Kommunion zurück an seinem Platz niederkniete, die Augen schloss und das Klacken der Absätze, das Rascheln der Sonntagshosen und der Sonntagsröcke in sich aufsog.

Musik ist für Lorenzi weniger geistige Anstrengung, sondern ein leibliches, körperliches Erlebnis. Egal ob virtuose Jazzrhythmen oder monotone Elektrobeats: Ziel ist immer dieser selbstvergessene Zustand des tranceartigen Spielens direkt aus dem Herzen. Seine Zahlen- und Buchstabenspielereien, mit denen er gerne komponiert, bilden dabei nur den Minimalrahmen als Ausgangspunkt fürs freie Spiel.

Von Brubeck bis Beatles

Musik war in Lorenzis Familienalltag allgegenwärtig. Der Vater spielte in einer Unterhaltungsband italienische Gassenhauer, die heute in Lorenzis Italo-Jazz-Projekt The Mozzarellas wieder anklingen: der Soundtrack italienischer Krimis und Komödien der 60er und 70er. Geprobt wurde in der heimischen Stube. Kurz versuchte Klein-Carlo sich an Vaters Gitarre, doch die dünnen Stahlsaiten schnitten ihm in die Finger. Eigentlich war klar, dass es das Schlagzeug sein sollte.

Er war zehn, als ihn Wisi, der Drummer seines Vaters, an einem Sonntag in einem Dancing in Buchs erstmals an die richtigen Kessel setzte. Die Band packte das Equipment vom Vorabend zusammen, und Carlo begann einen Beat zu spielen. «Es kam einfach aus mir heraus, ich hatte es irgendwie in mir», sagt er. Sonntags, wenn der Vater schlief, räumte er heimlich das Schlagzeug aus dem Transporter und spielte für sich in der Waschküche. Der Vater billigte es stillschweigend.

Kulturpreisverleihung:
5. November, 18 Uhr, Kinotheater Madlen Heerbrugg

Anmeldung: info@rheintalerkulturstiftung.ch

Lorenzi spielte alles, was er von den Platten seines Vaters und seines Onkels oder am Radio hörte und mochte: «Shadows, Zeppelin, Santana, später natürlich auch punky and funky stuff.» War ein Beat zu kompliziert, rannte er wieder und wieder von der Waschküche ins Wohnzimmer zum Plattenspieler hoch, um sich die Stolperstelle einzuprägen. Als besondere Knacknuss erwies sich der Fünfvierteltakt in Dave Brubecks Take Five, diesem Evergreen, der Lorenzi die Welt des Jazz eröffnete. Gegen Ende der Primarschule begann er mit ein paar Gleichaltrigen zu musizieren. Ihr erster Song war Yellow Submarine. Den Bläserpart nach der Zeile «and the band begins to play» sangen sie jeweils nach.

Die Kanti in Heerbrugg schmiss er nach zwei Jahren hin. Die Zeit als KV-Lehrling empfand er als Befreiung. Arbeiten bis fünf, danach Musik. Mit Kantifreund Remo Michel pflegte er weiterhin das aufmerksame Musikhören. Freunde ausserhalb Rebsteins führten ihn in seine erste richtige Band. Copter spielten Mundartrock und füllten damit Anfang der 80er die Turnhallen zwischen Rorschach und Sargans.

Ambient-Pioniere

Ein anderer Freund, Bassist Walter Weber, fragte ihn, ob er auch mal mit nach St.Gallen zum Workshop von Albert Landolt an der Jazzschule komme. «Klar komme ich», sagte er und blieb. Heinz Lieb wurde zu seinem ersten offiziellen Drumlehrer. Der New Yorker Art Lande, der damals ein paar Jahre in St.Gallen unterrichtete, war ein wichtiger Förderer und Mentor. Das Jazzhuus Lustenau, wo sich Erfahrene und junge Kräfte trafen, austauschten und miteinander jammten, wurde für Lorenzi zu einer Art Stammlokal. «Überhaupt läuft im Vorarlberg kulturell enorm viel, früher wie heute.»

Auf einer Reise nach Südfrankreich kam Lorenzi an einem offenen Keller vorbei. Dort sassen zwei belgische Brüder an Casio-Keyboards und legten eine Session hin, die Lorenzi nachhaltig beeindruckte. Die Liebe zu Kraftwerk war entfacht. 1992 flog er zum ersten Mal nach New York. Danach regelmässig. «Die Energie da ist einfach geil! Da kannst du jeden Abend alles haben, je nach Lust und Laune: Funk, Punk, Brazil, Soul, Jazz, Techno – was das Herz begehrt.» So hörte er zum ersten Mal Jungle, Drum’n’Bass, Ambient. Einmal in Verbindung mit einer Lichtinstallation, alles in einen hauchdünnen Vorhang aus Wasserdampf gehüllt. Als er ins Rheintal zurückkehrte, war er «geladen wie ein Wahnsinniger».

Die Idee zu plasmaticfood war geboren. Der Kern des 12-köpfigen Kollektivs bestand nebst Lorenzi aus seinem jüngeren Bruder Marco (DJ Mäx) und Tastenmeister Georg Neufeld. Ihre Musik nannten sie «live created sub-electronic sound tracks». Die live produzierte Videokunst mit Beamern und Röhrenfernsehern war fester Bestandteil der Shows. Hierfür war Marco Hess besorgt, der als einer der ersten in der Schweiz sogenannte Multi-Beams projizierte.

plasmaticfood feierten ab Mitte der 90er- bis Mitte der Nuller-Jahre einige Erfolge. Gern gebucht wurden sie etwa an Slope Styles, grossen Snowboard-Events in Lech oder in Scuol, oder für Ambient- und Art-Installationen von Silvan Köppel, Kurt «Kuspi» Spirig, Simon Kness oder Francesco Bonanno. Als die Gig-Anfragen immer mehr zunahmen, wandten sich einige Bandmitglieder allerdings wieder ihrem Hauptberuf zu. Mit neuem Personal gerieten plasmaticfood ins Stottern und kamen schliesslich zum Stillstand.

Lorenzis Faszination für die kreative Verbindung von Musik und Räumen blieb. Für all seine Jazz-, Funk- und Electronic-Experimente gab es immer auch Förder:innen, die ihre Räumlichkeiten zur Verfügung stellten: Katja Schmitter oder Pélé Mathis, die ihre Lokale, die Schmitte und das Kunststoff in Altstätten und die Bierhalle in Balgach, gerne für den Jazz öffneten. Oder der Buchser Tom Rist, der 2004 in Zürich das «Helsinki» eröffnete. Auch Röbi Pulver mit seiner Reblaube oder Peter Sieber, langjähriger Besitzer und Betreiber der Habsburg in Widnau, boten Lorenzi immer wieder eine Plattform.

Das Rheintal war ihm stets gewogen. Obwohl er enge Verbindungen nach St.Gallen pflegt, würde er nicht wegziehen wollen. «In St.Gallen steht ja immer gleich die Schmier da, wenn du etwas machst.»

Hauptsache mit Herz

Lorenzi bleibt nie stehen. Sein Wissen und seine Erfahrung teilt er noch so gerne. Das Umfeld bestätigt seine Offenheit, seine Experimentierfreude und seine Leidenschaft. Lorenzi hat zudem ein Gehör für die junge Generation. Besonders freut ihn, dass in den letzten Jahren wieder so etwas wie eine Bandkultur entstanden ist in der Ostschweiz, dass Musik wieder vermehrt kollektiv in den Bandkellern
gelebt statt vereinzelt am Bildschirm produziert wird. Positiv aufgefallen sind ihm etwa das Disco-Indie-Trio The Oskars oder die psychedelischen Barefoot to the Moon. «Mir gefällt es, wenn jemand einfach mit voller Überzeugung sein Ding durchzieht. Das könnte auch der unoriginellste Sound aller Zeiten sein. Hauptsache mit Herz.»

Seit 20 Jahren ist Lorenzi regelmässig mit seinem eierschalengelben VW-Bus mit markantem schwarzem Stern unterwegs. Als er vor kurzem nach einem Gig mit dem Nicole Durrer Quartett von Zürich nach Hause fuhr, knackte er die 400’000-Kilometer-Grenze. Bassist Sandro Heule und er gerieten darüber in helle Freude und stiessen an der Raststätte Forrenberg sogleich darauf an. «Das Ziel ist definitiv, die halbe Million noch zu schaffen», erklärt Lorenzi. Ausserdem will er einmal mit seiner Vespa die Strecke fahren, die sein Vater zurückgelegt hat, als dieser seine Frau in die Schweiz holte. Musikalische Fernziele gibts eigentlich keine. Lorenzi setzt in der Regel immer gleich um.

Die Süditaliener, bei denen er jeweils Ferien macht, nennen Norditaliener wie ihn «Polentone» (etwa: «Polentafresser»). Lorenzi ist weder Kost- noch Weinverächter, seine Pasta alla Crudaiola («Niemals mit Spaghetti!»), eine apulische Kaltsauce, wird gerühmt. Tatsächlich mag er auch Polenta in all ihren Variationen sehr. Der Rheintaler Ribel hingegen ist ihm zu flüssig. Dennoch freut ihn die Verleihung des Rheintaler Kulturpreises «Goldiga Törgga» ungemein. «Ich hätte ganz ehrlich nicht damit gerechnet», sagt Lorenzi. «Jetzt bin ich also der Polentone d’Oro.»