Soundtrack der Sehnsüchte
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Ja, das Bahnhofbuffet. Dieser Schmelztiegel der Gesellschaft, dieser pausengetastete Treffpunkt von Reisenden und Nichtreisenden aller Klassen, dieser Sehnsuchtsort, erst recht in einer Zeit, in der Bahnhöfe nur noch zweckentfremdete Gebäude an Zughaltestellen sind, ohne Billettschalter, ohne Personal, und eben: ohne Bahnhofbuffet. In durchgetakteten Fahrplänen und minutiös optimierten Alltagen bleibt für Zwischenstopps an Bahnhöfen meist ohnehin keine Zeit. Der Mensch wird selbst zum Anschluss zwischen Zügen, Bussen und was sonst noch öffentlich oder privat verkehrt. Das gilt natürlich auch fürs selbsternannte Chancental und seine Zughaltestellen, pardon: Bahnhöfe.
Bahnhofbuffet Chancental bedienen ebenfalls Sehnsüchte, auch wenn sie, wie es im Pressetext heisst, «den Anschluss zu Millenials, die sich mit ihren Schnauzern und Trainingsjacken unter fünf Schichten Ironie verstecken», nie gefunden hätten. Die Rheintaler spielen alternativen Rock mit 90er-Einschlag, der dank dem exzessiven Autotune-Gesang von Bandkopf Neil Werndli so einzigartig wie faszinierend ist. «Mundart-Autotune-Grunge» nennen sie ihren Musikstil. Und sie schaffen einen Ort, an dem man gerne verweilt und auch mal freiwillig einen Zug auslässt. Nun veröffentlichen sie ihr erstes Album De Platz nebed dir.
Mehr als eine Compilation
Von einem «richtigen» neuen Album kann man allerdings nur bedingt sprechen. Fünf der neun Songs haben Bahnhofbuffet Chancental zwischen Anfang 2022 und Ende 2023 in loser Folge bereits digital veröffentlicht, dazu gibt es vier neue Stücke: Schö ist eine ungewohnt poppige Nummer über die grosse Liebe und die kleinen Schönheiten des Moments, E truurigs Lied erzählt vom Kater nach dem berühmten Bier (oder zwei oder drei) zu viel, Sportwasser hilft beim Stolpern durch den Alltag, und Fahne mit dem stampfenden Rhythmus ist so etwas wie das Herzstück der Platte. Zwei «ältere» Songs fehlen hingegen, De Dani häts verstande und Hoffnigslos hoffnigslos, ein Cover von Brandão Faber Hunger.
De Platz nebed dir hört man nicht an, dass es zusammengewürfelt ist. Das Album ist mehr als eine Compilation, es ist nicht bloss die Summe seiner Einzelteile, sondern hat einen mitreissenden Flow und eine fesselnde Energie. In den Songs schwingt etwas Punkiges mit, weniger in Bezug auf die Musik als auf die Attitüde. Er glaube ohnehin nicht mehr so recht an das Konzept eines Albums, sagt Neil Werndli. Ob De Platz nebed dir auch auf CD oder LP erscheinen wird? Unwahrscheinlich. Heute werde Musik in Häppchen konsumiert. Also serviert er auch Häppchen.
Dennoch: Man spürt beim Mittdreissiger eine gewisse Desillusionierung. «Ich habe auch das Gefühl, das Band-Ding sei tot.» Viele Bands würden ihn selbst langweilen. Trotzdem hält er seine eigene unbeirrt am Leben. Nicht aus Gewohnheit, sondern aus Leidenschaft. Dabei spielt es auch keine Rolle, dass sich Aufwand und Ertrag nicht die Waage halten. «Wenn wir mit unserer Musik zehn Provinzshows pro Jahr spielen können, ist das okay.»
Älterwerden, Alkohol und Abstürze, Alltagsflucht
Bahnhofbuffet Chancental sind vor rund drei Jahren aus Bordeaux Lip hervorgegangen (die wiederum einst aus Cheap Noise entstanden). «Mit diesen Jungs mache ich schon seit über 15 Jahren Musik», sagt Werndli. Der musikalische Wandel gehört dabei zum Programm. Der Garage Rock von Bordeaux Lip habe irgendwann angefangen, die Bandmitglieder zu langweilen.
Bahnhofbuffet Chancental:
De Platz nebed dir, ab 8. März auf den gängigen Musikplattformen
Live: 6. April, Kombinat Festival Zürich (Zukunft, 20 Uhr)
Also Neustart, mit neuem Sound, neuem Namen, neuer Sprache. Sang Werndli bei Bordeaux Lip oder Loreley & Me ausschliesslich auf Englisch, textet er bei Bahnhofbuffet Chancental nur noch auf Mundart. «Ich kann mir nicht mehr vorstellen, auf Englisch zu singen. Auf Schweizerdeutsch kann ich mich viel präziser ausdrücken.»
Die Geschichten, die er in den Songs erzählt, ziehen einen zusätzlich ins Album rein. Es geht ums Älterwerden, um Alkohol und Abstürze, um die Alltagsflucht, auch um die Flucht vom Land in die Stadt, nur um zu merken, dass man das Land tief in sich mitträgt und in der Stadt doch irgendwie fremd bleibt. Bei all den Themen geht es auch um Sehnsüchte, irgendwie.
Eine Zweitband für alle Fälle
Das Älterwerden betrifft die Bandmitglieder ganz konkret. Ein Cordon-Bleu-Abend mit Kollegen, ein Kinoabend mit der Freundin – wenn eine kurzfristige Konzertanfrage kommt, passiert es schon mal, dass jemand sein eigenes Programm durchziehen will. «Dafür habe ich vollstes Verständnis», sagt der Bandkopf. Um das Konzert nicht absagen zu müssen, hat Werndli eine Zweitband zusammengestellt, die in solchen Situationen einspringen kann. Mit der Folge, dass sich die Mitglieder der beiden Bands immer mal wieder durchmischen.
Das hält frisch. Und notfalls geht es neuerdings auch ohne Band: Ende Februar spielte Neil Werndli im Gare de Lion in Wil erstmals eine Bahnhofbuffet-Chancental-Soloshow. Bis auf die Gitarre kommen alle Instrumente ab Computer, neu eingekleidet in ein Darkwave-/Post-Punk-Gewand. «Ich bin gespannt, wie sich das anfühlen wird. Und ich frage mich, ob ich allein dieselbe Energie rüberbringen kann», sagt er beim Treffen Mitte Februar, eine Woche vor dem Konzert.
Bahnhofbuffet Chancental haben jedenfalls neue Sehnsüchte geweckt. Nach neuer Musik, nach einem neuen Zwischenstopp. Also bitte nicht schliessen.