, 3. September 2020
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Smart. Urban. Twerkt.

Kandidieren oder nicht? Eine Kurzgeschichte.

Die Idee kam unerwartet. Sie sass mit Freundinnen beim Feierabendbier im St.Leonhardspark und lästerte über die Kandidaturen fürs Stadtpräsidium, der Verkehr donnerte aus der Stadt heraus, zurück in die grünen Hügel und Nachbarkantone. Die drei Herren neben ihnen rentnerten vor sich hin und warfen den Jungs auf der Nachbarbank missbilligende Blicke zu.

Wahlkampf wiedermal boring, so die einhellige Meinung. Pappa so halbwegs interessant, immerhin eine Frau, daneben nur noch der blass-brave Buschor und der smarte FDPler, den niemand wirklich kennt und der mehr nach Verlegenheitskandidatur riecht als nach einer feschen Alternative.

Wobei: «Smart, urban, rockt» tönt an sich ja gar nicht so schlecht – wenns von einer pansexuellen Informatikerin mit Mehrfachbürgerinnenschaft käme, die abends als Frontfrau einer Punkband ihr Publikum in Ekstase rockt. Aber so? Erinnert der Slogan mehr an ein Stock-Foto. Austauschbar, einkaufbar, zu glatt.

Gut meinen es sicher alle, keine Frage. Aber würden sie diese Stadt auch mutig umbauen? Würden sie zum Beispiel eine Seilbahn auf den Freudenberg installieren? Und einen Hauswipfelpfad in der Altstadt?

Würden sie allen Speckgürtlern, die mit ihren SUVs in die Stadt brausen ein Roadpricing aufbrummen, die Innenstadt autofrei machen und für alle bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit Gratis-öV anbieten?

Würden sie Rechtsextremisten Rathausverbot erteilen und dafür allen Sans-Papiers und Ausländerinnen das Stimm- und Bleiberecht? Würden sie aus dem Historischen und Völkerkundemuseum endlich das Historische und Migrationsmuseum machen? Samt Beiz im Stadtpark?

Würden sie die Künste und Naturwissenschaften in der Uni einziehen lassen und im Gegenzug das Symposium abschaffen?

Würden sie im Zentrum einen unterirdischen Veloparkplatz bauen und ein Hamam am Bahnhof Nord? Oder in St.Fiden ein durchmischtes Quartier mit Alleen, Spielplätzen, 24-Stunden-Kita und bezahlbarem Wohnraum? Und den roten Platz zurückbauen und stadtklimatisch begrünen?

Würden sie von Grossunternehmen eine strikte Nachhaltigkeits-Charta fordern und wenn nicht, dann halt höhere Steuern? Und Substanzen legalisieren und besteuern wie alles andere?

Würden sie die Olma verpflichten, ihre Hallen viermal pro Jahr für diverse Gratiskonzerte und Kulturanlässe zu öffnen? Und auf dem Deckel einen Palast für die Freien errichten?

So ging es den ganzen Abend hin und her. Das Bier wurde mehr und die Ideen immer wilder. Die Rentner gingen heim zur Tagesschau, die Jungs drehten den Sound auf.

«Hör auf zu labern», wurde sie von einer ihrer Freundinnen unterbrochen, als sie gerade von einer 30-Stunden-Woche und einem Jahr Eltern- oder Fortbildungszeit für alle träumten. «Ich will dich mal sehen, wie du diese Stadt führst. Sei doch froh, wollen die anderen diesen undankbaren Job für uns machen. Was du dir da zusammenfantasierst, ist utopisch. Die Welt ist zu komplex, um sie noch tiefgreifend zu verändern. Das System ist kaputt. Sollen sich doch die andern daran abrackern.»

Da machte es Klick. Warum eigentlich nicht, dachte sie. Ich könnte doch auch kandidieren. Diese langweilige Doku-Soap ein bisschen aufmischen und es machen wie auf dem Marktplatz: das Maximum fordern, hart verhandeln und mich dann in der Mitte kompromissbereit treffen. Das Resultat wäre immer noch besser als irgendein Flickenteppich.

Vielleicht braucht es einfach mehr Selbst- und Sendungsbewusstsein. Vielleicht muss man den Leuten Visionen liefern, damit sie bereit sind, etwas zu wagen. Vielleicht sind die Zeiten der staatsmännischen Verwalter vorbei, vielleicht braucht es heute Draufgängerinnen, Rabauken, Geschichtenerzählerinnen. Keine Leute, die nur einen Funken entzünden, sondern solche, die Brände legen, bis die ganze Stadt Feuer gefangen hat.

Sie versank in Gedanken, während die anderen weiter die schwerfällige Stadtpolitik auseinandernahmen. Stellte sich vor, wie sie als Stadtpräsidentin das sanierte Theater eröffnet, vielleicht selber eine kleine Komparsenrolle im extra dafür geschriebenen Premierenstück spielen würde und danach mit dem Ensemble und dem Publikum steilgeht bis morgens um sieben.

Wie danach alle gemeinsam zum Gschwend stürcheln und auf dem neuen Marktplatz bei Kafi und Gipfel den Sonnenaufgang geniessen und auf ihre Öffis warten. Und wie sie die Putzwägen der Mitarbeiter vom Tiefbauamt anhalten, um ihnen ebenfalls Kafigipfel zu spendieren. Wie «Tagblatt»-Online am andern Tag «Stadtpräsidentin twerkt auf dem Calatrava-Dach» titelt und das SRF der ganzen Schweiz vom neuen, urbanen Groove im Osten der Schweiz berichtet, so dass plötzlich alle von den öden Metropolen ins heimelige St.Güllen zügeln wollen.

Sie lachte laut auf bei dieser Vorstellung. Es war spät geworden. Die Jungs in den Trainerhosen sassen längst bei ihr und ihren Freundinnen, es war ein Fest, und bald würden wohl die freundlichen Helfer von nebenan vorbeikommen, um der guten Runde den Garaus zu machen.

Betrunken und glücklich fiel sie wenig später voll bekleidet ins Bett. Aber der Entschluss stand fest: Gleich morgen wird die Kandidatur eingereicht.

Als am andern Tag der Wecker um sieben Uhr klingelte, wachte sie zerknittert auf. Ihr Mund ein Pelz. Draussen regnete es. Sie setzte sich Kaffee auf, putzte die Zähne, schüttelte ihren schweren Kopf. Und wusste: Das mit der Kandidatur war wohl etwas gar hochgegriffen.

Ausserdem musste sie gleich zur Arbeit. Schuften für den Lebensunterhalt. Und Geld für den Wahlkampf hatte sie ohnehin keines. Vielleicht sollte sie sich besser erst einmal für das Stadtparlament aufstellen lassen.

So ähnlich muss sich das auch anfühlen in der Exekutive, dachte sie grinsend. Man will alles und hoch hinaus und muss sich am Ende mit einem Brummschädel und zweckmässigen Arrangements für den weiteren Unterhalt begnügen. Oder mit noch weniger. Sollen doch Pappa & Co. der Schlafstadt alleine ihr Wiegenlied singen. Mais bon, Sankt Zentrum ist wohl sowieso noch nicht bereit für eine sexy Drahtzieherin wie mich. Vielleicht in vier Jahren dann.

Dieser Beitrag erschien im Septemberheft von Saiten.

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