Sklaverei, made in St.Gallen und Augsburg
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8 Minuten und 46 Sekunden – das scheint unendlich lang, auch wenn man bequem sitzt. 8 Minuten 46 Sekunden: So lange dauerte das Martyrium von George Floyd am 25. Mai in Minneapolis. 8 Minuten und 46 Sekunden stehen, sitzen oder knieen die Schauspielerinnen und Schauspieler gemeinsam mit dem Publikum am Ende des Auftritts, schweigend, mitten drin ein Transparent mit der Parole «Erkennen Benennen Bekämpfen: No Racism».
Fussgänger, ab und zu ein Auto, Velos: Der Platz vor dem St.Galler Stadthaus ist keine meditative Ecke. Aber in diesen langen Minuten ist es still, der Ernst der Schweigeaktion überträgt sich auf die meisten Passantinnen und Passanten – auch wenn kaum eine und einer stehenbleibt.
Die Aktion des fast vollzähligen Schauspiel-Ensembles dürfte als explizit politischer, kollektiver Auftritt in der jüngeren Geschichte des Theaters erstmalig gewesen sein. Sie reiht sich dafür ein in die imposante und immer stärker werdende Protestbewegung gegen jene Auswüchse rassistischer Polizeigewalt, die zum Mord an George Floyd geführt haben.
Alles ganz weit weg, in den USA? Nein, sagt die Protestbewegung. Und Schauspieler Frederik Rauscher bringt an diesem Abend die Fakten dazu.
Letzte «Reisen im Kopf» im Theatercontainer: 26. Juni 12.30 Uhr und 18 Uhr, 27. Juni 14.30 Uhr bis 17 Uhr
Rauscher hat nach rassistischen Spuren in seiner Heimatstadt Augsburg und in seiner Arbeitsstadt St.Gallen geforscht. Beides Städte, die barocken Reichtum bis heute zur Schau stellen, Städte voll von Zeugen früherer Weltgeltung. Das gilt vor allem für Augsburg; bei den dortigen Handels- und Bankendynastien der Fugger und Welser waren die meisten europäischen Feudalherren bis hin zu Kaiser Karl V. verschuldet.
Wie sich die Staaten ihre Kredite finanzierten, erzählt Rauscher am Beispiel des aus St.Gallen stammenden Handelsherren Hieronymus Sailer. Dieser arbeitet schon früh für die Welser, hat aber auch enge Beziehungen zu seiner Heimatstadt und zu Vadian. 1528 schliessen er und Heinrich Ehinger die fatalen Verträge mit der spanischen Krone über die Kolonisation Venezuelas und den Kauf von 4000 Sklaven.
Der «Big Deal» im Betrag von 20’000 Dukaten oder heute rund 3,4 Millionen Schweizer Franken ist, wie Rauscher nachzeichnet, eines der frühen Schlüsselereignisse der Sklavenausbeutung und des kolonialistischen Dreieckshandels. Augsburg, aber auch St.Gallen zählen als Handelsmetropolen damit nicht nur zu den Profiteuren, sondern zu den Strippenziehern der Kolonialgeschichte.
Dass viele dies in der Schweiz bis heute nicht wahrhaben wollen, war gerade wieder in der Republik nachzulesen. Woran das liegen könnte, deutet Rauscher einerseits mit Blick auf die Mercator-Karte der Welt an, die bis heute das Mass der Weltdarstellung ist und im Container hinten angepinnt ist. In deren Mitte: Europa. Rundherum: alles andere. Mit solchen Bildern habe sich über die Jahrhunderte auch eine geistige Landkarte in den Köpfen festgesetzt. «Wenn man mit falschem Material arbeitet, muss irgendwann ein falsches Ergebnis herauskommen.» An diesem Punkt seien wir, bis heute.
Andrerseits spielten seit jeher wirtschaftliche Interessen die Hauptrolle: Die Länder des Südens hatten Rohstoffe, Böden, Holz, alles Ressourcen, die sich gewinnbringend ausbeuten liessen – inklusive der Menschen. Die Rationalisierung dieser Ausbeutung kam später: Rassismus als quasi-wissenschaftliche Legitimierung der angeblichen «Überlegenheit» der europäischen Völker. Europas Eliten «wurden zu Rassisten, damit sie gut schlafen konnten».
Stadtrundgang «Auf den Spuren von Rassismus» mit Hans Fässler: 27. Juni 10 Uhr (Start beim Vadian) und 14 Uhr (Start beim Tibits)
«Erkennen, benennen, bekämpfen»: Das sind mit den Worten des Transparents die Gegenmittel gegen den aufkommenden Rassismus. Zum besseren «Erkennen» empfahl Rauscher unter anderem den antirassistischen Spaziergang durch St.Gallen des Historikers Hans Fässler, der den Schauspieler auch bei seinen Recherchen unterstützt hatte.
Und zur individuellen Auseinandersetzung mit dem Thema rät Rauscher mit einer Songzeile zum Schluss: «Beweg dein Herz zum Hirn.»