Sinnliche «Ecriture»

Kettly Mars, die bedeutende haitianische Gegenwartsautorin, kommt diese Woche nach St.Gallen. Eben ist ihr Roman «Die zwielichtige Stunde» auf Deutsch erschienen.
Von  Daniel Fuchs

Haiti. Die Macht der medialen Bilder ist omnipräsent. Diese zeigen ein Land im Chaos. Politisch gebeutelt von Diktaturen und Korruption, heimgesucht von Naturkatastrophen, ökologisch am Rand des Kollapses. Armuts- und Analphabetismusraten auf Höchststand. Eine schwimmende Kloake inmitten der Karibik. Ein gefallener Staat. Spätestens seit dem verheerenden Erdbeben von 2010 ist das Land ein Tummelfeld von staatlichen und nichtstaatlichen Hilfsorganisationen; auch diese bringen es nicht wirklich auf die Beine.

Haiti, das ist auch das Geburtsland des Voodoos in der Neuen Welt. In der öffentlichen Wahrnehmung wurde diese hochkomplexe, synkretistische Religion, dank Hollywood, versimpelt und mit «schwarzer Magie» gleichgesetzt. Auch dieser Aspekt des kulturellen Reichtums Haitis unterliegt noch immer den Verzerrungen.

Federführende Frauen

Spricht man heute mit haitianischen Autoren und Autorinnen, so fällt auf, dass sie gemeinschaftlich ihre schriftstellerische Tätigkeit auch als Arbeit gegen das medial negativ besetzte Erscheinungsbild ihres Landes verstehen. In dem karibischen Land mit dem grössten afrikanischen Erbe leben Menschen mit ihren alltäglichen Freuden und Sorgen. Es wird Musik gemacht, gesungen und getanzt: kreolische Lebensfreude, allem Überlebenskampf zum Trotz. Haitianische Maler erobern Galerien im Ausland, Musiker sind oben in den Charts der Weltmusik, die Literaturszene blüht.

Kettly Mars (Bild: Stéphane Haskell)

Das Experiment, eine explizit haitianische Literatur zu begründen, wurde von Männern geprägt. Jacques Roumain, Jacques Stéphen Alexis und René Depestre führten diese in die Moderne. Ab Mitte des vergangenen Jahrhunderts hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Frauen prägen die haitianische Gegenwartsliteratur. Die Werke von Yanick Lahens (Jahrgang 1953), Kettly Mars (1958) und Edwidge Danticat (1969) haben längst die haitianische Nationalliteratur einem geschmäcklerischem Folklorismus entrissen und diese in den Kanon der Weltliteratur eingeschrieben.

Das Fleisch hat kein Alter

Aus der Armut kommt er, Jean François Eric L’Hermitte, genannt Rico, Gigolo in Port-au-Prince.Durch seine inzwischen verstorbene Mutter, die als Hure ihr Überleben finanzierte, hat Rico früh seine Initiation in den Sexus erfahren. Die Kunst der Verführung erlernt der selbst frühkindlich Verführte mit zunehmender Raffinesse. Glücklicherweise ist er von Geburt ein grimaud, ein Mann von afrikanischem Typus, aber mit relativ heller Haut. Das eröffnet ihm Zugang zu oberen Schichten. Rico stapelt hoch und schlängelt sich als Opportunist durch sein Leben. Während vier Stunden taucht er, sich von einer orgiastischen Nacht erholend, in seine Erinnerungen ab. Am Ende ist es die verstörende Begegnung mit dem «frauengesichtigen Mann», die seine sexuelle Orientierung ins Wanken bringt. Mit dem schmalen, fein komponierten Roman gelingt Kettly Mars viel, auch eine Beschreibung der Struktur der haitianischen Gesellschaft. Sie öffnet den Diskurs um Hautfarbe, Sexus und Geschlecht, freizügig und ohne Vorbehalte.

Kettly Mars: Die zwielichtige Stunde, aus dem Französischen von Ingeborg Schmutt, Litradukt Verlag 2018, Fr. 16.-
Lesung: 4. Oktober, 20 Uhr, Buchhandlung Comedia St.Gallen

Neu ist das eben in deutscher Übersetzung erschienene Buch Die zwielichtige Stunde nicht. Mit diesem Roman gelang Kettly Mars 2005 international der literarische Durchbruch. Heute erscheinen ihre Romane im frankophonen Raum im Olymp von «Mercure de France». Ihr deutscher Verleger Peter Trier, in dessen Verlag Litradukt ihre Werke erscheinen, hält den Roman Die zwielichtige Stunde für einen ihrer Besten. Dem soll nicht widersprochen sein.

Nur hat man es bei Kettly Mars mit einer, jener Handvoll Autorinnen zu tun, bei denen man bei der Lektüre (oder beim Wiederlesen) immer dem gerade vorliegenden Buch den Vorzug gibt. Das spricht für die Qualität ihrer Ecriture, der in jedem Wort, jeder Zeile ein sinnlicher Zug anhaftet. Des Knistern unter den Fingern der Schriftstellerin beim Schreiben überträgt sich auf den Leser. Mitunter ist das eine Feier des heiligen Eros à la Georges Bataille. Das Leben ist schön …

Comedia Buchhandlung, der Verein AfriKaribik und das Bureau du livre des Institut Français machen es möglich, nach 2015 Kettly Mars erneut in St.Gallen zu hören.

Dieser Beitrag erschien im Oktoberheft von Saiten.

Leseprobe:

Der weisse Atem der Hitze

Fünf Uhr fünfunddreissig. Langsam hebe ich die Augenlider. Ich achte immer darauf, meine Netzhäute nicht allzu abrupt dem Angriff des Lichts auszusetzen. Die Uhr auf der Wand gegenüber schaut mich mit ihrem grossen, gleichmütigen Auge an. Es ist Zeit, in die Gänge zu kommen. Wie jeden Nachmittag um diese Stunde hat mich das Knattern des Transistors von Félix aus meiner Lethargie geholt. Seltsam, all diese Geräusche, diese Gerüche, diese Lichtnuancen, die über den Tag verteilt mein Leben regeln und mich mit der Aussenwelt verbinden. Jede Stunde hat ihren Geräuschpegel, ihre Modulationen, ihre Lichtstärke. In meinem Zimmer landen tagsüber stossweise Töne, rhythmisch pulsierende Klangfetzen, die mir besser als die Zeiger einer Uhr Aufschluss über die Zeit geben. Da ist der impulsive Gesang der Reifen auf dem Asphalt, das hektische Hupen der Taxis, das mit der Sonne zunehmende Stimmengewirr, das Rascheln der Blätter, der weisse Atem der Hitze, rosa der des erwachenden Begehrens. Manchmal erreicht mich auch unbestimmt gefärbtes Gemurmel oder in Nacht gehülltes Geflüster. Aber ich weiss nicht mehr, ob sich das vielleicht aus meiner Kindheit oder aus meinen schlaflosen Stunden herübergerettet hat.

Aus: Kettly Mars: Die zwielichtige Stunde